1. Die Einhaltung von Vereinbarungen auf privater und sozialer Ebene
Familie Meyer kauft sich im Elektromarkt ein neues Fernsehgerät. Warum funktioniert eine solche Transaktion in der gelebten Wirtschaftspraxis zumeist völlig reibungsfrei? Warum müssen sich Ökonomen nur selten mit einfachen Kaufverträgen und deren Versagen auseinandersetzen? Der Grund hierfür ist einfach. Der Kaufvertrag als bilaterale Vereinbarung mit eindeutigen und messbaren Pflichten ist eingebettet in ein System von Durchsetzungsmechanismen (Polizei, Gerichtswesen, …). Mit dessen Hilfe werden die Umsetzung des Vertrags hoch wahrscheinlich und die Versprechen der Beteiligten glaubwürdig.
Warum aber vertraut der Käufer dem Gerichtssystem? Im Allgemeinen deshalb, weil den ersten Instanzen weitere nachgeschaltet werden, um vorgelagerte Verfahrensfehler zu korrigieren. Die obersten Richter werden zwar nur durch die Medien und die Politik kontrolliert, doch skandalöse Fehlurteile auf höchster Instanz bedürfen somit sowohl vorgelagerter Fehler als auch eines Versagens der letztinstanzlichen Kontrolle.
Doch nicht alle privatwirtschaftlichen Transaktionen verlaufen problemlos. Können etwa die vereinbarten Leistungen nicht präzise gemessen werden oder treten unvorhergesehene Probleme auf, kann dies durch eine der Vertragsparteien ausgenutzt werden. Die Vertragsdurchsetzungsprobleme beim Häuserbau sind Legende und demonstrieren eindrücklich die Relevanz von Transaktionskosten – auch im privaten Sektor.
Beschäftigt man sich mit der Politik, so erkennt man schnell, dass Transaktionskosten und Kontrollprobleme durch übergeordnete Instanzen allgegenwärtig sind. Wer kontrolliert die Politiker? Wie kann die Kopplung politischer Macht mit militärischer Macht, also die unbeschränkte Willkürherrschaft, verhindert werden?
Eine Antwort liefert die Staatsphilosophie, die schon seit langem das Prinzip der Gewaltenteilung propagiert. Die Verteilung der Macht im Staat soll es ermöglichen, dass das Recht durch wechselseitige Kontrolle durchgesetzt wird. Die Idee der Gewaltenteilung ist jedoch im Grunde nur ein Spezialfall der aus der Ökonomik bekannten selbstdurchsetzenden Vereinbarung. Hierunter versteht man Vertragskonstrukte, deren Durchsetzung keiner übergeordneten Instanz bedarf. Selbstdurchsetzende Verträge sind oftmals informell und müssen nicht einmal kodifiziert sein, denn ihre Einhaltung liegt im Eigeninteresse aller Beteiligten. Sie sind der einzige Weg, die politische Elite eines Landes einer wirksamen Kontrolle zu unterwerfen.
2. Die Funktionsweise selbstdurchsetzender Vereinbarungen
Betrachten wir im Folgenden eine besonders einfache Form der selbstdurchsetzenden Vereinbarung: kooperatives Verhalten am Arbeitsplatz. Sofern die Hilfsleistung eines Mitarbeiters bei diesem nur geringen Aufwand verursacht, beim Empfänger aber eine vergleichsweise große Wirkung hinterlässt, sollte sie eigentlich vorgenommen werden. Problematisch ist jedoch, dass der seinen Kollegen unterstützende Mitarbeiter davon im Einzelfall nicht profitiert: entweder leidet seine eigene Performance durch den notwendig anfallenden Zeitverlust oder er muss einen Teil seiner kostbaren Freizeit opfern. Beides wird ihm nicht gefallen. Dennoch gelingt es den Mitarbeitern oftmals, solche Anreizprobleme ohne ausformulierten Vertrag und ohne Hilfestellung von außen zu lösen.
Der Schlüssel hierzu ist die Dauerhaftigkeit der Beziehung. Es ist jedem Mitarbeiter bewusst, dass er irgendwann selbst Hilfe benötigen wird. Aus diesem Grund wird er kurzfristig bereit sein, seinen eigenen Nutzen zurückzustellen und Kollegen zu helfen. Auf diese Weise erarbeitet er sich die Reputation, kooperativ zu sein. M.a.W.: Sein Versprechen zu helfen wird glaubwürdig. Â Dies macht ihn als potentiellen Kollegen sehr wertvoll, und sollte er selbst einmal der Unterstützung durch andere bedürfen, so werden sich diese – zur Erhaltung seiner Kooperationsbereitschaft – selbst kooperativ verhalten. Sofern ein Mitarbeiter seine Kooperation verweigert, wird dies – insbesondere durch Entzug der zukünftigen Hilfsbereitschaft, z.B. durch endgültigen Ausschluss aus der Kooperationsgemeinschaft – sanktioniert. Wäre das nicht der Fall, wäre für alle ein Trittbrettfahrerverhalten vorteilhaft und die Kooperation würde zusammenbrechen.
Reputationsmechanismen sind notwendig an Personen, die Reputationsträger, und an deren Glaubwürdigkeit gebunden. Die Wähler in modernen Demokratien haben dies seit langem erkannt: Nicht Parteiprogramme bestimmen ihr Wahlverhalten, sondern die Glaubwürdigkeit der zu wählenden Politiker. Reputation ist jedoch nicht nur für Wahltermine von Bedeutung, sondern für die Wirtschaftspolitik im Allgemeinen.
3. Reputation und Selbstdurchsetzung von Regeln in der Wirtschaftspolitik
Der Kapitalismus als Wirtschaftssystem basiert auf der weitgehend uneingeschränkten Achtung der privaten Eigentumsrechte an Konsumgütern und Produktionsmitteln. Diese Rechte werden unvermeidlich durch die Konzentration von Macht an der Spitze des Staatsgebildes gefährdet. Doch wo immer die vorhandene politische oder militärische Macht ausgeübt wird, werden marktwirtschaftliche Systeme nicht funktionieren können, denn es drohen willkürliche Belastungen oder Enteignungen. Deshalb bedarf es eines glaubwürdigen Verzichts der politischen Elite auf die willkürliche Ausübung ihrer Macht. Dies kann über formale demokratische Kontrollmechanismen erfolgen oder auch über den Aufbau einer entsprechenden Reputation, wie das Beispiel China selbst für eine über alle Maßen mächtige Partei zeigt.
In ähnlicher Weise hat auch Walter Eucken die Berechenbarkeit der Wirtschaftspolitik als konstitutives Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft gefordert. Seine Argumentation ist bis heute unverändert gültig: Jede Investition ist mit Risiken und Unsicherheiten verbunden. Das unvermeidbare Auseinanderfallen von Plan- und Istdaten sollte jedoch „nicht durch rasche und vielfältige Änderungen der Wirtschaftspolitik so vergrößert werden, daß Investitionen unterbleiben, die sich erst nach vielen Jahren rentieren können“ (Eucken 1990/1952, S. 289).
Die Bedeutung der Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit hat auch die letzten zehn Jahre nicht unmaßgeblich geprägt. So kann man auch die Kanzlerschaft Gerhard Schröders aus diesem Blickwinkel betrachten. Es ist wohl nicht unberechtigt zu behaupten, dass Schröder nur schwer auszurechnen war. Kurz nach seiner Wiederwahl im Jahr 2002 überraschte er die Nation mit der Idee von Steuererhöhungen. Nicht viel später erfolgte seine 180-Grad-Wende zur Agenda 2010. Wenngleich die meisten Ökonomen heute bestätigen, dass die Agenda gesamtwirtschaftlich sehr positive Wirkungen nach sich zog, hatte Schröder seine eigene Glaubwürdigkeit stark beschädigt. M.E. ist es nicht unwahrscheinlich, dass gerade sein Rückzug aus der Politik und der Wechsel zu einer berechenbareren Politik der Kanzlerin Merkel das Potential der Reform erst richtig zur Entfaltung gebracht haben.
4. Unglaubwürdigkeit in der Staatsschuldenkrise
Ohne jeden Zweifel lassen sich in der gegenwärtigen Schuldenkrise mit den verschiedenen Ansätzen der ökonomischen Theorie völlig unterschiedliche Politikmaßnahmen begründen. Doch gleichgültig, welche theoretische Grundhaltung der Wirtschaftspolitiker einnimmt, muss er doch stets auf seine Glaubwürdigkeit bedacht sein. Denn büßt er diese ein, erhöht er damit die Unsicherheit in der Wirtschaft und richtet großen Schaden an.
Betrachtet man Merkels zweite Legislaturperiode aus diesem Blickwinkel, ergibt sich ein stark getrübtes Bild. War die große Koalition auch in Zeiten schwerer Krisen durch ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit gekennzeichnet, änderte sich dies im Rahmen der Staatsschuldenkrise grundlegend. Im Vordergrund steht hier die Haushaltskrise Griechenlands. Dabei zeigt sich, dass sowohl die Sachaussagen an sich hochgradig widersprüchlich sind als auch die zeitweise angeführten Argumentationsmuster alles andere als vertrauenserweckend sind.
Beginnen wir mit den widersprüchlichen Aussagen. Hier zunächst einige Zitate, die im Licht der aktuellen Politik für sich selbst sprechen:
- „Wir können nicht für Griechenlands Probleme zahlen“ (Wolfgang Schäuble am 21.12.2009).
- Â „Das sind Obergrenzen“ (Wolfgang Schäuble am 2.05.2010 zum Volumen von 110 Mrd. Euro des ersten Rettungspakets).
- „Eine Aufstockung des Fonds über ein Ausleihvolumen von 440 Mrd. Euro hinaus sei nicht geplant“ (Wolfgang Schäuble am 27.09.2011).
Jede einzelne dieser Äußerungen könnte man mit dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Aussage rechtfertigen, bei der Anzahl und der erkennbaren Systematik der Fehler (in Richtung überoptimistischer Einschätzungen) fällt es allerdings schon deutlich schwerer. Noch gravierender ist jedoch die Art und Weise, in der insbesondere die Kanzlerin mögliche Probleme einer Nichtrettung Griechenlands überdimensioniert. Die Übertreibungen beginnen damit, dass die Existenz einer Euro-Währungskrise behauptet wird, obwohl die Währung des Euros an sich nicht gefährdet ist.
Die nächste Unglaubwürdigkeit besteht in der Behauptung: „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ (Angela Merkel am 7. September 2011). Wie schon gesagt: Der Euro als Währung ist durch die griechische Schuldenproblematik nicht gefährdet. Er wäre allerdings dann gefährdet, wenn auch die bislang „gesunden“ Länder durch unbegrenzte Rettungspakete noch tiefer in den Schuldensumpf hineingezogen würden. Doch selbst wenn der Euro schon heute bedroht wäre, müsste das europäische Projekt nicht zwangsläufig scheitern. Im Gegenteil: Es spricht viel dafür, dass der Europäische Binnenmarkt dem europäischen Gedanken weit mehr gedient hat als die Einführung der gemeinsamen Währung.
Der Gipfel der rhetorischen Maßlosigkeit besteht darin, die Rettungspakete mit einer Frage von Krieg oder Frieden zu verbinden: „Länder, die eine gemeinsame Währung haben, führen keine Kriege und auch deshalb ist der Euro mehr als eine Währung“ (Angela Merkel am 7. September 2011). Erstens führen Länder, die eine gemeinsame Währung haben, durchaus miteinander Krieg. In keinem Krieg sind z.B. so viele US-Amerikaner gestorben wie im amerikanischen Bürgerkrieg (1861 – 1865). Zweitens hat die Europäische Gemeinschaft lange Zeit ohne gemeinsame Währung einen stabilen Frieden erleben dürfen. Erst mit der gemeinsamen Währung haben die Ressentiments zwischen den EU-Ländern wieder zugenommen.
Die unehrliche Argumentation im Rahmen der Schuldenkrise beeinträchtigt die Glaubwürdigkeit der beteiligten Politiker. Noch brisanter ist jedoch das Hinwegsetzen der europäischen Politiker über geltendes Recht. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie die Nichtbeistandsklausel (Art. 125 EU-Vertrag) haben das Ziel, den Spielraum der auf europäischer Ebene agierenden Politiker einzuschränken. Beide bis heute formal gültigen Regelungen wurden in kürzester Zeit ausgehebelt. Die Europäische Zentralbank kauft inzwischen munter Staatsanleihen und gefährdet damit ihre Unabhängigkeit. All dies zeigt, dass die führenden Europapolitiker nicht gewillt sind, die ihnen von der europäischen Verfassung gesetzten Grenzen einzuhalten.
Wie jede andere Verfassung müsste auch diejenige der EU die Eigenschaft der Selbstdurchsetzung aufweisen. Dies ist gegenwärtig offenkundig nicht der Fall, sodass die Unsicherheiten für die Privatwirtschaft zunehmen. Die derzeit oftmals geforderte weitere Zentralisierung der Wirtschaftspolitik ist keinesfalls geeignet, dieses Problem zu lösen. Im Gegenteil: In einer Fiskalunion können mögliche Stabilitätsklauseln genauso ignoriert werden wie in der jüngeren Vergangenheit. Die EZB liefert das Vorbild: Wieder und wieder könnten die stabilitätsorientierten Länder der EU überstimmt werden, sodass nicht Schuldenabbau, sondern ein beschleunigter Schuldenaufbau die Folge wäre.
Was in Europa benötigt wird, ist Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit der Wirtschaftspolitik – inklusive Respektierung des formalen Regelsystems. Die Märkte haben dies längst verstanden. Deshalb reagieren sie auf die wirtschaftlich nicht nachhaltigen Politikvorschläge mit zunehmender Skepsis und Abwertungen der Kreditwürdigkeit. Auch die Wähler haben verstanden. Griechische Wähler erkennen, dass ihr Land die ihm aufgelastete Bürde nicht tragen kann. Wähler aus Zahlerländern erkennen, dass ihr Vermögen in aussichtslose Rettungsprojekte fließt. Eine nachhaltige und damit auch glaubhafte Lösung könnte hingegen wie folgt aussehen:
1) Die unvermeidbare Umschuldung Griechenlands wird eingeleitet.
2) Griechenland verlässt freiwillig die Eurozone. Als Kompensation erhält es eine sehr großzügige Umschuldung, die die Schuldenlast auf weit unter 50 Prozent des derzeitigen Stands absenkt, sodass die in Euro aufgenommenen Kredite auch mit einer neuen Drachme verlässlich zurückgezahlt werden können. Der Austritt aus der Währungsunion hat vorrangig den Zweck, anderen Ländern den Weg der Umschuldung nicht zu attraktiv erscheinen zu lassen. Sollte dies mit anderen Instrumenten, deren Existenz m.E. nicht erkennbar ist, erreicht werden können, muss man die entsprechenden Alternativen abwägen.
3) Effekte auf den Finanzsektor werden abgefedert. Wo allerdings Hilfeleistungen erfolgen, müssen das Management ausgetauscht und die Eigentümer der Finanzinstitutionen mit allem zur Haftung verfügbaren Kapital herangezogen werden. Eine grundlegende Re-Regulierung des Finanzsektors, insbesondere eine deutliche Verschärfung der Eigenkapitalvorschriften, scheint zudem unabdingbar zu sein.
4) Zukünftige Rettungsmaßnahmen für zahlungsunfähige Staaten werden an einen Austritt aus dem Euroverbund gekoppelt.
5) Diejenigen Politiker, die in den vergangenen Jahren ihren Unwillen offenbart haben, das europäische Regelwerk einzuhalten und die damit ihre wirtschaftspolitische Glaubwürdigkeit unwiderruflich eingebüßt haben, verlassen die politische Bühne, um Nachfolgern mit intakter Reputation eine zweite Chance für das Euro-Projekt zu eröffnen.
Gelänge es Merkel, Schäuble, Sarkozy und den anderen zentralen Akteuren, alle fünf Punkte – also auch den eigenen Rückzug – umzusetzen, hätten sie sich ihren Platz in der Geschichte redlich verdient. Sollten sie hingegen weiterhin die Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit der Politik beschädigen, besteht zumindest die Hoffnung, dass der Wähler Punkt 5 erzwingen wird.
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Glaubwürdigkeit, auch in der Wirtschaftspolitik, orientiert sich immer an der weitreichenden Zielstellung. Zu Beginn war es die gemeinsame Währung. Und alle beteiligten Staaten sahen nur ihren Vorteil (z.B. den Kostenvorteil). Aber leider hatten nicht alle Mitglieder im Währungsverbund gleiche Voraussetzungen. Auch deren Beiträge zum Verbund waren unterschiedlich. Dann ist das Mitglied, das wenig leistet, überbelohnt, während das Mitglied, das viel leistet, unterbelohnt. Dieses wird als unfair empfunden. Die Folge dieser Situation beschreibt John Stacey Adams in seiner Equity- Theorie. Nur nebenbei: Auch die Bewegung „Occupy Wallstreet“ bläst in das gleiche Horn.
Nun rückt eine gemeinsame Wirtschaftspolitik immer mehr in den Fokus. Denn dies ist der beste Weg, den die Staaten nun gehen können. Auch wenn er mit schmerzhaften Veränderungen verbunden ist. Denn der Währungsverbund ist eine „selbstdurchsetzende Vereinbarung“. Jeder Austritt oder gar die Auflösung des Verbundes schadet allen Beteiligten.
Die Politiker aller beteiligten Staaten sollten sich im Rahmen ihrer Kommunikation zu jedem Zeitpunkt zu jedem Zeitpunkt an 4 Leitfragen orientieren:
1. Ist es wahr, was ich kommuniziere
2. Ist es fair, was ich als Lösung vorschlage
3. Ist es zum Wohl aller beteiligten Staaten?
4. Wird es die Freundschaft der Staaten und ihen guten Willen dazu fördern.
Ich denke, das wird auch der wählende Bürger in Europa honorieren.