Die Freien Demokraten sind mit 14,6 Prozent Stimmenanteilen die Gewinner der Bundestagswahl. Wie sie das geschafft haben, bleibt ein Rätsel der Wahlforscher. Kein Wunder, dass sogar die FDP-Wähler selbst rätseln, welche Partei sie am vergangenen Sonntag gewählt haben. Oder wollten sie nur die Sozialdemokraten aus der Regierung heraus halten?
Das Rätsel ist nicht so absurd, wie es klingt. Die FDP hat im Wahlkampf nach Kräften vermieden zu bekennen, wofür sie steht. Bis heute fehlt eine einigermaßen ernst zunehmende Deutung der Finanzkrise von Seiten der liberalen Partei. Das „Deutschlandprogramm“ enthält – bis auf ein paar Standardformeln – dazu nichts Substantielles. Die FDP muss es sich deshalb auch gefallen lassen, dass erste Kommentare nach dem Wahlabend (z.B. vom Kollegen Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung am 28. September) mit Unverständnis und unter Beschimpfung der Wähler zu Protokoll gaben, das nach diesem Krisenjahr des Kapitalismus eine pro-kapitalistische Partei mit Stimmengewinnen und nicht, wie zu erwarten, mit Stimmenverlusten bedacht wurde. Und sie muss zu Recht befürchten, bei der nächsten Wahl wieder in ihre Nische einstelliger Stimmergebnisse zurück zu fallen.
Dauerhaften Erfolg verspräche nur der mutige Schritt von einer Wirtschafts- zu einer Marktpartei? Was im Gebrauch der Umgangssprache sich wie ein Synonym anhört, macht in Wirklichkeit einen großen Unterschied. Worin liegt der Unterschied zwischen einer Wirtschafts- und einer Marktpartei? Eine Wirtschaftspartei wird vor allem die Interessen der Unternehmen und der Unternehmer vertreten. Also: Flexible Löhne, wenig oder gar keinen Kündigungsschutz propagieren, niedrige Unternehmens- und Erbschaftssteuern fordern und darauf achten, dass sich die Umweltauflagen für die Wirtschaft in engen Grenzen halten. Vieles, was aus der FDP zu hören ist, klingt genau so. Manches klingt noch schlimmer: Während der Widerstand gegen Mindestlöhne bei den Liberalen stets erwartbar groß ist, bleibt der Widerspruch gegen die Honorarordnungen der Ärzte oder Rechtsanwälte in der Regel aus. Im Gegenteil: Die FDP stimmte sogar ein in die Klage bayerischer Ärzte über ihre geschrumpften Vergütungen. Die ihren Markt abschottenden Gesetzesprivilegien der Apotheker oder der zünftige Protektionismus der Kammern treffen selten auf Kritik aus FDP-Kreisen. Das alles ist das typische Verhalten einer Wirtschaftspartei, die ihre Nische pflegt, weil sie auf die Stimmen der Schutzbefohlenen hofft. Politisch ist das Verhalten verständlich. Damit bleiben die Liberalen aber auf immer eine Klientelpartei.
Im Unterschied zu einer Wirtschaftspartei wäre das Programm einer Marktpartei viel weiter gespannt. Die Marktpartei plädiert nicht nur für freies Unternehmertum, sondern auch für Regeln und Politiken des freien Marktzugangs und für ein „Level playing field“, das eine faire Wettbewerbsordnung begründet. Die schlimmste Bedrohung freier Märkte kommt nicht von den Sozialisten, sondern von den Kapitalisten, behaupten Raghuram Rajan und Luigi Zingales in ihrem glänzenden Buch „Saving Capitalism from the Capitalists“ (Princeton University Press 2004). Eine Wirtschaftspartei setzt sich für die Interessen der existierenden Unternehmen ein; eine Marktpartei setzt sich für den Wettbewerb ein, also die Interessen der potentiell entstehenden neuen Unternehmen und ihrer Arbeitsplätze. Das heißt, dass Unternehmen vom Markt verschwinden müssen, um Platz zu machen für neue Unternehmen, sobald sie ihre Kunden nicht mehr überzeugen können.
Marktpartei zu sein, bedeutet für liberale Politiker ein hohes Risiko, aber auch eine enorme Chance. Das Risiko heißt: „True capitalism lacks a strong lobby“, wie Zingales in einem schönen neuen Aufsatz über „Capitalism after the Crisis“ im Herbstheft der “National Affairs“ schreibt. Eine Partei, die dem Lobbyismus abschwört, verliert Wählerstimmen genau aus dieser Lobby. Guido Westerwelle und sein Cheflobbyist Rainer Brüderle fürchten diese Drohung der Freiberufler und Unternehmer. Aber wo wäre der Gewinn einer Marktpartei? Es wäre die Idee, dass Kapitalismus kein „rechtes“ oder „neoliberales“ (im Sinne des Kampfbegriffes) Projekt ist, sondern ein Entmachtungsverfahren im Auftrag einer freiheitlichen Meritokratie. Eine Wirtschaftspartei spricht nur die wenigen an; eine Marktpartei spricht potentiell alle an. Sie könnte „Volkspartei“ werden, und hier gibt es neuerdings offenbar eine Marktlücke.
Erst mit dem Bekenntnis zur Marktpartei könnte die FDP im Übrigen den Versuch einer überzeugenden Antwort auf die Finanzkrise antreten, den sie der Öffentlichkeit bis heute schuldig geblieben ist. Denn eine Marktpartei ist eben nicht dazu da, Unternehmen zu retten. Wo aber blieb der Aufschrei der FDP gegen die Opel-Rettung? Als Regierungspartner in Hessen und NRW meinte man sich diesen Widerstand nicht leisten zu können. Was tut die FDP dafür, dass in der nächsten Krise nicht abermals die Verluste der Industrieunternehmen und Banken vom Steuerzahler sozialisiert werden müssen, nachdem die Gewinne vorher satt eingestrichen wurden. Hier wäre vor allem ein Wort fällig über geregelte Untergangsszenarien für Banken (ein geordnetes Insolvenzrecht), welches mit dem häufig geplapperten Gedanken der Haftung ernst macht. Will die FDP beweisen, dass es ihr nicht nur um Pöstchen („Wir mussten jetzt elf Jahre auf die Teilhaber der Macht warten“) und Rückendeckung für Firmen geht, wird sie den Kapitalismus als Gerechtigkeitsprojekt präsentieren müssen, um damit – spätestens bei der nächsten Wahl – den Linken den Wind aus den Segeln zu nehmen, die ihre Neujustierung als Arbeit an der „sozialen Gerechtigkeit“ ankündigen (vgl. meinen Blogeintrag „Warum Liberale gute Linke sind?“ vom 12. Juli 2008)
- Ordnungspolitische Denker heute (3)
Was wir von Wilhelm Röpke lernen sollten – und was lieber nicht. - 26. Januar 2014 - Über den Umgang mit Unsicherheit und Offenheit
Erfahrungen eines Wirtschaftsjournalisten nach fünf Jahren Finanz- und Wirtschaftskrise - 29. Oktober 2013 - Ungleichheit heute (15)
Ungleichheit und Gerechtigkeit: Was hat das miteinander zu tun? - 2. August 2013
Was mich bei aller Sympathie für das Grundanliegen des Beitrags etwas verwirrt: Die im ersten Satz genannten Forderungen sind also „schlimm“. Aber würde der Verzicht auf sie nicht eher die existierenden Unternehmen begünstigen, die sich mit den aktuellen Gegebenheiten irgendwie arrangieren konnten und die hohe Auflagen sowie staatliche Reglementierung gut als Abwehr für neue Konkurrenz gebrauchen können?
Bisher hatte ich auch immer gedacht, der Widerstand gegen Mindestlöhne speise sich a) aus einer Sorge um Arbeitsplätze und b) aus dem Willen, den Wettbewerb zu befördern. Auch hier gilt: Die aktuellen Platzhirschen, die gut mit der Regierung können, die haben gegen den Mindestlohn nicht nur nichts einzuwenden, die begrüßen ihn sogar. Wäre ja noch schöner, wenn andere weniger für die gleiche Leistung verlangen könnten.
„Hier wäre vor allem ein Wort fällig über geregelte Untergangsszenarien für Banken (ein geordnetes Insolvenzrecht), welches mit dem häufig geplapperten Gedanken der Haftung ernst macht.“
Der Ansatz bzw. die Problemstellung ist in jedem Fall einer der wichtigsten Diskurse, den man unter allen Umständen führen müsste. Ich habe im Wahlkampf allerdings bis auf diesen relativ sinnfreien (Stichwort: unverbindlich) Pittsburgh-Bericht und Placebo-Diskussionen über Managergehälter wenig gehört, auch nicht von der FDP.
Ihre Forderung nach einem geordneten Insolvenzrecht greift aber imho viel zu kurz. Denn selbst das beste Insolvenzrecht ist an dem Punkt mit seinem Latein am Ende, an welchem die richtig großen MFI’s gleichzeitig zu kippen drohen und damit eine Lawine der Zahlungsunfähigkeit zu rollen beginnt, die ohne Intervention ins game over mündet. Intervention muss hier nicht unabdingbar für staatliches Handeln stehen, es könnte auch, spieltheoretisch betrachtet, Kooperation der Marktteilnehmer bedeuten. Beide Operationen sind aber nach wie vor ‚koordiniert‘ und entstammen nicht dem Prozesskalkül einer von Rechtsseite reglementierten Marktwirtschaft.
Gegen „too-big-to-fail“-Unternehmen müssten eigentlich Liberale entschieden opponieren. Aber eben nicht, indem Sie mehr, bessere, effizientere, …, Regulierung fordern, sondern indem Sie – den Kern des Problems erkennend – dafür eintreten, dass
1. Unternehmen mit dieser Eigenschaft nicht entstehen dürfen,
2. bestehende „too-big-to-fail“-Unternehmen in mehrere, nicht-kooperierende Teile zerschlagen werden.
Abgesehen von der politischen Durchsetzbarkeit, leiten sich beide aus der Spieltheorie, aber auch dem Liberalen Urmantra namens „Wettbewerb“ ab, dem ich (wie viele andere) in weiten Teilen bejahend gegenüberstehe. Aus politischer Perspektive kann man obige Punkte aus dem ebenfalls liberalen Willen ableiten, dass es möglichst selten zu Ereignissen kommen soll, nach deren Eintreten der borrower of last resort seinem Namen alle Ehre macht (evtl. machen muss).
@Rayson: Das Problem ist der sog. Vulgär-Liberalismus. Gegen Mindestlöhne zu sein und Sozialhilfe zu kürzen, andrerseits aber für das Apothekenmonopol, den Kammernzwang und Subventionen zu sein, ist GROTESK. Und insofern diese Vorschläge „schlimm“ obwohl natürlich auch m.E. „richtig“.
Wer einseitig nur Arbeitnehmerrechte beschneidet und die Macht der Gewerkschaften zurückdrängt, die Privilegien Anderer aus Lobbygründen jedoch verteidigt, schadet der Idee des Liberalismus/Kapitalismus enorm und kann dafür nicht genug kritisiert werden.
Die FDP kneift
Anmerkungen, zehn Tage später, zum Lauf der Dinge und zu einigen Kommentaren
1. Nach einer Woche Koalitionsverhandlungen muss ich meine Bemerkungen vom 2. Oktober („Kneift die FDP“?) korrigieren und zugleich zuspitzen. Dass die FDP eine Pro-Markt-Partei sein will, ist auch weiterhin nirgends zu erkennen. Die Chance, sich auf diese Weise als „linke“ Gerechtigkeitspartei zu profilieren, wird sie ungenutzt verschenken. Aber auch meine Angst, sie könnte sich allzu deutliche als klientelistische Pro-Business-Partei aufspielen, erweist sich als unbegründet. Denn es ist noch viel schlimmer gekommen: Die Liberalen mischen jetzt mit im Preisausschreiben zur Frage „Wer sind die besten Sozialdemokraten?“. Nur so ist zu erklären, warum die FDP den Subventionswettbewerb um familienpolitische Wohltaten anheizt oder sich um das Schonvermögen der Hartz-IV-Empfänger sorgt. Da ist es dann auch nur konsequent, dass der Finanzexperte Hermann Otto Solms die Bürger darauf vorbereitet, sein Versprechen niedriger Steuern besser nicht so ernst zu nehmen. Das ist die konsequente Umkehrung der bisherigen Linie: Statt Subventionen zu streichen, um Spielräume für mehr Freiheit (also Steuersenkungen) zu schaffen, wird der Förderzoo ausgeweitet (woher kommt das Geld?) und die Versprechen niedriger Steuern auf den Sanktnimmerleinstag vertagt.
2. Sich nicht als Pro-Market-Partei zu profilieren, wird sich rächen. Denn die FDP bleibt damit sträflich eine Antwort schuldig auf den sich wiederholenden Vorwurf, sie sei jene Gruppierung, die die Finanzkrise durch ihre neoliberale Ideologie vorbereitet habe und also dafür verantwortlich, dass jetzt die Verluste der Privaten durch den Steuerzahler sozialisiert werden müssen. Den Eindruck hätte sie korrigieren können, indem sie Opel-Rettung oder HRE-Zwangsverstaatlichung aufgehalten hätte. Es ist schon ziemlich schändlich, dass die FDP – außer ein paar ordnungspolitischen Gemeinplätzen – zur Aufarbeitung der Krise nichts beizutragen hatte. Zur Frage, ob und wie viel Keynes nötig ist, war nichts zu hören. Der sogenannten Opel-Rettung hat man zugestimmt, schließlich will man in NRW, Hessen und Rheinland-Pfalz mitregieren.
3. Daran schließt sich eine Bemerkung an zum Kommentar von „bommel“. Tatsächlich müsste es den Schweiß der Liberalen wert sein, darüber nachzudenken, wie sich „too big to fail“ künftig vermeiden lässt. Mit Verweis auf Justus Haucap („Systemrelevanz als Kriterium der Fusionskontrolle“) und Raghuram G. Rajan (Insolvenzordnung für Banken und Hybridanleihen zur raschen Rekapitalisierung) habe ich dazu in einem Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung („Big-Burger-Banken“ vom 2. Oktober 2009) einige Anmerkungen gemacht. Rajan gehört zusammen mit Luigi Zingales zur Gruppe jener Liberalen, die den Kapitalismus vor den Kapitalisten retten wollen. Statt der Steuerbürger müssten künftig nicht nur die Aktionäre der Banken, sondern auch die Gläubiger zur Verantwortung gezogen werden.
4. „Rayson“ hat mich zu Recht einer sprachlichen Schludrigkeit überführt: Tatsächlich ist es nicht schlimm, gegen Mindestlöhne etc zu sein. Es ist nur schlimm, dann nicht auch gegen Apothekerprivilegien und Ärztehonorarordnungen zu sein. Und es ist noch schlimmer, aus durchschaubaren Gründen ins Lager der Sozialdemokraten zu wechseln.