Ein zumindest aus ostdeutscher Sicht nicht unbedeutendes Thema in den derzeit laufenden Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene ist die „Angleichung der ostdeutschen Renten“. So haben sich mehrere Ministerpräsidenten für eine Gleichstellung ostdeutscher und westdeutscher Rentner ausgesprochen, und die SPD hat in ihrem Wahlkampf mit einem eigenen Rentenangleichungskonzept in den neuen Ländern um Stimmen geworben. Zwar ist derzeit nicht ausgemacht, dass das Thema angesichts der mit einer Erhöhung der ostdeutschen Renten verbundenen Mehrkosten im abschließenden Koalitionsvertrag tatsächlich Berücksichtigung findet. Dennoch scheint es sinnvoll, die teilweise recht verquer geführte Diskussion einmal um einige Fakten zu bereichern.
Mit der deutschen Vereinigung wurden die ostdeutschen Rentner (und mit ihnen die zukünftigen Rentner mit einer DDR-Erwerbsbiographie) prinzipiell den westdeutschen Rentnern (bzw. den westdeutschen Beitragszahlern) gleichgestellt. Es wurde also so getan, als ob sie bereits in der DDR Entgeltpunkte in ihrer Beschäftigungszeit erworben hätten, aus denen sich ein (zukünftiger) Rentenanspruch ableitete. Die Höhe der zugesprochenen Entgeltpunkte aus einer Beschäftigung in der DDR wurde dabei genauso ermittelt wie im westdeutschen Rentensystem: Je Beschäftigungsjahr mit einem dem durchschnittlichen Jahresentgelt entsprechenden Einkommen wurde ein Entgeltpunkt zugewiesen; die Höhe des individuellen Rentenanspruchs ergibt sich dann aus Multiplikation der im Erwerbsleben erhaltenen Entgeltpunkte mit dem gesetzlich fixierten Rentenwert. Die beiden entscheidenden – und bis heute bestehenden – Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland liegen dabei darin, dass für die Berechnung der Entgeltpunkte nicht der gesamtdeutsche, sondern der ostdeutsche Durchschnitt der (beitragspflichtigen) Einkommen zugrundegelegt wird und gleichzeitig der Rentenwert in Ostdeutschland niedriger ist als in Westdeutschland.
Technisch geschieht dies, dass die in Ostdeutschland erzielten Erwerbseinkommen bei der Ermittlung der rentenrechtlich relevanten Entgeltpunkte „hochgewertet“ werden. Dieser Hochwertungsfaktor entspricht in seiner Höhe dem Unterschied zwischen ost- und westdeutschem Durchschnittslohn und wird für jedes Jahr Beitragszeit gesondert berechnet. So werden beispielsweise die in der DDR im Jahr 1980 erzielten Einkommen rentenrechtlich mit einem Faktor von 3,1208 bewertet; für das laufende Jahr beträgt dieser Aufwertungsfaktor 1,1767. Hiermit wird erreicht, dass die aktuell niedrigeren Einkommen in Ostdeutschland sich nicht auch in niedrigen künftigen Renten niederschlagen, denn ein Arbeitnehmer in den neuen Ländern, der genau den ostdeutschen Durchschnittslohn erzielt, erwirbt auf diese Weise eine genauso hohe Rentenanwartschaft wie ein Arbeitnehmer in Westdeutschland, der den dortigen Durchschnittslohn erzielt.
Um eine Bevorzugung der gegenwärtigen Rentner in Ostdeutschland gegenüber den aktiven Erwerbstätigen zu vermeiden, wurde der Rentenwert in den neuen Ländern jedoch niedriger festgelegt als in Westdeutschland. Prinzipiell soll die Relation von Rentenwert Ost zu allgemeinem Rentenwert dabei genau der Relation der Durchschnittslöhne zwischen Ost- und Westdeutschland entsprechen. Derzeit beträgt der Rentenwert Ost jedoch 91,5% des Allgemeinen Rentenwerts, während der Angleichungsstand bei den Löhnen lediglich 85% beträgt. Grund für diese Diskrepanz – und die damit verbundene offenkundige Bevorzugung der Ost-Rentner gegenüber den derzeitigen Beschäftigten in Ostdeutschland – liegt in der sogenannten „Schutzklausel Ost“, die verhindert, dass der Rentenwert in den neuen Länder weniger steigt als der allgemeine Rentenwert. Eine solche Schutzklausel gibt es für die Renten, nicht aber für die Löhne: Da der Lohnabstand zwischen Ost- und Westdeutschland sich in den letzten Jahren eher verbreitert hat, ist die Rentenwertangleichung weiter vorangekommen als die Lohnangleichung. Hinzu kommt die allgemeine Schutzklausel, die ein Sinken des Rentenwerts bei sinkenden Durchschnittslöhnen verhindert; auch dies führt zu einer Bevorzugung der Rentner gegenüber den beitragspflichtigen Arbeitnehmern.
Aber nicht nur gegenüber den ostdeutschen Beitragszahlern, auch gegenüber den westdeutschen Rentnern weisen die ostdeutschen Rentner derzeit eine günstige Verteilungsposition auf. Dies führt daher, dass zumindest die heutigen Rentner noch in starkem Maße durch nachwirkende DDR-Erwerbsbiographien begünstigt werden. In der DDR gab es keine (unfreiwillige) Arbeitslosigkeit, und die Lohnspreizung war vergleichsweise gering. In der Folge weisen die meisten der heutigen Rentner hohe Entgeltpunktzahlen auf, so dass trotz eines niedrigeren Rentenwerts die von der Gesetzlichen Rentenversicherung ausgezahlten Altersrenten vergleichsweise hoch sind: Das Niveau der durchschnittlichen Altersrenten aus der Gesetzlichen Rentenversicherung beträgt in Ostdeutschland 1079 Euro/Monat für die Männer und 715 Euro/Monat für die Frauen. Das ist deutlich mehr als in Westdeutschland (985 bzw. 484 Euro/Monat). Natürlich wird sich dies in den kommenden Jahren ändern, wenn zunehmend Beitragszahler mit unterbrochenen Erwerbsbiographien aus der Nachwende-Zeit in die Rente eintreten; dies ist aber ein Problem, das durch eine forcierte Rentenwertangleichung nicht gelöst werden kann, sondern andere Maßnahmen (Stichwort „Altersarmut“) erfordert.
„Ungerecht“ ist freilich auch das heutige System der Hochwertung der Entgeltpunkte, denn nicht alle ostdeutschen Arbeitnehmer weisen tatsächlich ein pauschal niedrigeres Erwerbseinkommen auf als westdeutsche Arbeitnehmer in vergleichbarer Beschäftigungsposition. Insbesondere die Beschäftigten im öffentlichen Dienst werden heute in beiden Landesteilen gleich bezahlt – so dass die rentenrechtliche Hochwertung der ostdeutschen Einkommen hier zu einer massiven Bevorzugung führt. Gleiches gilt für umworbene Fachkräfte, die in Ost- und Westdeutschland tendenziell gleich viel verdienen. Und umgekehrt: Es gibt ja auch in Westdeutschland Regionen mit einem durchschnittlich niedrigeren Einkommen, ohne dass es hier zu einer entsprechenden Berücksichtigung bei der Rentenberechnung käme. Sowohl zwischen Ost- und Westdeutschland als auch zwischen einzelnen Beschäftigtengruppen innerhalb Ostdeutschlands führt das geltende Recht somit zu Ungleichbehandlungen.
Eine diskretionäre Angleichung des Rentenwerts, wie in den Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene offenbar beabsichtigt, würde insoweit eher eine zusätzliche Ungerechtigkeit als eine erhöhte Gerechtigkeit ins System einbringen. Hinzu kommt, dass diese primär den heutigen Bestandsrentner (bzw. den kurz vor der Verrentung stehenden Erwerbstätigen) zugute käme. Weshalb diese (Wähler-)Gruppe besonders bevorzugt werden soll, erschließt sich nicht so ohne Weiteres, fügt sich allerdings ein in weitere geplante Maßnahmen wie der „Mütterrente“ oder der Anhebung der Renten für Personen mit sehr niedrigen Rentenansprüchen („Lebensleistungsrente“ oder „Solidarrente“).
Die Kompensation des Effekts niedrigerer Löhne (und eines derzeit noch niedrigen Rentenwerts) für die künftigen Neurentner erfolgt über den bereits angesprochenen Hochwertungsfaktor bei der Berechnung der Rentenanwartschaften in Ostdeutschland. Es ist davon auszugehen, dass bei einer diskretionären Anhebung des Rentenwerts dieser Hochwertungsfaktor entsprechend verringert wird. Die heutigen Bestandsrentner sind davon nicht betroffen, wohl aber die künftigen Neurentner, die dann aus gleichem Einkommen geringere Rentenanwartschaften erwerben. Da der Hochwertungsfaktor (in Höhe von derzeit 1,1767) höher ist als der Abstand der Rentenwerte (in Höhe von derzeit 1,0932), würde eine Abschaffung des Hochrechnungsfaktors zu einer Benachteiligung der heutigen Beitragszahler führen: Ihr Verlust aus der Abschaffung des Hochrechnungsfaktors wäre größer als ihr Gewinn aus der Anhebung des Rentenwerts. Eine Rentenreform der skizzierten Art ginge insoweit zu Lasten der heutigen Arbeitnehmer in Ostdeutschland.
Abschließend: Eine Anhebung des Rentenwertes (und damit der Renten) in Ostdeutschland ist nicht umsonst zu haben: Irgendjemand muss die hierfür benötigten Gelder aufbringen. Nach Lage der Dinge können dies nur die heutigen Erwerbstätigen sein, die entweder über höhere Beiträge an die Sozialversicherung oder durch höhere Steuern belastet sein werden. Natürlich lässt sich diese Zusatzbelastung kosmetisch verschleiern, indem man sie auf viele Köpfe verteilt; verschwinden wird sie dadurch jedoch nicht. Zusätzliche sozialpolitische Leistungen für eine mehr oder minder eng umgrenzte Gruppe sind stets durch die Allgemeinheit zu zahlen.
Als Fazit lässt sich festhalten: Eine Angleichung des Rentensystems zwischen Ost- und Westdeutschland ist sicherlich notwendig, aber nicht in der Form, wie es heute diskutiert wird. Es gibt hierzu auch eine Reihe von Vorschlägen, so vom Sachverständigenrat oder auch vom ifo Institut, die zumindest die gröbsten Ungereimtheiten des heutigen Systems beseitigen und insgesamt kostenneutral umzusetzen wären. Die Chance, diese Vorschläge umzusetzen, bestand auch schon in der letzten Legislaturperiode, ist aber am Widerstand von interessierter Seite gescheitert. Wenn in den jetzigen Koalitionsverhandlungen eine Lösung gefunden würde, die den derzeitigen Positionen der wortführenden Politiker entspricht, hätten sich auch Interessengruppen durchgesetzt – aber ein gerechteres System wäre dadurch wohl leider nicht entstanden.
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