Der Landesstreik von 1918
Eine Finanzmarktperspektive

Im November 2018 jährt sich der Jahrestag zum Landesstreik zum hundertsten Mal. Das Ereignis hat längst seinen festen Platz in der nationalen Erinnerungskultur. So wie der vergleichsweise glimpfliche Ausgang des Aufstands Tatsache ist, bestand seit den 1960er-Jahren – massgeblich beeinflusst durch die Arbeiten Willi Gautschis – weitgehend Einigkeit über dessen Ursachen und die daraus abgeleitete Erzählung. Beim Landesstreik habe es sich nicht um einen von bolschewistischen Kräften angezettelten Umsturzversuch gehandelt. Vielmehr hätten sich darin die während des Krieges aufgestauten Missstände und Klassengegensätze entladen. Laut dem «Kulminationsnarrativ» stand die Schweiz damals nicht vor einer Revolution, sondern vor einem Wendepunkt, der dem sozialen Fortschritt in der Schweiz zum Durchbruch verhalf.

Stereotype Geschichtsbilder?

Dieser Erzählung des Landesstreiks halten Rudolf Jaun und Tobias Straumann in der NZZ vom 25. Januar 2018 den Spiegel vor. Sie argumentieren, dass sich die materielle Lage der Bevölkerung gerade im Verlauf des Jahres 1918 stabilisiert und der Bundesrat einige sozialpolitische Forderungen des Oltener Aktionskomitees OAK bereits übernommen habe. Zwar bleibe unbestritten, dass die Lebensumstände eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung auch 1918 noch prekär waren. Faktoren wie die Umsturzbefürchtungen der Zürcher Regierung, der Machtkampf innerhalb der Arbeiterschaft und die Revolutionsängste der Armeeführung seien jedoch bisher nicht genügend in Betracht gezogen worden.

Daraus habe sich eine stereotype Darstellung des Landesstreiks entwickelt, ganz ähnlich dem eingangs erwähnten, von der Forschung widerlegten Narrativ einer durch ausländische Kräfte angezettelten Revolution. Vor dem Hintergrund dieser Geschichtsbilder laden Jaun und Staumann dazu ein, den Landesstreik als ein weitgehend auf die wirtschaftliche Bedrängnis der Bevölkerung zurückzuführendes Ereignis kritisch zu hinterfragen.

Zeitgenössischer Finanzmarkt als Pulsmesser

Die Interpretation eines 100 Jahre zurückliegenden Ereignisses ist tückisch, denn die damaligen Entscheidungsträger handelten unter Ungewissheit – die heutige Generation dagegen steht vor dem ex post facto Problem: Sie kennt den Ausgang des Landesstreiks. Es ist durchaus plausibel, dass das Kulminationsnarrativ der damaligen Dramatik nicht vollständig gerecht wird und durch den tatsächlich glimpflichen Ausgang des Landesstreiks verzerrt ist. Eine vielversprechende Methode, die Stimmung der damaligen Zeit adäquat einzufangen, bietet ein ökonomischer Ansatz, der zeitgenössische Finanzmarktdaten auswertet. Konkret lässt sich anhand der Preis- und Renditebewegungen von Staatsanleihen auf die Risikoeinschätzungen der damals auf dem Finanzmarkt aktiven Personen schliessen.

Um die öffentliche Wahrnehmung von Bedrohungslagen einschätzen zu können, ist seit Mitte der 1990er-Jahre ein Literaturstrang entstanden, der das historische Quellenstudium zu einer Reihe von Konflikten und Epochen mit der Sichtweise damaliger Finanzmarktakteure ergänzt. Die Finanzmarktperspektive bietet sich aus mehreren Gründen an. Erstens wird auf tatsächliche Entscheide der damals handelnden Akteure abgestellt, die unter hoher Unsicherheit getroffen werden mussten. Zweitens gingen die Teilnehmer auf dem Finanzmarkt Risiken ein und hatten mithin klare Anreize einer objektiven Einschätzung der Bedrohungslage. Drittens kann durch die Vielzahl der Akteure davon ausgegangen werden, dass die Informationsverarbeitung repräsentativer ist als bei Einzelaussagen. Als Folge davon können voreingenommene Beurteilungen sowie Fehlurteile eingedämmt werden.

Fehlender Kulminationspunkt

Unsere Untersuchung unterzieht die wichtigsten Schweizer Staatsanleihen der damaligen Zeit einer Strukturbruchanalyse. Dabei handelt es sich um eine bewährte Methode zur Identifikation signifikanter Veränderungen in Zeitreihen. Die Periode von Oktober 1917 bis März 1919 zeichnet sich augenscheinlich durch folgendes Muster aus. Es fehlt ein kulminierender Anstieg der Renditen, der im Landesstreik gipfelt. Vielmehr verhält sich der Verlauf der Renditen in den Sommermonaten 1918 annähernd konstant, sogar leicht rückläufig, bevor im Herbst eine sprunghafte Veränderung der Risikoeinschätzung identifiziert werden kann (siehe Abbildung). Dieser Strukturbruch ist in allen untersuchten Zeitreihen unabhängig von der genauen Spezifikation des Modells feststellbar.

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Die wesentliche Veränderung in der Renditeentwicklung darf als starkes Indiz für eine abrupte Risikozunahme und aufflammende Revolutionsängste unter den Anlegern gewertet werden. Ein weiteres ist interessant: Die Mehrheit der Brüche Mitte Oktober 1918 deutet darauf hin, dass Befürchtungen eines revolutionären Umsturzes unter den Anlegern bereits vor Ausbruch des Landesstreiks aufgekommen sind (siehe Tabelle). Die Brüche sind umfangreich: Sie entsprechen einer nominalen Erhöhung der Renditen zwischen 4,5 und 7,5 Prozent. Unseres Wissens existieren heute leider keine Aufzeichnungen der damaligen Anleihevolumina, die eine Gewichtung der einzelnen Anleihen erlaubten. Deren zeitliche Koinzidenz gibt allerdings Vertrauen in die Annahme, dass die Proporzinitiative das Bürgertum stark verunsicherte.

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Wie verlässlich sind die Daten des damaligen Anleihemarkts als implizites Mass der öffentlichen Wahrnehmung? Mangels Untersuchungen zur Identität der Investoren an den Schweizer Börsen für die Zeit des Ersten Weltkriegs ist eine genaue Charakterisierung der Anleger schwierig. Ausländische Studien zeigen, dass sich private Investoren überwiegend aus Vermögenden, Geschäftsleuten und Bewohner urbaner Zentren zusammensetzten. Aufgrund verbreiteter Repatriierungen darf zudem angenommen werden, dass es sich bei den meisten Anlegern um einheimische Investoren handelte.

Proporzinitiative und Bankenpersonalstreik entscheidend

Folglich stellen Finanzmarktdaten einen guten Indikator für die Wahrnehmung der Bedrohungslage (stadt-)bürgerlicher Kreise dar. Der Zeitpunkt der identifizierten Strukturbrüche Mitte Oktober ist daher interessant. Im Rahmen des Bankenpersonalstreiks in Zürich vom 30. September bis 1. Oktober legten erstmals Angestellte und Arbeiter ihre Arbeit gemeinsam nieder. Am 13. Oktober 1918 nahmen Volk und Stände im dritten Anlauf eine Initiative zur Einführung des Proporzwahlrechts auf Bundesebene an. Es scheint durchaus plausibel, dass die Anleger diesen Ereignissen beträchtliches Gefahrenpotenzial attestierten. Nach zwei gescheiterten Anläufen, das Verhältniswahlrecht auf Bundesebene zu implementieren, dürfte das Bürgertum im sich abzeichnenden Machtgewinn der sozialdemokratischen und sozialistischen Bewegungen eine gefährliche Dynamik erkannt haben. Diese Wahrnehmung verstärkte sich unter dem Eindruck, dass die Streikwelle nun auch die Kreise der Angestellten erfasst hatte.

Dabei scheint sowohl die Tatsache keine Rolle gespielt zu haben, dass die Einführung des Proporzes kein rein linkes Anliegen war, wie der Sachverhalt, dass sich die Bankangestellten für einen Teuerungsausgleich einsetzten und kaum politische Gemeinsamkeiten mit den teilweise radikalen Arbeitergruppierungen bestanden. Zu erschüttert muss das bürgerliche Weltbild – geprägt durch den gefühlten politischen und gesellschaftlichen Kontrollverlust – in jenen Tagen und Wochen gewesen sein. Ein eindrückliches Zeugnis dieser in bürgerlichen Kreisen verbreiteten Ängste ist die geäusserte Erleichterung nach dem Abbruch des Landesstreiks. So stellte der Vorsitzende des Bankrates der Schweizerischen Nationalbank, Johann Daniel Hirter, in der ersten Sitzung nach Streikabbruch am 16. November 1918 «mit Genugtuung» fest, «dass die entschiedene Haltung unserer Behörden und die politische Reife der Mehrheit des Volks […] einem glücklichen Übertritt des Landes in die Zeit des Friedens den Boden geebnet ha[t].»

Während die zu den Strukturbrüchen korrespondierenden Ereignissen sehr wahrscheinlich innenpolitisch zu verorten sind, sind die Befürchtungen der Anleger nicht zuletzt vor der unausweichlichen Niederlage der Mittelmächte und dem sich abzeichnenden inneren Zerfall der Monarchien in Deutschland und Österreich-Ungarn zu betrachten. Die Donaumonarchie ging Deutschland voraus, als deren Streitkräfte an den verschiedenen Fronten ab dem 22. Oktober von verbreiteten Befehlsverweigerungen erfasst wurden. Am 17. Oktober hatte Kaiser Karl mit seinem Völkermanifest den letzten, erfolglosen Versuch unternommen, den Bruch des Vielvölkerstaats zu verhindern. Der damit verbundene Niedergang der staatlichen Ordnung in den Ländern, denen bürgerliche Kreise während des Krieges am meisten Sympathien entgegenbrachten, dürfte das bürgerliche Selbstverständnis mitentscheidend beschädigt haben.

Plausibles Umsturznarrativ

Welche Schlüsse lassen sich aus der hier vorgestellten Perspektive ziehen? Die Betrachtung des Finanzmarkts als ergänzende Methode zur bisherigen Gesichte des Landesstreiks liefert Indizien für eine Erzählung jäh aufflammender Umsturzängste, die sich bereits in dem Landesstreik vorausgehenden Ereignissen der Proporzinitiative und des Bankpersonalstreiks manifestierten. Darüber hinaus sind diese im Kontext der in sich zerfallenden deutschsprachigen Nachbarstaaten zu verstehen. Demgegenüber erscheint die Deutung des Landesstreiks als Kulminationspunkt einer stetigen Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage anhand der Finanzmarktdaten weniger plausibel.

Literatur (Auszug)

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