Bruno Frey und nicht Willy Brandt hat mich davon überzeugt, dass es gut sei, mehr Demokratie zu wagen. Freys Argumente ziehen in stilisierter Form die Konsequenzen insbesondere aus der schweizerischen Demokratie-Erfahrung. Sie zeigen auf, welche generell positiven Wirkungen von bestimmten Formen demokratischer Organisation auf das politische Leben ausgehen (vgl. auch die Literaturverweise am Ende dieses Beitrags). Nun gibt aktuell die Schweiz möglicherweise Anlass zu Zweifeln, was die zu erwartenden Ergebnisse direkter Demokratie anbelangt. Das Schweizer Volk hat sich mit deutlicher Mehrheit derjenigen, die sich aktiv an der Abstimmung beteiligten, gegen Genehmigungen für den Bau muslimischer Minarette gewandt. Wenn man, wie ich Verfechter von Prinzipien religiöser Toleranz und entsprechender Elemente westlicher Rechtsstaatlichkeit ist, wird man mit diesem Wahlresultat inhaltlich nicht übereinstimmen. Zugleich besteht allerdings überhaupt kein Grund zur Dramatisierung. Denn es handelt sich nicht um das Verbot der Religion selber, sondern nur darum, bestimmte demonstrative Anzeichen für die eigene Religiosität nicht in die Öffentlichkeit tragen zu können. Trotzdem, wenn man Kirchtürme bauen darf, dann sollte man auch Minarette bauen dürfen oder aber beides nicht.
Die Tatsache, dass andere Religionen im Bereich der muslimischen Welt weit stärkeren Einschränkungen unterliegen als diejenigen, die in der Schweiz nun vorgesehen sind, rechtfertigt zwar keinesfalls das schweizer Vorgehen, sie ist jedoch durchaus geeignet, die von außen kommende Kritik aus muslimischen Gesellschaften als unangemessen zurückzuweisen. In den meisten dieser Gesellschaften gibt es typischerweise weder die bürgerliche noch die religiöse Freiheit, wie sie insbesondere die Schweiz kennt. Jedenfalls ist in der Schweiz die Religionsfreiheit in ihrem Kernbestand nicht gefährdet. Es geht nicht um die Frage der Freiheit der Religionsausübung, sondern um die Frage, ob durch die schweizer Volksabstimmung ein schlechtes Licht auf die direkte Demokratie geworfen wird.
1. Frau Präses spricht
Im gemeinsamen Morgenmagazin von ARD und ZDF wurde die Bundestagsabgeordnete der Grünen, Frau Göring-Eckardt – zugleich Präses der Synode der deutschen evangelischen Kirche – zu den Vorgängen in der Schweiz befragt. Die Interviewerin stellte mit Recht fest, dass die schweizer Volksabstimmung für die Grünen und ihre basisdemokratischen Ideale ein gewisses Problem darstellen müsse. Frau Göring-Eckardt reagierte auf die durchaus freundliche Vorhaltung ihrer Gesprächspartnerin mit der verblüffenden Feststellung, die schweizer Abstimmung sei „demokratiefeindlich“ (wiederholt auf der offiziellen EKD web-page, s.u., also nicht nur ein Ausrutscher!).
Man kann gewiss mit sehr guten Gründen gegen das inhaltliche Ergebnis der schweizer Volksabstimmung zum Bau von Minaretten sein. Man kann aber kaum mit dem Argument, dass die Volksabstimmung demokratiefeindlich sei, gegen dieses Ergebnis auftreten. Es handelt sich ohne Zweifel um einen formal tadellosen basisdemokratischen Abstimmungsvorgang. Das Ergebnis ist unwillkommen aber nicht undemokratisch.
2. Moralische Verbindlichkeit der Demokratie?
Für diejenigen, die das inhaltliche Ergebnis ablehnen und zugleich davon ausgehen, dass demokratische Verfahren als solche Legitimationskraft besitzen, gibt es einen moralischen Konflikt. Denn sie weisen einerseits der bloßen Tatsache, dass etwas mehrheitlich gewünscht wird, moralische Legitimationskraft zu. Sie haben angesichts der entgegenstehenden Mehrheit einen Grund, ihre eigene Meinung zumindest zu überdenken. Für denjenigen, der in demokratischen Abstimmungen nur überlegene Verfahren zur Generierung kollektiv verbindlicher Entscheidungen sieht, gibt es dieses moralische Problem nicht. Er fühlt sich zwar als Befürworter demokratischer Abstimmungsverfahren formal-rechtlich an die Beschlüsse gebunden, selbst wenn er sich in der Minderheit befindet. Er glaubt jedoch nicht daran, dass mit der Tatsache, dass eine Mehrheit gefunden wurde, ein Anfangsverdacht auf inhaltliche moralische Richtigkeit gegeben ist. Er spricht den Abstimmungsverfahren formale Legitimationskraft, aber keine substantielle zu.
Jemand könnte sich dennoch aus moralischen Gründen dazu entschließen, gegen einen demokratischen Beschluss Widerstand zu leisten. Dann würde es sich typischerweise zumindest um Akte zivilen Ungehorsams handeln. Das Letztere würde eintreten, wenn er seine abweichende Haltung offen erklären und dann bestimmte Rechtsverletzungen offen begehen würde, um auf die Illegitimität der Beschlüsse zu verweisen. Das würde auf der gleichen Ebene liegen wie der Widerstand gegen andere rechtsstaatlich zu Stande gekommene Normen, Gesetze, Gerichtsbeschlüsse, Verordnungen etc. Es ginge um die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit nicht der Demokratie.
3. Rechtsstaatlichkeit vor Demokratie
Wenn man demokratische Entscheidungsverfahren rein instrumentell als Methoden zur Generierung formal gültiger rechtlicher Normen betrachtet, dann sieht man die betreffenden Verfahren nur als Teil der Rechtsstaatlichkeit und nicht als das Fundament des politisch und moralisch Richtigen an. Die freiheitliche Rechtsstaatlichkeit ist aus dieser Sicht der Demokratie vorgeordnet. Wie der bedeutendste praktische Philosoph des ausgehenden 20. Jahrhunderts, John Rawls, geht man dann davon aus, dass der Schutz freiheitlicher Grundrechte allen anderen Erwägungen vorgeordnet ist – jedenfalls unter Bedingungen mittlerer Knappheit und außerhalb tragischer Extremsituationen. Dieser so genannte „(lexikografische) Vorrang der Freiheit“ grenzt auch die Reichweite demokratischer Abstimmungsverfahren ein. Es geht moralisch um die verfasste Demokratie, die letztlich die Verfassung dem Willen des Volkes vorordnet und nicht darum, dass der Wille des Volkes geschehe.
Gewöhnlich behilft man sich angesichts der potentiellen Spannungen zwischen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie mit schwammigen Formulierungen von einer vorgeblichen Einigkeit aller auf einer übergeordneten Ebene. Auf höchster Ebene sind sich vorgeblich alle über die Grundrechte einig. Diese höhere demokratische Einigkeit begrenzt dann die Möglichkeiten bloß mehrheitliche Einmütigkeit.
Wenn man diesen weitgehend ideologischen Schleier zur Seite wischt, dann bleibt einfach die Tatsache, dass wir aus welchen Gründen auch immer in den westlichen Rechtsstaaten fest etablierte Grundrechtsysteme, die von unabhängigen Gerichten geschützt werden, besitzen. Es sind nicht in allen Staaten Verfassungsgerichte nach amerikanischem Vorbild vorhanden, dennoch gibt es entsprechend starke rechtliche Strukturen in allen westlichen rechtsstaatlichen Demokratie. In allen diesen Systemen ist die Rechtsstaatlichkeit primär und sind die demokratischen Abstimmungsverfahren sekundär. Auch in der Schweiz. Nur gibt es dort mehr Demokratie als anderswo und davon können wir vielleicht etwas lernen.
4. Von der Schweiz lernen?
Was die Schweizer Vorgänge um das Minarett-Verbot anbelangt, so kann man aus ihnen vermutlich die Lehre ziehen, dass das Instrument der Volksinitiative problematisch ist. Das Instrument des Referendums scheint zugleich insgesamt unproblematisch. Bei der Volksinitiative geht auch der inhaltliche Antrag, über den abzustimmen ist, auf eine direkt demokratische Befragung zurück. Im Falle des (obligatorischen oder fakultativen) Referendums handelt es sich hingegen um eine Art Veto gegen Beschlüsse die inhaltlich von den Gremien der repräsentativen Demokratie, also wesentlich den Parlamenten, gefasst wurden. Es ist das Referendum, von dessen Wert Bruno Frey mich überzeugt hat. Als ursprünglichem Gegner direkt-demokratischer Verfahren im Rechtsstaat schien und scheint es mir nun richtig, dass nach parlamentarischen Beschlüssen die Möglichkeit bestehen sollte, durch eine Volksabstimmung gegen die Beschlüsse vorzugehen.
Diese Vorgehensweise führt vor allem auch dazu, dass das Informationsniveau über die betreffende Maßnahme stark ansteigt. Das Referendum entbündelt die programmatischen Pakete, über die wir in den periodischen Wahlen allein abzustimmen vermögen. Es legt ein einziges Problem gleichsam auf den Tisch. Wer dann noch im Freundeskreis oder in seiner Stammkneipe uninformiert bleiben will, „macht sich unmöglich“, wenn er überhaupt nicht mitreden kann. Zwar ist das Gewicht der einzelnen Stimme nach wie vor für den allgemeinen Wahlausgang zu vernachlässigen und insofern gibt es kein Motiv sich zu informieren; dennoch gibt es nun für jeden im Falle einer Volksabstimmung ein von sekundären Anreizen gespeistes Motiv, informiert zu sein. Populistischen Bestrebungen sind von daher bereits gewisse Grenzen gesetzt. Es scheint aber zusätzlich notwendig, dass die Inhalte, über die abgestimmt wird, durch den vorherigen Filter der Beschlussfassung repräsentativer Gremien gegangen sein müssen, will man gegen populistische Ausrutscher gefeit sein.
5. Keine Initiativen, mehr Referenden
Für Initiativen wie diejenige, die zum Schweizer Volksbeschluss gegen die Minarette geführt hat, gilt das angesprochene Argument von der Anhebung des allgemeinen Informationsniveaus ungeachtet des Ergebnisses. Die Bürger der Schweiz haben sich gewiss in einer größeren Anzahl privater Diskussionen eine Meinung über entsprechende Bauverbote gebildet. Als Meinungsbild ist das Resultat der Abstimmung daher sehr wohl von Bedeutung und ernst zu nehmen. Zumindest gibt es Gruppen in der Bevölkerung, die recht intensiv in der betreffenden Frage fühlen.
Über den Zustand des Schweizer Rechtsstaates wäre jedenfalls ich recht besorgt, wenn es sich im vorliegenden Fall um ein Referendum über einen Beschluss des Parlaments gehandelt hätte. Es handelte sich jedoch um die Abstimmung über eine Initiative. Die verbreitete Einführung von Referenden insbesondere über fundamentale ausgabenwirksame Maßnahmen auch in der Bundesrepublik würde jedenfalls ich mir ungeachtet der schweizer Vorgänge nach wie vor wünschen. Denn das würde eine wirksamere Kontrolle insbesondere von Regierungspolitiken erlauben, die bestimmte Partikularinteressen durch die Bündelung in ansonsten intransparenten Parteiprogrammen begünstigen. Die Gefahren, die von Initiativen ausgehen, werden von Referenden vermieden.
Zu dem Thema wäre noch vieles zu sagen, doch muss ich mich hier darauf beschränken auf die Arbeiten des schon mehrfach genannten Bruno Frey und seiner Schüler zu verweisen. Wenn die Schweizer Volksabstimmung zur Folge hätte, dass diese Schriften erneut und vermehrt gelesen würden, so wäre immerhin das positiv. Ein erneutes Nachdenken über die Grundlagen der Demokratie wäre erst recht von Nutzen. Ich vermute nicht nur aus dem gegebenen Anlass, dass dabei Referenden gut und Initiativen schlecht unter den Anhängern des Rechtsstaates westlicher Prägung abschneiden würden. Mehr Referenden einzuführen, wäre ein lohnendes Projekt grundsätzlicher Reform.
Literatur:
Zu Freys Position
Frey, B. und Kirgässner, G. (1993), ‚Diskursethik, Politische Ökonomie und Volksabstimmungen‘, Analyse und Kritik, 15, 129-149.
Baurmann, M. und Kliemt, H. (1993), ,Volksabstimmungen, Verhandlungen und der Schleier der Insignifikanz’, Analyse und Kritik, 15, 150-167
Frau Katrin Göring-Eckardt wird von der EKD selbst zitiert unter: http://www.ekd.de/aktuell_presse/news_2009_11_30_1_kge_referendum_minarette.html
Allgemeiner Hintergrund
Brennan, H. Geoffrey and Lomasky, Loren E. (1993), Democracy and Decision, Cambridge University Press: Cambridge.
Rawls, John (1975), Eine Theorie der Gerechtigkeit, Suhrkamp: Frankfurt.
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Vergessen sollte man bei der Lobhudelei auf die schweizer Form der direkten Demokratie durch Referenden nicht, dass sie dummerweise in der Schweiz dazu geführt haben, dass eine dermaßen große Verhinderungsmacht entstanden ist, dass die Gesetzgebung sich anpassen musste und nur noch selten Gesetze zu Stande bringt die einen großen Wurf (z.b. auf dem Arbeitsmarkt oder in der Sozialgesetzgebung) bringen. Denn die Gesetzentwürfe werden aufgrund der Verhinderungsmacht im Volke (relativ einfaches Einbringen von Splittergruppen gegen ein Gesetz) dermaßen weichgespült, dass sie auf jeden Fall konsensfähig sein. Der Status Quo wird ziemlich unveränderlich. Die Folge für unser Land wären nicht auszudenken, die Schweiz dagegen hat ein dermaßen wirtschaftlichen Vorteil, dass es einfach nicht genügend auffällt.