Glück oder kluge Politik?
Was bewahrte die Schweiz im Ersten Weltkrieg vor dem Schicksal anderer Länder

„Man darf auch hier nicht allzu schwarz sehen und vor allem muss und darf man sich klar machen, dass eine völlige Einkreisung der Schweiz durch Abschneidung aller Getreidefuhren zwar für eine gewisse Übergangszeit möglich ist, dagegen nicht auf eine längere Dauer vorauszusehen ist.“

Bundesrat Arthur Hoffmann, Oktober 1912

Christopher Clark’s vielzitiertes Buch „Die Schlafwandler“ erklärt den Ausbruch des Ersten Weltkriegs als nicht gewolltes, vermeidbares Ergebnis dicht gefolgter Ereignisse und verhängnisvoller Entscheidungen einer vielfältig verflochtenen und globalisierten Welt. Im Ergebnis forderte die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ 17 Mio. Menschenleben in 40 Staaten und unvorstellbares Leid. Die Schweiz – obwohl mit dem Kriegseintritt Italiens ab dem 23. Mai 1915 vollständig von kriegsführenden Mächten umkreist – konnte sich aus direkten Kriegshandlungen heraushalten. Schlafwandelten die Grossmächte an der Schweiz vorbei oder bewahrte uns kluge Politik vor dem Schicksal anderer Länder?

Die oben im Kontext der Versorgungsfrage zitierte Aussage von Bundesrat und Aussenminister Hoffmann ist sinnbildlich für die auch in der Schweiz weit verbreiteten Annahmen über den Ablauf eines zukünftigen Konflikts in Europa in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Schnell würde es gehen und wahrscheinlich wie 1870/71 mit einem deutschen Sieg über Frankreich enden. Man war nicht in der Lage, politische, wirtschaftliche und militärische Interdependenzen zu analysieren und daraus den Schluss zu ziehen, dass sich die geopolitische Lage zwischen den Mächtepolen äusserst fragil gestaltete.

Noch im Juli 1914 meldete Charles Lardy, Gesandter des Bundesrats in Paris, dass die Situation seit dem Attentat in Sarajevo auf dem Balkan von den Franzosen als ungefährlich eingestuft und die allgemeine Lage in Europa als nicht weiter besorgniserregend betrachtet würde. Ähnlich sein Kollege Alfred de Claparède, Gesandter des Bundesrats in Berlin. Er meinte, dass man sich im Auswärtigen Amt keiner Gefahr bewusst sei, welche die momentane politische Situation auf dem Balkan heraufbeschwören könnte. Man sei auch der Ansicht, dass diese Lokalfrage keinesfalls einen Konflikt zwischen den Grossmächten wert wäre.
Spätesten mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien änderten die europäischen Grossmächte jedoch ihre Einschätzung des Lokalkonflikts auf dem Balkan und in der Schweiz waren vermehrt warnende Stimmen zu hören. Am Schweizer Nationalfeiertag vom 1. August 1914 meldete die Neue Zürcher Zeitung NZZ: «In der russischen Mobilmachung ist daher der schicksalsschwere Wendepunkt zu erblicken. Die Wahrscheinlichkeit ist überaus gross, dass von da aus die Dinge unrettbar und, von einer furchtbaren, ihnen innewohnenden Folgerichtigkeit gestossen, auf der schiefen Ebene hinab in den Abgrund gleiten.»

Decken sich die ex post facto Feststellungen der Historiker und den ausgewerteten historischen Quellen mit der damals tatsächlich wahrgenommenen Bedrohung? Weichen diese Urteile von den Erfahrungen der damaligen Zeitgenossen ab? Um diese Frage zu beantworten, ist ein Blick auf den damaligen Finanzmarkt nützlich. Konkret ist die Renditeentwicklung der Schweizer Staatsanleihen von Bedeutung. Sie spiegelt die Risikoeinschätzung der damals auf dem Finanzmarkt aktiven Personen betreffend der Ausfallwahrscheinlichkeit der Schweiz. Dieses Vorgehen zur Ermittlung der Bedrohungslage der Schweiz während des Ersten Weltkriegs hat verschiedene Vorteile. Erstens wird auf tatsächliche Entscheide der damals handelnden Akteure abgestellt. Ideologisch gefärbte Beurteilungen sowie klare Fehlurteile können damit eingedämmt werden. Schliesslich gingen die damaligen Teilnehmer auf dem Finanzmarkt hohe finanzielle Risiken ein und hatten klare Anreize einer objektiven Einschätzung der Bedrohungslage. Ausserdem kann durch die Vielzahl der Akteure davon ausgegangen werden, dass die Informationsverarbeitung über die tatsächliche Bedrohungslage repräsentativer ist als bei Einzelaussagen.

Erstmals untersuchten Willard, Guinnane und Rosen (1996, AER) für den amerikanischen Bürgerkrieg, ob die zeitgenössischen Finanzmarktakteure die Tragweite der Kriegsereignisse ähnlich einschätzten wie die Historiker. Frey und Kucher analysierten (2000, JEH) die Bedrohungslage der Schweiz erstmals auf Basis eidgenössischer Staatsanleihen im Zweiten Weltkrieg und leisteten somit erste Pionierarbeit.[1] Zur Beurteilung der Bedrohungslage der Schweiz während des Ersten Weltkriegs haben wir in ähnlicher Weise die tägliche Renditeentwicklung der über diesen Zeitraum gehandelten vier eidgenössischen Staatsanleihen mit unterschiedlichem Coupon ausgewertet. Die Grafik zeigt den durchschnittlichen Renditeverlauf der vier eidgenössischen Staatsanliehen auf dem Handelsplatz Basel.

Staatsanleihen
– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –

Es fällt zunächst ein jährliches Muster auf, nachdem die Kriegswinter mit einer Zunahme der Bedrohungslage einhergehen. Dies lässt sich durch die jeweilige Unsicherheit der militärischen Planungen für Frühjahrsoffensiven gut erklären. In einer davon ausgehenden Strukturbruchanalyse der Renditeentwicklung kommen wir zu folgendem Ergebnis: Erstens waren die aussenpolitische und insbesondere militärische Gefährdung gepaart mit sozialen Spannungen im Inneren von grösserer Bedeutung als die innenpolitischen Affären. So wurde der Kriegsausbruch in der Schweiz trotz dürftiger Datenlage mit einem Renditeanstieg von 30 Prozent auf dem Anleihensmarkt tatsächlich als bedrohlich wahrgenommen. Zweitens markiert die Absicht einer Südumfassung der Westfront durch die Schweiz – beispielsweise konkretisiert im Fall des «Plan H» der französischen Armee – in Kombination mit den Kriegserfolgen der Mittelmächte an der Ostfront die wichtigste Gefährdung der Schweiz in den Augen des Anleihensmarkts. Des Weiteren zeigten sich die Finanzmarktakteure durch den Waffenstillstand von Brest-Litovsk an der Ostfront im Spätherbst 1917 gepaart mit der Verschärfung des innenpolitischen Klimas im zweiten Halbjahr 1917 beeindruckt, welche schliesslich in den Landesstreik von 1918 mündeten. Beides erhöhte neuerlich die Gefahr, dass die Schweiz im Rahmen einer Entscheidung an der Westfront in Kriegshandlungen verwickelt würde.

Die politischen und militärischen Entscheide der damaligen Handlungsträger im Rahmen der schweizerischen Neutralität waren zusammenfassend trotz vieler Pannen nicht ungeeignet, die Schweiz von direkten Kriegshandlungen fern zu halten. Die Analyse von Strukturbrüchen in der Renditeentwicklung von Staatsanleihen bietet so wertvolle Einsichten und Ergänzungen zur historischen Beurteilung von Bedrohungsszenarien.

Fußnoten

[1] Weitere nennenswerte Studien stammen bspw. von Brown und Burdekin, welche den amerikanischen Bürgerkrieg (2000, JEH) und den Zweiten Weltkrieg (2002, Economica) jeweils aus britischer Perspektive untersucht haben. Oosterlinck (2000 ExplEH) untersucht den Staatsanleihenmarkt in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs. Eine qualitative Analyse der Anleihenmärkte zwischen 1848 und 1914 liefert Ferguson (2006, EHR).

 

Eine Antwort auf „Glück oder kluge Politik?
Was bewahrte die Schweiz im Ersten Weltkrieg vor dem Schicksal anderer Länder

  1. Die Ordinate des Diagramms müsste etwas genauer erklärt werden. Sie kann wohl kaum eine Rendite p.a. von Schweizer Staatsanleihen repräsentieren, oder?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert