20 Jahre Binnenmarkt: Wir feiern nicht mit Champagner, sondern mit Mineralwasser

Für den 15. bis 20. Oktober 2012 hat die EU-Kommission die „Binnenmarktwoche“ zur Feier des 20. Jubiläums des Europäischen Binnenmarkts ausgerufen. Viele geplante  Jubiläumsveranstaltungen. Die eigens installierte Website fragt den Leser zweierlei:

„Was waren Ihrer Meinung nach die größten Erfolge des Binnenmarktes in den letzten 20 Jahren?“ Und: „Was werden die größten Herausforderungen für den Binnenmarkt in den nächsten 20 Jahren sein?“

Zwei gute Fragen. Zunächst zur ersten, die nach den Erfolgen fragt: Bei den zwei herausragenden politischen Zielsetzungen, die dem europäischen Integrationsprozess zugrunde liegen, handelt es sich um Friedenssicherung und Wohlstandsmehrung. Seit den Römischen Verträgen von 1957 ist in der EU beides in hohem Maße realisiert worden. Dieser Erfolg ist nicht denkbar ohne das 1987 mit der „Einheitlichen Europäischen Akte“ in Kraft gesetzte Integrationsprogramm „Binnenmarkt 92“.

Denn die dem Binnenmarkt inhärente Philosophie der „Vier Grundfreiheiten“ ist die ordnungstheoretische Basis aller marktorientierten Integration: Wegräumen von tarifären und nicht-tarifären Hemmnissen zur Realisierung eines Raumes ohne Binnengrenzen mit der Gewährleistung des freien Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. Dieses breite Beschränkungsverbot für national-politische Protektion ist der starke – und der wohl stärkste – Herzmuskel der EU, der Wohlstand produziert, weil es die wechselseitige Durchdringung der Märkte entlang komparativer Wettbewerbsvorteile und damit eine effiziente Ressourcenallokation bei Realisierung von marktgrößenbedingten Skaleneffekten  realisieren kann. Die mit dem Beschränkungsverbot eingeführte wechselseitige Anerkennung national unterschiedlicher Regeln sowie die im Ansatz existierende und weiter zu entwickelnde Konzeption des Wettbewerbs der Regelsysteme erscheinen als geeignete Bollwerke gegen einen Rückfall in wohlstandsmindernde national-protektionierte Marktsegmentierungen.

Man kann sagen, dass die dem Binnenmarkt inhärente Integrationsphilosophie dem institutionellen Wettbewerb und dem mit ihm unmittelbar verbundenen Prinzip der Subsidiarität innerhalb der EU einen entscheidenden Schub gegeben hat.

So gesehen gibt es also gute Gründe, „20 Jahre Binnenmarkt“ gebührend zu feiern.

Aber der Wein des Feierns sollte mit dem Wasser des Warnens gemixt werden. Warum? Damit kommen wir zur zweiten Frage der Website, die die zukünftigen Herausforderungen für den Binnenmarkt anspricht. Neben der noch nicht vollendeten Realisierung der Grundfreiheiten zuvorderst im Dienstleistungsbereich sind es vor allem zwei Entwicklungen, die die Wohlstandswirkungen des freiheitlichen Binnenmarkts bedrohen: zum einen der Trend zunehmender Regulierungsintensität seitens der Gemeinschaftsorgane verbunden mit dem Trend zur politischen Harmonisierung und Zentralisierung, zum anderen die auseinanderdriftenden internen Wechselkurse in der Euro-Zone des Binnenmarktes, die man als nicht-tarifäre nationale Wechselkursprotektion bezeichnen kann.

Zunehmende Regulierungsintensität in Richtung Harmonisierung und Zentralisierung kennzeichnet eine Entwicklung zu verstärkter politischer Kartellierung und Monopolisierung. Damit steht dem Konzept des ökonomischen Wettbewerbs des Binnenmarktes die zunehmende Ausschaltung des politischen Wettbewerbs der Regierungen sowie des diesem Wettbewerb inhärenten Subsidiaritätsprinzips entgegen. Die Intensivierung des ökonomischen Wettbewerbs erzeugt offensichtlich als politische Gegenstrategie die Intensivierung der Ausschaltung des politischen Wettbewerbs. Da politische Kartelle und Monopole im Zweifel nicht weniger schädlich sind als ökonomische, werden die segensreichen Wirkungen des Binnenmarktes zunehmend von den EU-politischen Entscheidungsträgern selbst konterkariert. Das schwächt die Wohlstandsproduktion in der EU.

Was die zweite Herausforderung für den Binnenmarkt, die Wechselkursprotektion vor allem innerhalb der Euro-Zone, anbelangt, so liegt ihr folgender Sachverhalt zugrunde: Die Gemeinschaftswährung Euro impliziert zwar fixierte interne nominale Wechselkurse 1:1, aber die Realwechselkurse driften zunehmend auseinander, weil die Potentiale der Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Euro-Mitgliedern immer stärker divergieren. Die Folge ist, dass die Differenzen zwischen nominalen und realen Wechselkursen die jeweiligen Über- und Unterbewertungen des Euro für die Mitgliedstaaten indizieren. So ist der Euro für Griechenland um wahrscheinlich 40-50 Prozent zu hoch, für Deutschland um vermutlich 15-20 Prozent zu niedrig bewertet. Bei den anderen Euro-Staaten gibt es ebenfalls Über- und Unterbewertungen.

Jede Überbewertung einer Währung wirkt wie eine implizite Exportbesteuerung und damit wie ein Zoll auf Exporte und Importsubstitute sowie eine implizite Subventionierung der Importe, jede Unterbewertung entsprechend wie eine implizite Subventionierung der Exporte und eine implizite Importbesteuerung, also wie ein Importzoll. Die Folgen von Wechselkursfehlbewertungen sind mithin Verzerrungen in den Außenhandelsströmen und Produktionsstrukturen der beteiligten Länder nicht nur innerhalb des Euro-Raumes, sondern auch darüber hinaus im gesamten EU-Binnenmarkt, weil die EU-Länder außerhalb der Euro-Zone mit dieser zumeist über einen festen Wechselkurs verbunden sind.

Nun ist aber gerade die Abschaffung aller grenzüberschreitenden tarifären und nicht-tarifären Handelshemmnisse das Kernelement des Binnenmarktprogramms. Die internen Verzerrungen der Wechselkurse im Euro-Raum und die mit ihnen verbundenen Allokationsverzerrungen wirken mithin den gewünschten Binnenmarkteffekten entgegen. Damit verliert im internationalen Standortwettbewerb der Binnenmarkt als Investitionsraum an Attraktivität.

Fazit: Wir feiern „20 Jahre Binnenmarkt“, aber nicht mit Champagner, sondern mit Mineralwasser.

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