Noch steht nichts fest und somit ist Zurückhaltung angesagt. Doch die Vermutung liegt nahe, dass die derzeitigen Verhandlungen von CDU, SPD und CSU die Tragfähigkeit der deutschen Fiskalpolitik eher vermindern dürften. Rente mit 63, Mütterrente und Aufstockung der Renten für Geringverdiener konterkarieren die anstrengenden Rentenreformen der vergangenen Dekade. Wie teuer es wirklich wird, bleibt abzuwarten, jedoch wird langfristig eine Aussetzung der anvisierten Beitragssatzsenkung kaum ausreichen um diese Projekte zu stemmen.
Aus Sicht der nachhaltigen Finanzierung der deutschen Staatsfinanzen sind die Gerüchte aus der Koalitionsküche also mit Sorge zu betrachten – noch mehr umtreiben muss den Tragfähigkeitsbeobachter allerdings die Tatsache, dass über andere soziale Sicherungssysteme und deren nachhaltige Finanzierung scheinbar gar nicht gesprochen wird. Die Rede ist von der Gesundheitspolitik.
War die vergangene Dekade der Agenda 2010 geprägt von erfolgreichen Reformen des Arbeitsmarktes und der Rentenpolitik, so erhoffte man sich eine ähnliche Kraftanstrengung in diesem Jahrzehnt bei Gesundheit und Pflege. Bisher jedoch Fehlanzeige und dies scheint sich fortzusetzen. Dabei geht es um viel mehr als um die Fragen der Dualität (Bürgerversicherung) und der Finanzierung (Kopfpauschale). Es geht vielmehr darum, wie wir die aufgrund der demografischen Entwicklung und des medizinisch-technischen Fortschritts notwendige Rationierung organisieren wollen – staatlich-korporativ oder marktwirtschaftlich-individualistisch.
Derzeit befindet sich die gesetzliche Krankenversicherung aufgrund der guten Konjunktur noch in einer relativ komfortablen Position. Dies wird sich jedoch in den kommenden Jahrzehnten – unabhängig von der konjunkturellen Entwicklung – ändern. Die Einnahmen werden bei Beibehaltung lohnabhängiger Beiträge aufgrund des demographischen Wandels auf jeden Fall relativ zurückgehen. Derzeit ist noch ein großer Teil der sogenannten Baby-Boomer-Kohorten in Lohn und Brot, doch selbst bei steigendem Renteneintrittsalter werden diese geburtenstarken Jahrgänge immer weniger zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung beitragen. Selbst bei erheblicher Nettozuwanderung ist dieser Effekt auf der Einnahmenseite nicht auszugleichen. Zeitgleich wird es einen relativ starken Anstieg bei den Ausgaben geben. In welchem Maße ist unter Medizinern und Gesundheitsökonomen freilich umstritten, hängt dies doch davon ab, wie gesund oder krank wir altern werden und wie erfolgreich (und damit ausgabensteigernd) die medizinische Forschung sein wird. Doch selbst im optimistischen Szenario einer gesunden Alterung und eines medizinischen Fortschritts, welcher Produkt- und Prozessinnovationen in der Balance hält, gilt, dass die geburtenstarken Kohorten altern (bzw. sterben) und damit mehr Leistungen in Anspruch nehmen werden. Was das für die Entwicklung des Beitragssatzes (oder alternativ des Zusatzbeitrages) heißen könnte, illustriert die unten stehende Abbildung:
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Damit es zu keinen Missverständnissen kommt: Der Staat wird und muss im Gesundheitswesen immer eine gewichtige Rolle spielen – die Frage ist, ob hinsichtlich der oben skizzierten Entwicklungen diese Rolle noch ausgebaut oder etwas zurückgefahren werden sollte. Dabei gibt es Pro- und Kontraargumente für beide Modelle und am Ende kann der Ökonom als Gesellschaftsingenieur nur die Konsequenzen skizzieren – die Entscheidung für die eine oder andere Richtung bleibt ein Werturteil des Souveräns. Eine Entscheidungsfindung jedoch brauchen wir und hier ist klar an den Mut der politischen Klasse zu appellieren.
Was wären nun aber die Konsequenzen des einen oder anderen Weges? Die staatlich-korporative Rationierung würde zu einer relativ egalitären Gesundheitsversorgung – eine Zwei-Klassen-Medizin per se – führen. Die zweite Klasse sind dann 99 Prozent der Bevölkerung, welche ihre medizinische Versorgung im Inland erhalten. Ein Prozent (mehr oder weniger) werden sich aufgrund ihres Reichtums im Ausland versorgen lassen. Wieso? Weil sie es sich leisten können. Und weil in einem staatlich bestimmten Leistungskatalog nicht alles medizinisch Machbare enthalten sein kann. Es wird ja eben um Rationierung gehen. Doch zweifellos ist dies eine gangbare, egalitäre Möglichkeit, denn meist kennen die 99 Prozent die restlichen ein Prozent kaum. Der Nachbar wird mit hoher Wahrscheinlichkeit den gleichen Gesundheitsschutz haben wie man selbst.
Die Alternative hierzu ist die Rationierung durch den Markt, und diese geht dann über Wettbewerb und Preise. Ärzte und Krankenhäuser würden zu Unternehmen, die mit der Gesundheit Geld verdienen wollen und sollen. Die Patienten wären dann entsprechend Kunden und bekämen für die Leistungen eine Rechnung, die sie selbst beglichen und deshalb gut kontrollierten, da sie nur einen gewissen Anteil erstattet bekommen würden. Hier soll sich jeder soviel des Gutes Gesundheit leisten wie er kann und möchte. Am Ende gäbe es keine Zwei-Klassen-Medizin, sondern eine 20-Klassen-Medizin. Dem Staat käme dabei die Rolle zu, die 20. Klasse so zu definieren wie sie unserem reichen Land angemessen erscheint – jedoch mit genügend Abstand zu den anderen Klassen. Hier muss es nicht per se um lebenswichtige Medizin gehen, sondern der Abstand könnte durch einfache Module geschaffen werden. Warum soll das Recht auf freie Arztwahl nichts kosten bzw. von der Solidargemeinschaft bezahlt werden? Warum soll jeder Patient kostenlos selbst entscheiden, wie viele Facharztbesuche er konsumiert? Warum sollen Wartezeiten bei einfachen Behandlungen nicht kostenpflichtig verkürzt werden können (das Pendant zum Speedy Boarding)? Aber es wird auch um harte medizinische Einschränkungen gehen. Können wir Menschen mit geringerem Einkommen/geringerer Zahlungsbereitschaft zumuten, ein Medikament mit gleicher Effektivität aber stärkeren Nebenwirkungen (das jedoch günstiger ist) einzunehmen? Die Marktlösung bejaht diese Frage.
Die meisten Ökonomen dürften Sympathien für die Marktlösung haben, da sie möglichweise Potentiale für Effizienzgewinne birgt und die Rationierung damit vielleicht kleiner gehalten werden kann. Aber es bleibt am Ende ein gesamtgesellschaftliches Werturteil, was eben schwerer wiegt: Die Akzeptanz, dass es Unterschiede beim Krankenversicherungsschutz/der Gesundheitsversorgung geben kann, ich aber dies als Individuum unter der Beschränkung der Ressourcen selbst frei wählen darf. Oder aber die kollektive Abgabe dieser Verantwortung an den Staat, mit der Sicherheit, vielleicht nicht das Optimum in Händen zu halten, jedoch damit nicht allein zu sein. Hoffentlich finden Politik und Gesellschaft möglichst bald Mut für diese Debatte.
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