Die europäische Schuldenkrise ist das Ergebnis nachhaltiger Leistungsbilanzungleichgewichte, die jüngst mit Hilfe des sogenannten Scoreboards unter die Überwachung der Europäischen Kommission gestellt wurden. Seit Ausbruch der Krise im Jahr 2008 haben sich die Leistungsbilanzungleichgewichte in Europa zwar reduziert, zeigen aber insbesondere in den Krisenländern Spanien, Portugal und Griechenland Persistenz.
Das Phänomen fortbestehender Leistungsbilanzungleichgewichte ist nicht neu. Die seit dem Jahr 2001 stark angestiegenen Ungleichgewichte in Europa können als die bereits vierte Generation einer wachsenden Welle globaler Leistungsbilanzungleichgewichte gesehen werden. Damit verbunden sind Konflikte um Geld-, Finanz-, Lohn- und Währungspolitiken, die vereinzelt zu wirtschaftspolitischen Interventionen gegen die Ungleichgewichte geführt haben, ohne diese zu beseitigen.
Die erste Generation von globalen Ungleichgewichten geht auf Japan und die USA zurück. In der ersten Hälfte der 80er Jahre war ein beträchtlicher Leistungsbilanzüberschuss Japans gegenüber den USA entstanden. Steigende japanische (Netto-)Exporte führten zu Arbeitslosigkeit in der US-amerikanischen Industrie. Mit dem Plaza-Abkommen im Sept. 1985 sollte durch eine deutliche Aufwertung des Yen gegenüber dem Dollar das Ungleichgewicht beseitigt werden. Mit dem Louvre Accord im Febbruar 1987 drängte man Japan in eine expansive Geld- und Finanzpolitik, um über den Importkanal die Handelsüberschüsse abzusenken. Das Ergebnis war aber nicht die Korrektur des Ungleichgewichts zwischen den beiden Wirtschaftsgiganten, sondern eine Blase auf den japanischen Aktien- und Immobilienmärkten, deren Platzen den graduellen Verfall der japanischen Wirtschaftsmacht einleitete (während der Leistungsbilanzüberschuss bestehen blieb).
Seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre stiegen die Leistungsbilanzüberschüsse China’s gegenüber den Vereinigten Staaten an als zweite Generation globaler Ungleichgewichte. Die USA drängen seither zu einer Aufwertung des chinesischen Yuan, um dem Leistungsbilanzungleichgewicht eine Ende zu setzen. Im Gegensatz zu Japan widersetzt sich China dem Druck von außen und lässt nur eine geringe Aufwertung zu, um Arbeitsplätze in der Exportindustrie zu sichern. Insbesondere seit der Jahrtausendwende werden deshalb immense Devisenreseren (überwiegend in Dollar) angehäuft. Die Asienkrise (1997/98) transformierte eine Reihe von kleinen ostasiatischen Ländern mit Leistungsbilanzdefiziten in Leistungsbilanzüberschussländer. Fortan finanziert ganz Ostasien die weiter steigenden Leistungsbilanzdefizite der USA, wo die Konvergenz der Leitzinsen gegen Null privaten Konsum und öffentliche Verschuldung weiter begünstigt.
Die dritte Generation der globalen Ungleichgewichte wird ab dem Jahr 2003 von den rohstoffexportierenden Ländern geschrieben. Die starke monetäre Expansion in den USA und Europa in Reaktion auf das Platzen der Dotcom-Blase trieb die in Dollar gelisteten Rohstoff- und Ölpreise nach oben. Insbesondere in ölexportierenden Ländern schossen die Überschüsse bei Staatsbudgets und Leistungsbilanzen nach oben. Das Leistungsbilanzdefizit der USA stieg aufgrund höherer Ausgaben für Öl- und Rohstoffimporte. Drittlandseffekte verstärkten innereuropäische Ungleichgewichte: Während die südeuropäischen Länder aufgrund höherer Rohstoffrechnungen höhere Leistungsbilanzdefizite schrieben, profitierte insbesondere Deutschland von einer steigenden Nachfrage der rohstoffexportierenden Länder nach Luxusgütern.
Die innereuropäischen Leistungsbilanzungleichgewichte, die sich seit dem Jahr 2001 bis hin zum Ausbruch der Krise als vierte Generation der globalen Ungleichgewichte drastisch verstärkten, wurden von entgegengesetzten Finanz- und Lohnpolitiken – restriktive Lohn- und Finanzpolitik in Deutschland sowie expansive Lohn- und Finanzpolitik in vielen anderen Ländern der EU – getrieben. Einseitige Kapitalflüsse von Deutschland an die europäische Peripherie wurden von historisch niedrigen Leitzinsen in Europa begünstigt. Erst die große Krise seit 2008 setzte den resultierenden Konsum- und Spekulationsblasen an der europäischen Peripherie eine vorläufige Zäsur.
Die „Asymmetrie-Matrix“ (siehe Abbildung) globaler Ungleichgewichte fasst vier Generationen globaler Ungleichgewichte zusammen. Sie zeigt auf der linken Vertikale den Dollarraum. Die USA als Zentrum des Weltdollarstandards weist – begünstigt von expanisver Geld- und Finanzpolitik – steigende Leistungsbilanzdefizite auf. Diese werden überwiegend von den ostasiatischen und rohstoffexportierenden Ländern mit engen Dollarbindungen gedeckt. Auf der Finanzierungsseite werden die US-amerikanischen Nettoimporte vor allem durch Staatsanleihenkäufe der Zentralbanken der Dollarperipherie finanziert. Auf der rechten Vertikale wurden Deutschland und die Benelux-Staaten als Zentrum gewählt. Dem aggregierten Leistungsbilanzüberschuss dieser Länder steht ein aggregiertes Leistungsbilanzdefizit der Krisenstaaten des Eurogebiets sowie der mittel- und osteuropäischen Staaten gegenüber. Vor Ausbruch der europäischen Schuldenkrise wurden die Defizite der Peripherieländer durch private Kapitalexporte (vor allem aus Deutschland) finanziert. Seit Ausbruch der Krise haben öffentliche Finanzierungskanäle (TARGET2, Rettungspakete) diese Rolle übernommen.
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Aus der Asymmetrie-Matrix globaler Ungleichgewichte lassen sich drei „stilisierte Fakten“ internationaler Finanzbeziehungen ableiten. Erstens, die Divergenz der globalen Leistungsbilanzungleichgewichte unterliegt einem nun 30jährigen Trend, der auch zu einer Divergenz der Nettoauslandspositionen geführt hat. Die Welt teilt sich Nettogläubiger- (Ostasien, Deutschland, Ölexportuere) und Nettoschuldnerländer (USA, Südeuropa, Mittel- und Osteuropa). Zweitens ist die Beziehungskonstellation zwischen Zentren und Peripherien asymmetrisch. Während im Dollarraum das reiche Zentrum eine steigende Nettoauslandsverschuldung anhäuft, steigt in Europa die Nettoauslandsverschuldung des vergleichsweise armen Peripherie.
Drittens ist die Divergenz der Nettoauslandspositionen im Dollarraum nicht krisenbehaftet, weil die USA als Emmitent der Weltleitwährung ihre Auslandsverschuldung durch geldpolitische Expansion und Dollarabwertung real reduzieren können. Die Peripherie bleibt trotz der Verluste auf ihr dollardenominiertes Nettoauslandsvermögen stabil, weil die Bewertungsverluste überwiegend von Zentralbanken und Staatsfonds absorbiert werden. In Europa war die Divergenz der Nettoauslandspositionen krisenbehaftet, weil die Nettoauslandsverschuldung entweder in Fremdwährung gehalten wurde (Euro oder Schweizer Franken im Fall vieler mittel- und osteuropäischer Länder) oder die Geldpolitk der Schulderländer nicht unter deren Kontrolle war (wie im Fall der GIIPS-Länder). Zudem wurden die internationalen Forderungen von privaten Banken gehalten, was beim drohenden Ausfall zu Finanzkrisen führt.
Doch diesem Problem wird nun abgeholfen. Über Rettungspakete und TARGET-Salden werden die Nettoauslandsforderungen der Gläubigerländer verstaatlicht. Zudem wird ein Entschuldungsprozess durch monetäre Expansion möglich, da die (gemeinsame) Geldpolitik unter die Kontrolle der Schuldnerländer kommt. Dies führt zu einer weiteren Asymmtrie hinsichtlich der globalen Umverteilungseffekte. Die USA nutzt das exorbitatante Privileg des Dollars als Weltleitwährung dazu, auf Kosten der Dollarperipherie privaten Konsum und Staatskonsum hoch zu halten. Hingegen scheint Deutschland das Privileg der DM als führender internationaler Währung in Europa aus der Hand gegeben zu haben. In Europa wird vom vergleichsweise reichen Zentrum an die vergleichsweise arme Peripherie umverteilt. Durch die Verstaatlichung der Nettoschuldner- und Nettogläubigerpositionen in Europa kann dieser Prozess ähnlich wie im Dollar verstetigt werden, ohne dass zunächst eine weitere Krise droht. Die Frage bleibt jedoch, ob Sparer und Steuerzahler im nördlichen Europa dies wie der ostasiatische Sparer und Steuerzahler auf Dauer akzeptieren werden.
Literatur:
Schnabl, Gunther (2012): Triebkräfte und Lösungsansätze globaler und europäischer Leistungsbilanzungleichgewichte. Working Papers on Global Financial Markets 23.
Na ja, das hakt aber auch ganz schön: Wenn die Schulden der USA in Dollar denominiert sind, können die USA durch eine Dollarabwertung ihre Auslandsverschuldung nicht „real reduzieren“ („Drittens ist die Divergenz der Nettoauslandspositionen im Dollarraum nicht krisenbehaftet, weil die USA als Emmitent der Weltleitwährung ihre Auslandsverschuldung durch geldpolitische Expansion und Dollarabwertung real reduzieren können. Die Peripherie bleibt trotz der Verluste auf ihr dollardenominiertes Nettoauslandsvermögen stabil…“).
Sehr geehrter Friedrichs,
grundsätzlich bleiben monetäre Expansion, Inflation and Abwertung eng miteinander verbunden, auch wenn es auf den ersten Blick nicht immer deutlich ist. Steigt die Inflation in den USA, dann sinkt der reale Wert der von Ausländern gehaltenen Dollarvermögen. Wird über enge Wechselkursbindungen die geldpolitische Expansion importiert, dann steigt auch die Inflation in den Ländern der Dollarperipherie. Am deutlichsten ist der Effekt gerechnet in inländischer Währung der ausländischer Halter von Dollarvermögen. Lassen diese eine Aufwertung zu, dann reduziert sich der Wert des dollardenominierten Auslandsvermögens in inländischer Währung (was besonders deutlich für China ist).