Hochgeschwindigkeitshandel – Doping an der Börse?

Michael Lewis’ Buch „Flash Boys“, das den Hochgeschwindigkeitshandel HFT (high frequency trade) vor allem an der Wall Street zum Gegenstand hat, erreichte Ende April Platz 1 der New York Times Bestsellerliste für „Non-Fiction“. Das Buch hielt sich eine gute Weile auf den vorderen Plätzen. Hier in Deutschland war das Echo geringer. Der amerikanische Bestseller brachte es als Übersetzung über Platz 30 in der deutschen Verkaufsliste nicht hinaus. Doch vielleicht sollten auch wir Deutschen uns ungeachtet der relativen Börsenferne des deutschen Publikums ein paar Gedanken über HFT machen. Allein mit dem Alltagsverstand bewaffnet kann man dazu einige elementare Beobachtungen anstellen, die bestimmten allgemeinen Aufgeregtheiten entgegenwirken und mögliche ernsthafte Probleme identifizieren können (für weitere Hintergründe vgl. Zook, M. und Grote, M., 2014, The Microgeographies of Global Finance: High Frequency Trading and the Construction of Information Inequality, http://ssrn.com/abstract=2401030).

1. Die schöne neue Welt der Privatanleger

Es ist ein großer Fortschritt, dass wir heute auch als Kleinanleger die Dienste von aktiv gemanagten Fonds vermeiden können. Wir können entweder eine transparente Anlagestrategie kaufen, nach der ohne aktives Management nach bestimmten Regeln breit gestreut investiert wird. Oder wir können uns sogenannter ETF’s, bedienen, um zu kleinen Gebühren selbst komplexe Portfolios zusammenzustellen, die es uns auch als Kleinanlegern erlauben, Risiken so zu streuen bzw. zu konzentrieren, wie es unseren Präferenzen und Informationen entspricht (vgl. dazu etwa Martin Weber „Genial einfach investieren“, Campus 2007). Dadurch, dass wir uns der Dienste von  Onlinebrokern bedienen, können wir zudem, wenn wir es denn wollen, sogar den Kontakt mit den Anlageberatern der Banken vermeiden.

Ein vernünftiger Kleinanleger wird ruhige und langfristige Strategien verfolgen und daher eher sporadisch kaufen oder verkaufen. Will er tätig werden, so kann er das angesichts der Entwicklung moderner Computer-Technologie nahezu von jedem Ort der Welt aus. Eines Mittelmanns oder Maklers muss er sich nur für die Ausführung seiner Kauf- oder Verkaufsanweisungen bedienen. Wenn er seine „orders“ nach unten bzw. oben eingrenzt, kann wenig unvorhersehbar schiefgehen. Typischerweise geht es bei dem, was ein geschickter Makler für den Anleger bei günstigstem Kauf oder Verkauf herausholen kann, für den Anleger nur um marginale Beträge. Welchen Makler der Anwender wählt, wo die Börse steht, wieweit das Maklerbüro von ihr entfernt und mit welcher Technik es ausgestattet ist, wird den Anleger angesichts seiner eigenen nur geringen Betroffenheit wenig interessieren. Zumal in der heutigen Zeit der schnellen Informationsübermittlung darf er davon ausgehen, dass sich massiv unterschiedliche Preise für das gleiche Wertpapier an verschiedenen Börsenplätzen nicht halten können.

Der Anleger kann sich darauf verlassen, dass er international marktgerechte Preise zahlt. Denn jede Differenz zwischen Preisen muss angesichts heutiger Informationstechnologien unweigerlich sofort erkannt werden. Dadurch, dass jemand am einen Ort billiger kauft und am anderen teurer verkauft, wird der vergleichsweise Vorteil am einen Ort durch dort steigende und am anderen Ort durch dort sinkende Preise eliminiert werden.

Der altbekannte Prozess hat heute durch die schiere Geschwindigkeit der Anpassung eine neue Qualität gewonnen. Wenn etwa „Deutsche Bank“ Aktien in Frankfurt und in Hamburg zu unterschiedlichen Preisen gehandelt werden, muss das in der gleichen Sekunde auf den Terminals der Händler sichtbar werden. Die Händler kaufen am einen Ort und am anderen verkaufen sie noch in dieser Sekunde, um die Differenz in die eigene Tasche zu stecken. Alle börsenrelevanten Nachrichten sind sofort überall verfügbar. Die Zeiten als man eine Brieftaube senden konnte und musste, um sich selbst schneller über den Ausgang der Schlacht von Waterloo zu informieren als andere sind vorbei. Es ist so, als wären alle Börsenhändler global auf dem gleichen Fischmarkt unterwegs, einem Markt, auf dem alle Gebote sofort Allgemeines Wissen werden. Aber die schöne neue Welt des globalen Handels ist weniger global als man meint und hat einige Eigenschaften, die für den Außenseiter zunächst überraschend scheinen.

2. Die neue Lokalität

Überraschenderweise ist es für bestimmte Formen des computerisierten Handels mit Wertpapieren ungeachtet der generellen Globalisierung der Marktprozesse zunehmend wichtiger geworden, wie nah sie ihre hardware an bestimmte Abwicklungsknotenpunkten heranbringen können, wie schnell die Übermittlungspfade sind und ob sie eher als andere über Veränderungen in den Orderbüchern informiert sind. Wer den Bruchteil einer Sekunde eher als andere weiß, dass in Hamburg „Deutsche Bank“ für einen anderen Preis als in Frankfurt angeboten wird, kann an der einen Stelle kaufen und ohne Risiko an der anderen verkaufen. Es mag um minimale Differenzen gehen, aber Kleinvieh, das milliardenfach feinsten Goldstaub von sich gibt, macht keinen Mist, sondern Goldklumpen. Da alles darauf ankommt, den anderen Börsenmaklern eine Nasenlänge voraus zu sein, hat eine Rüstungswettlauf unter den Händlern eingesetzt, um immer schnellere Informationskanäle ausnutzen zu können. Um sich die kleinen Differenzen (Arbitrage) zwischen Preisen anzueignen, die auch auf nahezu perfekten Märkten existieren, lohnt sich offenkundig ein riesiger Aufwand (anschaulich in Michael Lewis’ erwähntem Buch geschildert, wirtschaftsgeographisch genauer dargestellt in Zook und Grote wie ebenfalls zitiert).

Obwohl wir nicht genau wissen, wie hoch die Gewinne aus dem HFT sind, können wir aus dem getriebenen Aufwand folgern, dass sie beträchtlich sein müssen. Die Erträge müssen für immer teurere neue Hardware, für die Erlaubnis, Zugang zu Daten zu erhalten oder einen bestimmten Ort für die eigenen Rechner zu mieten, teilweise weitergegeben werden. Dieser Aufwand frisst tendenziell die durch den Geschwindigkeitsvorteil realisierbaren Sondergewinne („Renten“) auf. Daher realisieren die Hochfrequenzhändler nicht die vollen Gewinne aus den Gebühren, die sie de facto wie eine Steuer vor allem von häufig handelnden Großanlegern erheben.

Für die politische Debatte über notwendige Marktregulierungen hat die Steuerartigkeit der Auswirkungen von HTF Phänomens eine einfache Konsequenz: Da die Auswirkungen der privaten Wegelagerergebühren alles andere als verheerend erscheinen, können wir schließen, dass auch öffentliche Gebühren etwa in der Form der umstrittenen Transaktionssteuer keine verheerenden Folgen hätten. Umgekehrt sollten diejenigen, die davon ausgehen, dass Transaktionssteuern durch Reduktion der Anzahl der Transaktionen an den Kapitalmärkten positive Auswirkungen haben, anerkennen, dass auch durch HFT die Transaktionsneigung der vom HFT behinderten Großanleger reduziert wird. Insoweit wäre es gleichgültig, ob öffentliche oder private „Reibung“ Transaktionen eliminiert. Dennoch ist ein allgemeiner politisch potentiell potenter Widerwille gegen Hochfrequenztransaktionen, HFT, zu spüren. Das wirft die Frage nach Ursachen und womöglich rechtfertigenden Gründen der betreffenden Bauchgefühle auf.

3. Warum soviel Abwehr gegen HFT?

Angesichts der vorangehenden Überlegungen ist das Ausmaß der Empörung über den HFT, das wir zumindest in den USA zu verzeichnen haben, eher überraschend. Wenn HTF Großanlegern in die Tasche greifen und wir als einzelne Anleger davon nur marginal betroffen sind, warum regen sich so viele von uns darüber so sehr auf?

Vielleicht ist es nützlich, den Vergleich zum Doping im Radsport zu ziehen. Auch darüber regen sich viele Menschen  auf, denen es doch eigentlich ziemlich gleichgültig sein kann, wenn die Sportler zu immer neuen Tricks greifen, um sich Vorteile in der Konkurrenz mit anderen zu verschaffen. Für die externen Betrachter des Spektakels ist es eher gleichgültig, wie die teilweise absurden Leistungen der Protagonisten zustande kommen. Trotzdem gibt es eine breite öffentliche Unterstützung für Eingriffe des Staates, der Doping mit den Mitteln des Strafrechts bekämpfen soll. Wo genau liegt hier das öffentliche Interesse?

Es könnte sein, dass wir als Radsportzuschauer weniger Genuss aus dem Zuschauen gewinnen. Die Qualität des genossenen Spektakels wird reduziert. Wir ärgern uns darüber ebenso wie über andere Täuschungen, weil wir „merkwürdigerweise“ ein intrinsisches Interesse an Wahrhaftigkeit nehmen. Trotzdem ist das öffentliche Interesse an einem „sauberen Radsport“ wenig einsichtig. Es steht den Bürgern frei, den Radsport ohne große Einbuße eigener Lebensqualität zu ignorieren.

Analog könnten wir einfach den Teil des Börsengeschehens, der vom HFT organisiert wird, ignorieren. Denn direkt betroffen sind wir als normale Bürger, wenn überhaupt, nur im Bereich von Cent-Beträgen. Im übrigen scheint die Börse unbeeindruckt wie die Tour de France über Berg und Tal zu rollen.

Wir machen uns trotzdem intuitiv anscheinend Sorgen, wenn die Fairness des Wettbewerbs gefährdet scheint. Selbst in Bereichen, die sie wenig angehen, regen sich viele von uns als zunächst „unparteiische“ Zuschauer über Unfairness auf und nehmen Partei für jene, die Opfer von unfairen Ausbeutungsstrategien sind. Im Sport mit seinem hohen öffentlichen Identifikationswert kann man verstehen, dass es zu einer gewissen öffentlichen Aufgeregtheit kommt. Man kann wegen der Vorbildfunktion des Sports ein indirektes öffentliches Interesse daran erkennen, dass es im Sport fair zugeht. Aber ist das ein guter Grudn für strafrechtliche Interventionen?

Im Falle von weitgehend anonymen Großanlegern, die kaum den Kultstatus von Sportgrößen haben, ist es jedenfalls unplausibel die rechtliche Durchsetzung von Fairness aus symbolpolitischen Gründen zu verlangen. Dass die meisten Bürger ein mitfühlendes Interesse daran nehmen, dass besonders reiche Großanleger nicht zum Opfer der unfairen Praktiken von Hochfrequenzhändlern werden, scheint angesichts des allgemeinen Ressentiments gegen „die Reichen“ ohnehin ziemlich weit hergeholt.

Generelle, vor allem auch religiös nach wie vor unterfütterte Vorurteile dagegen, durch bloßen Handel Geld zu verdienen, dürften mit einiger Sicherheit verstärkt gegen den HFT wirken. Diese Art von Handel scheint mit „ehrlicher Arbeit“ nichts mehr zu tun zu haben. Computer-Programme müssen die Arbeit tun, weil die Vorgänge für menschliche Entscheider wegen ihrer Geschwindigkeit in menschlicher Zeit nicht mehr steuerbar sind. Aber ist das ein guter Grund für Staatsinterventionen?

Es geht vermutlich nicht nur um „ehrliche Arbeit“, sondern um eine andere, ernstere Art des Unbehagens gegenüber einer automatisierten Welt. Das Unbehagen dagegen, dass HFT auf der Basis von Computerprogrammen vollzogen wird und damit etwa das Börsengeschehen nur noch sehr indirekt von menschlichen Entscheidern verantwortet wird, entspricht dem Unbehagen, das viele von uns dagegen empfinden, mit automatischen Zubringerzügen zwischen Flugzeugterminals transportiert zu werden. Flugzeuge, die „automatisch“ – ohne Piloten – womöglich sicherer fliegen als mit Piloteneingriff, würden viele ablehnen – und zwar selbst dann, wenn es einen Sicherheitsgewinn darstellt, sich dieser Einrichtungen zu bedienen.

Wieweit die intuitive Ablehnung der Automatisierung komplexer Vorgänge eine rationale Rechtfertigung hat, scheint offen. Es gibt aber in jedem Falle eine berechtigte Skepsis gegenüber einer Komplexität, die von Menschen nicht mehr bewußt gesteuert wird. HFT mit komplexen Netzwerken von Computern, die in Millisekunden aufgrund vorprogrammierter Entscheidungsregeln große Finanzströme bewegen, mögen im Schnitt bestens und robust funktionieren. Aber können wir als Menschen noch eingreifen, wenn unvorhergesehene lawinenartige Effekte durch Fehler oder auch durch wechselseitige Beeinflussung entstehen?

Was durch die Interaktion vieler komplexer Programme geschehen kann, läßt sich nur schwer voraussehen und wir tun vermutlich gut daran, bestimmte Sicherungen in das System so einzubauen, dass es durch menschliche Intervention gestoppt und ohne größere Verluste nach einer Unterbrechung wieder in Gang gesetzt werden kann. Die Unkontrollierbarkeit großer Märkte als ganzer ist einerseits erwünscht, weil es einzelne Personen und Gruppen von Personen insoweit entmachtet, Machtlosigkeit gegenüber Katastrophen des Gesamtsystems ist aber nicht erwünscht. Diese Gefahren bedürfen der genauen wissenschaftlichen Untersuchung. Hier stellen sich die eigentlichen Fragen der Ethik des Risikomanagements und der Risikokommunikation und nicht im Rahmen der tagespolitisch im Vordergrund stehenden Verteilungs- und Fairnessfragen.

4. Steuern, um zu steuern?

Soweit eine Transaktionssteuer die Transaktionen des HFT unattraktiv werden ließe, würde sie die privaten Einnahmen der HFT Händler teilweise in öffentliche Einnahmen überführen. Das trifft begreiflicher Weise auf deren Widerstand. Darauf sollten wir als Allgemeinheit wenig geben. Das entbindet uns aber nicht von der Pflicht, uns mit möglichen anderweitigen Wirkungen einer Transaktionssteuer zu befassen. Wenn das Aufkommen aus den Transaktionen des HFT verschwinden sollte, weil dieser aufgrund der Steuern zum Erliegen käme, müßte man dem zunächst keine wirtschaftspolitische Träne nachweinen. Wenn die durch automatisierten Handel erhöhte Gefahr, dass beispielsweise eine plötzliche schlechte Nachricht zu einem sich selbst verstärkenden Stampede, einer Kaskade von Verkaufsaufträgen führt, weil automatisierte Programme jenseits aller menschlichen Eingriffe in Millisekunden agieren, reduziert werden kann, ist das gewiss ebenfalls positiv zu werten.

Darüber hinaus stellen sich grundlegende Fragen dazu, wie wir das Marktgeschehen auf Kapitalmärkten transparent gestalten und im Unglücksfall auch beherrschbar werden lassen können. Überlegungen zu zentralen rechtlichen Monopolen, über die legitime den Schutz der Rechtsordnung genießende Transaktionen zu bestimmten Zeitpunkten abgewickelt werden müssen, sind zumindest zu erwägen. Bei allen intuitiven Einwänden, die man gegen solche (Designer) Mechanismen haben mag, ist doch zuzugestehen, dass konstruierte Plattformen wie eBay uns zeigen, wie gut so etwas in anderen Bereichen funktionieren kann.

 

Literatur

Lewis, Michael, „Flash Boys“, Campus 2014

Weber, Martin, „Genial einfach investieren“, Campus 2007

Zook, Matthew and Grote, Michael H., The Microgeographies of Global Finance: High Frequency Trading and the Construction of Information Inequality (2014). http://ssrn.com/abstract=2401030

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