Die breite Öffentlichkeit verspürt eine zunehmende Teuerung ihrer Lebensverhältnisse, doch die amtliche Preisstatistik spiegelt das nicht wider. Im Zeitraum von 2004 bis 2019 lag bei der Bevölkerung im Euroraum die Wahrnehmung der Inflationsrate im Durchschnitt circa 5 Prozentpunkte höher als die offiziell gemessene (Abb. 1). Warum klaffen die öffentliche Inflationswahrnehmung und die amtliche Statistik so weit auseinander? Eine mögliche Antwort könnte die Qualitätsbereinigung bei der Verbraucherpreismessung sein.
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Ursprünglich hat die Veränderung der Qualität von Gütern bei der Preismessung keine wesentliche Rolle gespielt. Im Jahr 1995 wurde in den USA die sogenannte Boskin-Kommission vom Senat berufen, um eine mögliche Verzerrung in der Berechnung des Verbraucherpreisindexes zu untersuchen. Die Studie kam zu dem Schluss, dass im Jahr 1996 die Inflation um 1,1 Prozentpunkte überschätzt worden war. Davon wurden 0,4 Prozentpunkte unberücksichtigten Qualitätsverbesserungen zugeschrieben (Boskin et al. 1997, 1998). Seit Ende der 1990er Jahren werden deshalb in den USA bei der Preismessung Qualitätsverbesserungen in Form der sogenannten hedonischen Preismessung berücksichtigt. Seit 2002 wird dieses Verfahren zur Berechnung der Güterpreisinflation länderübergreifend in der EU und in der Eurozone angewandt. Damit haben Qualitätsverbesserungen bei der Preismessung an Bedeutung gewonnen.
Eine Qualitätsänderung bedeutet eine Änderung der Funktionalität bei der Nutzung eines Produkts durch den Verbraucher, wenn sich neue Produkte von dem Vorgänger in wichtigen Produktmerkmalen unterscheiden (Statistisches Bundesamt 2020). Wenn die Qualität besser wird, dann wird der Preis in der Statistik nach unten korrigiert, weil Preisentwicklungen unabhängig von qualitativen Änderungen abgebildet werden sollen.
In der deutschen Preisstatistik werden Einzelpreise mit neun verschiedenen Qualitätsbereinigungsverfahren angepasst (Statistisches Bundesamt 2020). Zu den anschaulichsten Verfahren zählen das sogenannte hedonische Verfahren, die Berechnung geldwerter Vorteile sowie die Verwendung von Optionspreisen.
Beim hedonischen Verfahren wird ermittelt, was Konsumenten im Durchschnitt bereit sind für eine bestimmte Qualitätsverbesserung mehr zu zahlen. Der geschätzte Geldwert der Qualitätsverbesserung wird von dem im Laden beobachteten Preis abgezogen (Linz und Eckert 2002). Beispielsweise stieg 2005 die Prozessorgeschwindigkeit von Computern gegenüber dem Vorjahr durchschnittlich von 2.000 MHz auf 3.000 MHz. Die Preise der Prozessoren blieben jedoch konstant. Durch die hedonische Qualitätsbereinigung wurden die Preise der Prozessoren in der amtlichen Statistik um einen Anteil der Leistungsverbesserung nach unten korrigiert.
Die Berechnung geldwerter Vorteile erfasst Ersparnisse, die ein neues Modell für den Konsumenten mit sich bringen (Statistisches Bundesamt 2020). Der geldwerte Vorteil eines neuen Kühlschranks mit einer verbesserten Energieeffizienzklasse entspricht dem eingesparten Stromverbrauch. Der Preis des Kühlschranks wird in der Statistik entsprechend abgesenkt.
Bei den Optionspreisen wird die Qualitätsänderung zwischen einem Vorgängermodell und seinem Nachfolger über Listenpreise einzelner Produktkomponenten geschätzt. Beispielsweise wird ein elektrischer Fensterheber, der zuvor noch Zusatzausstattung war, zum Standard. Dann wird in der Preisstatistik z.B. ein Betrag von 50% des ehemaligen Listenpreises des Fensterhebers vom Preis des Neuwagens abgezogen (Statistisches Bundesamt 2020).
Insbesondere bei komplexen Produkten ist eine Kombination aller neun verschiedenen Qualitätsanpassungsverfahren möglich. Das macht den Prozess der Qualitätsanpassung sehr umfassend, aber auch undurchsichtig. Die Dimension könnte an folgendem Beispiel deutlich werden: Im Jahr 1999 hat ein durchschnittlicher Neuwagen 18.500€ gekostet. Im Jahr 2019 lag der durchschnittliche Neupreis bei 34.000€. Das entspricht einem Preisanstieg von 84%. Die Verbraucherpreisstatistik weist für PKWs für diesen Zeitraum jedoch nur eine Teuerung von 22% aus. Der durchschnittliche Nettolohn ist im selben Zeitraum um 51% gestiegen (Abb. 2).
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Ein Problem ist, dass der Kunde nicht mehr die Wahlmöglichkeit zwischen dem einfachen günstigen und dem besser ausgestatteten teuren Produkt hat. Er muss das neue Produkt mit mehr Funktionen kaufen, auch wenn er diese nicht will. Seine Kaufkraft wird geschwächt. Bei der Qualitätsbereinigung könnte zudem die Inflation auch deshalb systematisch unterschätzt werden, weil Qualitätsverschlechterungen im Gegensatz zu Qualitätsverbesserungen weitgehend unberücksichtigt bleiben. Das kann auch daran liegen, dass Unternehmen Qualitätsverbesserungen hervorheben, Qualitätsverschlechterungen hingegen verstecken. Zum Beispiel wird unter Umständen die Lebenszeit eines Produkts verkürzt oder die Reparaturanfälligkeit erhöht (geplante Obsoleszenz). So wurde kürzlich bekannt, dass bei älteren iPhones nach einiger Zeit die Leistung von Akkus automatisch gedrosselt wurde. Manchmal wird die angepriesene Energie- oder Kraftstoffeffizienz auch beschönigt („Dieselskandal“). Dann fällt der Preis in der offiziellen Statistik, obwohl der realistische Verbrauch deutlich höher ist. Schließlich hat bei Gütern wie Spielzeug (mehr Plastikanteile) und Dienstleistungen (Selbstbedienung) die Qualität in den Augen vieler abgenommen. Obwohl die Produktionskosten günstiger sind, bleibt die Veränderung der Qualität subjektiv und es erfolgt keine Preisanpassung nach unten.
Die Qualitätsanpassung bei der Inflationsmessung könnte deshalb dazu beitragen, dass eine Illusion niedriger Inflation geschaffen wird. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass viele Endverbraucher sich immer ärmer fühlen, weil sie für ihren Euro in der subjektiven Wahrnehmung weniger erhalten. Die offizielle Statistik suggeriert jedoch das Gegenteil. Wie stark der Qualitätsanpassungseffekt auf die Inflation ist, geben die Behörden nicht bekannt.
Ob es für die umfangreichen Qualitätsanpassungen politische Gründe gibt, ist unklar. In den USA hat die Boskin-Kommission der Regierung viel Geld erspart, weil viele Sozialleistungen auf der Grundlage der offiziell gemessenen Inflation angepasst werden. Unbestritten ist auch, dass die niedrige gemessene Inflation eine wichtige Legitimation für die ultra-lockere Geldpolitik der EZB ist, die inzwischen maßgeblich zur Finanzierung von Staatsausgaben im Euroraum beiträgt.
Quellen:
Boskin, Michael J., Ellen R. Dulberger, Robert J. Gordon, Zvi Griliches, und Dale W. Jorgenson. 1997. “The CPI Commission?: Findings and Recommendations.” The American Economic Review 87 (2): 78–83.
———. 1998. “Consumer Prices, the Consumer Price Index, and the Cost of Living.” Journal of Economic Perspectives 12 (1): 3–26.
Linz, Stefan, und Gudrun Eckert. 2002. “Zur Einführung Hedonischer Methoden in Die Preisstatistik.” Statistisches Bundesamt – Wirtschaft Und Statistik 10: 857–63.
Statistisches Bundesamt (Destatis). 2020. https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Preise/Verbraucherpreisindex/Methoden/Erlaeuterungen/qualitaetsbereinigung.html?nn=214056
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