Nur relativ besser

Die wirtschaftliche Lage hat sich in Deutschland in den letzten Monaten wieder verbessert. Gleichwohl befinden wir uns in der stärksten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Die gesamtwirtschaftliche Leistung lag in realer Rechnung im Jahresverlauf um 5 Prozent unter dem Vorjahresniveau. Nimmt man die Industrieproduktion als Maßstab, dann klafft im Vergleich mit 2008 sogar ein Loch von über 20 Prozent.  Noch haben die Nachfrage- und Produktionseinbrüche den Arbeitsmarkt nicht mit voller Wucht erreicht. Mit einer gewissen Verzögerung wird die Krise auch den Arbeitsmarkt erreichen. Allerdings nicht in dem Ausmaß, wie es noch vor wenigen Monaten für möglich gehalten wurde. Für den Jahresdurchschnitt 2010 wird mit einer Arbeitslosigkeit von 4,2 Millionen Personen gerechnet. Die Krise wirft den deutschen Arbeitsmarkt um einige Jahre zurück, die Beeinträchtigungen der Jahre 2003 bis 2005 – mit mehr als 5 Millionen registrierten Arbeitslosen – sind derzeit jedoch nicht zu erwarten.

Der Verlauf einiger ökonomischer Indikatoren löst im Auf und Ab der Konjunktur regelmäßig Verwirrung aus. Ein üblicher Verdächtiger ist die sogenannte Lohnquote, die vor allem von Gewerkschaftsfunktionären immer wieder gerne in Verteilungsdiskussionen herangezogen wird. Dabei handelt es sich um den Anteil der Arbeitsentgelte der abhängig Beschäftigten am Volkseinkommen. Der restliche Teil des Volkseinkommens umfasst die gesamten Unternehmens- und Vermögenseinkommen sowie die Arbeitseinkommen der Selbstständigen.

Nach ersten Schätzungen – denen die Prognosen staatlich finanzierter Forschungsinstitute zugrunde liegen – dürfte die Lohnquote im letzten Jahr einen gewaltigen Sprung nach oben machen. Lag sie im Jahr 2008 mit 65 Prozent noch nahe am historischen Tiefpunkt (bezogen auf die Zeit in Deutschland seit dem Jahr 1991), so dürfte sie bis Ende 2009 auf 69 Prozent gestiegen sein (Abbildung). Einen so gewaltigen Sprung gab es in Deutschland seit dem Jahr 1950 nicht.


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Gemäß diesem Indikator dürfte sich also die Verteilungsdiskussion in diesem Jahr merklich entspannen – den Arbeitnehmern geht es auf den ersten Blick schließlich erheblich besser. Doch dieser Befund gilt nur relativ, und er ist auch ein gewohntes Bild in schlechten Zeiten: Die Lohnquote reagiert generell sensibel auf die wirtschaftliche Lage. Mitte der 1970er-Jahre und Anfang der 1980er-Jahre stieg die Lohnquote in Westdeutschland im Gefolge der damaligen Ölpreiskrisen stark an: im Jahr 1974 um 1,9 Prozentpunkte und im Jahr 1980 um 2,3 Prozentpunkte. Auch der Höhepunkt in Deutschland im Krisenjahr 1993 weist darauf hin, dass die Lohnquote besonders in konjunkturell schlechten Zeiten merklich zulegt. Während die Unternehmensgewinne und Kapitaleinkommen in einer Abschwungphase sinken, bleiben die Arbeitseinkommen meist relativ stabil. Das liegt daran, dass die Unternehmen versuchen, die Beschäftigung zunächst einmal aufrechtzuerhalten. Entsprechend steigt der Anteil der Einkommen aus unselbstständiger Arbeit. Der starke Anstieg der Lohnquote im Jahr 2009 resultiert daraus, dass die Unternehmens- und Vermögenseinkommen um schätzungsweise gut 17 Prozent gegenüber dem Vorjahr einbrachen. Die Arbeitseinkommen sanken – vor allem wegen der bereits rückläufigen Beschäftigung – dagegen nur um knapp 1 Prozent.

Anders verhält es sich dann im Aufschwung. In wirtschaftlich besser werdenden Zeiten verschlechtert sich oftmals die Lohnquote – begleitet vom Wehklagen der Gewerkschaften. Die Beschäftigung und damit die Arbeitseinkommen kommen erst zeitverzögert in Schwung, während sich die Gewinnsituation der Unternehmen und die Kapitaleinkommen der Haushalte bereits erholen. Die Verschiebung der Verteilungsrelation zugunsten der Gewinn- und Vermögenseinkommen ist im beginnenden Aufschwung eine Folge höherer Produktivitätssteigerungen. Die wieder anziehende Produktion löst bei einer noch unzureichenden Auslastung des Kapitalstocks und der Belegschaft einen relativ hohen Produktivitätszuwachs aus. Außerdem wirken die Umstrukturierungen im Gefolge der vorangegangenen Rezession.

Der deutliche Rückgang der Lohnquote in Deutschland im Zeitraum 2003 bis 2006 wirft in diesem Zusammenhang gleichwohl die Frage auf, ob dies die Folge konjunktureller Einflüsse oder auch das Ergebnis von strukturellen Veränderungen und Reformen war. Arbeitsmarktinstitutionen und ihre Veränderungen beeinflussen die Einkommensverteilung in einer Volkswirtschaft – zum Beispiel über ihre Auswirkungen auf die Beschäftigung. Wie in einem Aufschwung üblich sind die Unternehmens- und Vermögenseinkommen auf Basis der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen deutlich angestiegen. Die Beschäftigung kam mit deutlicher Verzögerung in Schwung – und zwar kräftig. Der Rückgang der Lohnquote hängt auch damit zusammen, dass in dieser Zeit in Deutschland ein für hiesige Verhältnisse hohes Maß an Lohnmoderation zu beobachten war. Dies kann zum Beispiel auch an der Entwicklung der Lohnstückkosten gezeigt werden, in denen sich die Veränderungen der Arbeitskosten und die der Produktivität des Faktors Arbeit niederschlagen.

Die moderate Lohnpolitik hat in Verbindung mit den Arbeitsmarktreformen hierzulande seit dem letzten Beschäftigungstiefpunkt im Jahr 2003 aber auch das Entstehen von deutlich über 1,6 Millionen neuen Arbeitsplätzen ermöglicht – davon mehr als 1,2 Millionen neuen Beschäftigungsmöglichkeiten von Arbeitnehmern. Die Anzahl der Arbeitslosen war seit dem Rekordwert von fast 4,9 Millionen Personen im Jahresdurchschnitt 2005 auf gut 3,2 Millionen im Jahresdurchschnitt 2008 gesunken.

Diese Entwicklung steht im Kontrast zur langfristigen Entwicklung in Westdeutschland und später auch in Deutschland, die von einer mehr oder weniger stabilen Lohnquote gekennzeichnet war. Die Lohnquote bewegte sich im Zeitraum 1991 bis 2003 in einer relativ engen Bandbreite von 70 bis 72 Prozent (Abbildung). Eine stabile Lohnquote kann auch das Resultat übermäßiger Lohnsteigerungen sein. Der volkswirtschaftliche Preis dafür liegt dann in einem Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die Entwicklung in den letzten Jahren hat dagegen gezeigt, dass eine rückläufige Lohnquote in Zeiten technischer Neuerungen nicht als eine soziale Schieflage interpretiert werden kann. Dies ist der Fall, wenn die rückläufige Lohnquote mit einem Zuwachs an Erwerbstätigkeit und einem Rückgang an Arbeitslosigkeit verbunden ist.

Eine an der Lohnquote nunmehr feststellbare bessere Position der Arbeitnehmer in diesem Jahr muss auch deshalb kritisch hinterfragt werden, weil die abhängig Beschäftigten ebenso unter den einbrechenden Unternehmens- und Vermögenseinkommen leiden: Die abhängig beschäftigten Arbeitnehmer, geschweige denn die privaten Haushalte, beziehen nicht nur Arbeitsentgelt, sondern ihnen fließen auch Kapitaleinkommen zu. Dazu gehören zum Beispiel die Zinsen fürs Sparbuch, die Dividenden für Aktienfonds, die Mieten für die Kellerwohnung.

Die tatsächliche Einkommensposition der Arbeitnehmer als auch der privaten Haushalte wird durch die Lohnquote bei weitem nicht erfasst. Der gewaltige Anstieg der Lohnquote im letzten Jahr sagt eigentlich nichts über die tatsächliche Einkommenslage der privaten Haushalte aus. In guten wie in schlechten Zeiten ist die Lohnquote für sich genommen kein brauchbares Maß für die Bewertung der Einkommensverteilung.

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