Der Markt als Ermächtigungs- und Entmach-tungsinstrument

In grundlegenden gesellschaftlichen Organisationsfragen neigen wir alle dazu, uns vorzustellen, was wir wohl tun würden, wenn wir die Macht zur Gestaltung der Gesellschaft hätten. Da wir die Politik für fraglos zuständig halten, geht es vor allem darum, wer die Macht hat und ob diejenigen, die an der Macht sind, die richtigen ethischen und politischen Ziele verfolgen. Doch wenn wir die Sache näher betrachten, spricht sehr viel dafür, Politik generell zu beschränken beziehungsweise zu entmachten. Freie vertragliche Absprachen zwischen Individuen sollten zentral durchgesetzte kollektive Zielverfolgung, wo immer das möglich ist, ersetzen.

Märkte als Ausdruck ursprünglicher Freiheit

Die typische „konservative“ Weltsicht läuft darauf hinaus, dass man einerseits für ziemlich unbeschränkte Wirtschaftsfreiheit, andererseits aber auch für recht weit reichende Regulierungen des persönlichen Lebens eintritt. Die typische Gegenposition verlangt, dass man das wirtschaftliche Leben möglichst durchzuregulieren hat, doch im persönlichen Bereich keinerlei Vorschriften dulden darf. Die „progressive“ erscheint als ebenso inkohärent wie die „konservative“ Auffassung. Für einen ernsthaften Anhänger individueller Freiheit ist in allen Belangen Selbstbestimmung besser als Mitbestimmung. Deshalb sind generell Institutionen, die Menschen zu eigenen Entscheidungen „ermächtigen“, wünschenswert.

Der Markt ist eine solche Institution. Das und nicht die in der Regel auch zutreffenden Tatsache, dass er die Beteiligten insgesamt reicher macht, ist seine Haupttugend.

Der Markt als ermächtigende Institution

Die Erschaffer von eBay haben einen Markt kreiert. Der Reputationsmechanismus von eBay zusammen mit einigen anderen sichernden Vorkehrungen sorgt – gegen Gebühr – dafür, dass das für Transaktionen notwendige Vertrauen regelmäßig durch eine entsprechende Vertrauenswürdigkeit der Transaktionspartner gerechtfertigt wird. Nach der Auffassung vieler Ökonomen und insbesondere der Anhänger der deutschen Ordnungstheorie erfüllt der Staat als Garant der Rechtsordnung für das Wirtschaftsleben ganz ähnliche Aufgaben wie eBay. Der Staat ermächtigt seine Bürger dazu, bestimmte Formen von Verträgen abzuschließen. Diese sichert er seinerseits dann durch staatliche Garantien ab.

Anders als eBays fakultatives Angebot von Dienstleistungen zur Unterstützung von Transaktionen behält sich die staatliche Rechtsordnung allerdings das mit dem sogenannten Gewaltmonopol einhergehende Recht auf eine letztinstanzliche Entscheidung und Durchsetzung bestimmter Regeln vor. Auch im Bereich des so genannten Privatrechts kann keinem Rechtsgenossen die Option, vor Gericht zu gehen und staatliche Durchsetzung auch privatvertraglicher Normen zu verlangen, nach staatlichem Recht letztgültig verwehrt werden. Zugleich behält sich der Staat vor, nur bestimmte Arten von Verträgen durchzusetzen.

Das Zivilrecht des Deutschen Reiches erkannte durchaus Kartelleabsprachen an und war bereit, diese rechtlich durchzusetzen. Im Arbeitsrecht finden wir auch heute noch Elemente solchen Vorgehens. Generell ist es jedoch nicht nur nicht mehr möglich, Kartellabsprachen gerichtlich durchzusetzen, sondern solche Absprachen werden sogar als kriminelle Akte angesehen. Durch solche Maßnahmen ebenso wie durch die gerichtliche Auslegungspraxis definiert der Staat über das rechtliche Gewaltmonopol Ermächtigungsregeln, die es den einzelnen Bürgern erlauben, ihr Verhalten in einem bestimmten, staatlich definierten Umfang selbst zu koordinieren.

Der Markt als entmachtende Institution

Insoweit Märkte als rechtliche Vertragsplattformen die Individuen zu wechselseitigen Absprachen autorisieren, kann man in ihnen ermächtigende Institutionen erblicken. Mit Märkten und Vertragsfreiheit geht allerdings zugleich auch eine Entmachtung einher. Die Ergebnisse können nicht wirklich vorausgesehen und kollektiv kontrolliert werden. Am Markt muss sich aber auch jeder Einzelne der Bewertung durch andere stellen. Er ist ohnmächtig, gegen den Willen der anderen seine eigene Selbstbewertung durchzusetzen. Die anderen brauchen unsere und wir ihre Zustimmung.

Eine mögliche politik-ökonomische Begründung dafür, warum man Vertragsfreiheit eine staatliche Umverteilungs- und Sozialpolitik nicht nur zulassen, sondern fordern sollte, ergibt sich daraus, dass man Menschen dazu bringen muss, jene Ohnmacht, die sich aus der Zulassung universeller Konkurrenz ergibt, zu dulden. Die abstrakte Einsicht, dass Konkurrenz und freie Märkte den Interessen aller dienen, ist schwer zu vermitteln und reicht letztlich nicht aus. Es bedarf einer sichtbaren Umverteilung und Sozialpolitik. Diese Maßnahmen können eine größere Duldsamkeit gegenüber der Marktkonkurrenz gerade bei jenen, die am Markt relativ schlechter abschneiden erzeugen. Das wird jedoch dadurch erkauft, dass man den Monopolisten Staat mit Macht und nicht nur zur Steuererhebung, sondern auch zur Leistungserbringung ausstatten muss. Um diese Gestaltungsmacht besser zu kontrollieren, eignen sich wiederum quasi-marktliche Institutionen und die Bürger sollten lernen, deren Einrichtung verstärkt zu verlangen.

Der Markt als Entmachtungsinstrument (für staatliche Sozialpolitik)

Die staatliche Umverteilungs- und Sozialpolitik ruht in allen westlichen Industrieländern auf drei Säulen. Zum einen wird das elementare Subsistenzniveau im Sinne einer Versorgung mit Kleidung, Nahrung und Wohnraum garantiert. Das Niveau garantierten Einkommens ist unter Einrechnung der Sachleistungen in den Industrieländern verglichen mit den Lebensbedingungen armer Länder gewiss ziemlich großzügig bemessen. Denkt man an das Ziel der Selbstbestimmung legt das den Gedanken nahe, diese Leistungen in Form eines Bürgergeldes an jeden Bürger zu zahlen und dann alles darüber hinausgehende Einkommen zu besteuern.

Für ein Bürgergeld spricht nicht so sehr die steuerliche Einfachheit, sondern vor allem die rechtliche Gleichbehandlung jedes Bürgers. Der fundamentale Mangel anderer sozialpolitischer Maßnahmen, Bürger dadurch „gleich“ machen zu wollen, dass man sie ungleich behandelt, wird in den möglichen Grenzen gehalten. Leider spricht jedoch einiges gegen diese Art von Maßnahmen. Jene, die solche Zahlungen bedingungslos erhielten, könnten sie bündeln. Die Kommune, die auf dem Land ein großes Anwesen anmietet, könnte durch Ausnutzung von „steigenden Skalenerträgen“ einen hohen Lebensstandard auf Kosten der Allgemeinheit erreichen. Sie würde sich aus dem Prozess der Arbeitsteilung ausklammern und damit die Wirtschaftskraft insgesamt und ihre eigenen Steuerbeiträge reduzieren. Symbolpolitisch wäre es absehbar, dass die Bürgerschaft insgesamt entsprechende Zustände nicht dulden würde. Daher werden wir auf Dauer auf eine Bedürftigkeitsprüfung und zweckgebundene Sachhilfen in der Sozialhilfe angewiesen bleiben.

Anstelle der staatlichen Sicherungssysteme könnte man sich jedoch vorstellen, dass die auf jeden Bürger entfallenden Kopfprämien an Sozialversicherungsträger, die untereinander konkurrieren, gezahlt würden. So wie man sich auch unterschiedlichen Krankenversicherungsträgern anschließen kann, so könnte der einzelne sich entsprechenden sozialen Dienstleistern anschließen. Damit würde man die staatlichen Bürokratien, die heute über die Zahlungen verfügen, zumindest partiell entmachten und den potentiellen Betroffenen gewisse Handlungsoptionen auf einem – freilich regulierten – „Quasi-Markt“ bieten.

Eine ähnliche Vorgehensweise ist im Bereich der Bildung in manchen Ländern bereits näherungsweise gegeben. Die Bildungsbürokratien, die heute ihre Macht über einfache Bürger ausüben, die unfähigen Lehrer, die ebenso wie die unfähigen Professoren im Schutz der öffentlichen Monopole ihr Unwesen ungestört weiter treiben dürfen, könnten wenigstens einer gewissen Kontrolle dadurch ausgesetzt werden, dass sie sich einer Konkurrenz um Bildungsgutscheine ihrer Klienten stellen müssten. Am Prinzip der öffentlichen Finanzierung und auch – wenn es denn sein muss – dem Prinzip der Studiengeldfreiheit könnte umfassend unter Aufbrechung von Anbietermacht festgehalten werden.

Bei einer vollkommen freien Vergabemöglichkeit der Gutscheine etwa durch die Eltern Unmündiger könnte man sich jedoch auch vorstellen, dass diese Gutscheine für fundamentalistische, völkische oder andere schulische Verrücktheiten ausgegeben würden. Eine gewisse Regulierung, insbesondere soweit die Ausbildung von noch unmündigen Bürgern betroffen ist, würde man daher vermutlich wünschen. Dennoch könnte man Quasi-Märkte als Entmachtungsinstrumente viel breiter zum Einsatz bringen, als das gegenwärtig geschieht.

In der Gesundheitspolitik wäre es schon aufgrund der bereits heute riesigen und in der Zukunft gewiss noch stark anwachsenden volkswirtschaftlichen Bedeutung dieses Sektors überaus wünschenswert, die zunehmende Konzentration wirtschaftlicher Ressourcen und damit auch wirtschaftlicher und politischer Macht einer Kontrolle zu unterziehen.

In einem ersten Schritt sind die öffentlichen Garantien für Gesundheitsleistungen zu standardisieren. Die Rationen, die wir aus öffentlichen Mitteln garantieren, also im Bedarfsfalle zuteilen wollen, müssen bestimmt und in ihrem Umfang ausdrücklich begrenzt werden. Da wir uns alle gern der Illusion hingeben möchten, dass die Solidarität mit Kranken praktisch unbegrenzt sein könne, ist es schwierig, von der impliziten Leistungsbeschränkung (etwa durch Wartezeiten, Qualitätsverdünnung etc.) abzugehen. Die Standardisierung muss aber auch im heutigen System ohnehin schon aus Gründen der Rechtssicherheit vollzogen werden, weil der Bürger schließlich wissen sollte, was er zu erwarten hat.

Sobald der Schritt zur Standardisierung vollzogen worden ist, ergeben sich ganz neue Möglichkeiten der Organisation der Leistungserbringung. Wiederum kann man den Markt als Instrument zur Entmachtung der Leistungsanbieter benutzen. Der Staat garantiert die Bezahlung der standardisierten Grundversorgung. Jeder Patient wird anonymisiert zu einem allmählich gesteigerten Preis zur Versorgung für eine festgelegte längere Periode (etwa von fünf Jahren) angeboten. Auf dem Auktionsmarkt steigern Leistungsanbieter, die die garantierte Grundleistung erbringen, um das Patientengut mit. Derjenige Anbieter, der die Leistung zum niedrigsten Preis erbringt, erhält den Zuschlag. Der Staat zahlt für jeden die notwendige Ausgabe für die garantierte Grundversorgung.

Unter einem solchen System würden sich insbesondere auch spezialisierte Anbieter für chronische Krankheiten – wie etwa Diabetes – herausbilden, die als Spezialisten in der Behandlung dieser Krankheiten einen komparativen Vorteil hätten. Die Konkurrenz wäre nicht mehr wie heute eine Konkurrenz um die Gesunden („AOK, die Gesundheitskasse“) bzw. die „guten Risiken“, sondern drehte sich tatsächlich um die Kranken. Man könnte den Bürgern erlauben, gegen Zuzahlungen einen anderen als den Anbieter, der die Garantieleistungen zum niedrigsten Preis erbringt, zu wählen und natürlich über die für jeden gleichen Garantien zusätzliche Versicherungsleistungen zu erwerben.

Das freie Mittagessen der Ökonomen

Wenn es auf der Welt „kein freies Mittagessen“ gibt, dann sollte man auch annehmen, dass die Lieblingsspielzeuge der Ökonomen, Eigentumssicherheit und freie Märkte nicht umsonst zu haben sind. Schaut man sich an, wie Staaten nach den Indizes ökonomischer Freiheit bewertet werden, dann fällt es auf, dass insbesondere die Hochsteuerstaaten insoweit gut abschneiden. Eine mögliche Erklärung dafür besteht darin, dass man die staatlichen Bürokratien über hohe Steuern an der Bereitstellung der Freiheitsgarantien interessieren muss.

Jedenfalls in den nicht mit zu vielen Rohstoffen in staatlicher Kontrolle „gesegneten“ Staaten, haben die politischen Kontrolleure einen Anreiz, der Logik zu folgen, dass man „die Kuh, von der man viel Milch haben möchte, gut füttern muss“. Sie sind dann womöglich bereit, von der Regulierungskontrolle etwas abzugeben, um mehr Finanzkontrolle ausüben zu können. Und je höher die Steuern, umso höher ihr Anteil an jedem Gewinn, der sich aus Deregulierung ergibt.
Allerdings ist die Neigung, die Kontrolle über die Verwendung von Mitteln aufzugeben, überall unterentwickelt. Daher stehen die Chancen für die Einrichtung von Quasi-Märkten solange schlecht, wie sich die Bürger von den an ihrem Machterhalt interessierten Bürokraten weiter den Sand des vorgeblichen öffentlichen Interesses an Bürokratiemonopolen in die Augen streuen lassen.
 
Literatur
Zu Quasi-Märkten hat ein früherer Berater Tony Blairs interessantes zu sagen in: Le Grand, J. (2003): Motivation, Agency, and Public Policy. New York et al.

Zur Tugend des Marktes: Baurmann, M. (1996): Der Markt der Tugend. Tübingen.

Vertrauen in Internetransaktionen werden im Schwerpunktheft der Zeitschrift Analyse und Kritik 2004 (26) Issue 1 besprochen: Trust and Community on the Internet. Opportunities and Restrictions for Online Cooperation http://www.analyse-und-kritik.net/en/2004-1/content.htm

Eine Position, die scharf kritisch zur deutschen Ordnungstheorie und auch der vorangehenden Argumentationslinie steht, findet man bei Anthony de Jasay in  www.cato.org/pubs/journal/cj28n1/cj28n1-10.pdf

 

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