Neuer Paternalismus in der Praxis
Unspektakulär, aber trotzdem problematisch

Das Social and Behavioral Sciences Team (SBST) der amerikanischen Bundesregierung bemüht sich, ähnlich wie eine kürzlich für das Bundeskanzleramt rekrutierte Gruppe, die Regierung mit verhaltensökonomischem und psychologischem Wissen zu unterstützen. Die Amerikaner sind dabei deutlich vom Forschungsprogramm des sogenannten „liberalen Paternalismus“ inspiriert. Diesem geht es darum, durch eine gezielte Gestaltung von Entscheidungssituationen die betroffenen Individuen zu solchen Entscheidungen zu bewegen, die der paternalistische Planer für richtig hält.

Vor wenigen Wochen hat das SBST seinen Jahresbericht veröffentlicht, der einige Einblicke in die Arbeit der Verhaltenswissenschaftler gibt. Interessant ist, daß zunächst darauf hingewiesen wird, daß es bei den bisherigen Ansätzen des SBST um einen „proof of concept“ geht. Man will zeigen, daß verhaltensökonomisch fundierte Politik grundsätzlich funktioniert. Was daraus folgt, wird man sehen. Es sei aber an die Aussage von Bundesjustizminister Heiko Maas erinnert, der zu Beginn dieses Jahres sagte, daß er diese Methode für die Politik interessant fände und jetzt einfach einmal ausprobieren wolle. Die politischen Praktiker haben ein neues Spielzeug, und jetzt wollen sie damit spielen.

Die Anwendungsfälle, die man im Jahresbericht des SBST findet, sind daher bisher auch nicht besonders spektakulär, denn es geht ja nur um ein „proof of concept“. Dennoch erlauben sie es bereits, einige Probleme des Ansatzes zu illustrieren. Ein Beispiel: Zivile Angestellte der amerikanischen Bundesregierung werden automatisch mit Unterzeichnung des Arbeitsvertrages in einen Sparplan für ihre Altersvorsorge aufgenommen, können aber herausoptieren, wenn sie wollen. Militärangehörige dagegen werden nicht automatisch aufgenommen, können aber hineinoptieren, wenn sie wollen. Die Folge ist, daß im April 2015 87% der zivilen und 42% der militärischen Angestellten tatsächlich Mitglied waren.

Nun wurden die übrigen 58% der Militärangehörigen, die bisher nicht Mitglied waren, in verschiedene Gruppen unterteilt. Eine Gruppe erhielt gar keine Erinnerungsnachricht, alle anderen Gruppen erhielten unterschiedlich gestaltete E-Mails, die sie an die Möglichkeit des Sparplans erinnern sollten. Von denen, die gar keine Mails erhielten, haben sich dennoch 1,14% im Mai 2015 in den Sparplan eingeschrieben. Von denen, die eine neutrale Standardmail erhielten, haben es 1,56% nachgeholt. Und von denen, die das vom SBST so genannte „Top-Treatment“ erfahren haben, waren es 2,1%.

Der (eher qualitativ als quantitativ) interessante Sprung ist derjenige von der Standard-Mail zum „Top-Treatment„. Es kann ja tatsächlich sein, daß jemand, der einen anstrengenden Arbeitstag hat, das Hineinoptieren in den Sparplan vergißt, obwohl er diesen eigentlich für sinnvoll hält. Daher ist eine neutrale Erinnerungsmail zweifellos hilfreich und dürfte kaum zu beanstanden sein. Die glücklichen Militärangehörigen im „Top-Treatment“ erhielten dagegen, wie der Jahresbericht auf Seite 7 es formuliert, „emails that incorporated behavioral insights“. In diesen wurde versucht, mit verhaltensökonomischen und psychologischen Erkenntnissen eine Entscheidungsarchitektur zu schaffen, die viele Empfänger dazu bringt, sich für den Sparplan einzuschreiben.

Nun kann man angesichts einer Differenz von 0,54 Prozentpunkten zu den Empfängern der Standardmail eigentlich gelassen abwinken und die Geschichte wegen Irrelevanz begraben, aber es bleibt eben doch ein prinzipieller Einwand: Woher wissen die Mitglieder des SBST, daß der Ansatz, möglichst viele Individuen zur Mitgliedschaft zu bewegen, richtig ist?

Wenn wir nochmal zurück zur Ausgangssituation springen, dann sehen wir, daß sowohl die 87% der zivilen Angestellten als auch die 42% der Militärangehörigen einem Status-quo-Bias unterliegen. Die einen müßten etwas tun, um aus dem System herauszukommen. Vielleicht wollen einige von ihnen das eigentlich, vielleicht wäre es besser für sie, etwa weil sie selbst das Geld erfolgreicher anlegen könnten, oder weil sie eigentlich eine höhere Präferenz für aktuellen Konsum haben. Aber sie sind eben träge. Die anderen müßten ebenso etwas tun, um in das System hineinzukommen, und vielleicht wollen einige von ihnen eigentlich genau dies, aber auch sie sind zu träge, den Papierkram zu erledigen.

Schon dem Studiendesign des SBST liegt ein Vorurteil zugrunde, das nirgends begründet wird. Das Vorurteil lautet: Unser bundesstaatlicher Sparplan ist nicht nur gut, er ist sogar für alle gut, und wir müssen so viele Individuen wie möglich dazu bringen, mitzumachen. Würde man dagegen die verhaltensökonomische Forschung zum Status-quo-Bias ernst nehmen, dann müßte man auch an die zivilen Angestellten Mails verschicken mit der Erinnerung daran, daß sie auch herausoptieren können, wenn sie wollen. Dann könnte man sehen, ob die 87% nicht auch ein wenig abschmelzen. Und auch diese Gruppe könnte zur Kontrolle ein „Top-Treatment“ erhalten, in dem ihr der Ausstieg aus dem System so schmackhaft wie möglich gemacht wird, etwa indem auf großartige alternative Anlagemöglichkeiten auf dem Finanzmarkt hingewiesen wird.

Das Problem mit der aktuellen Welle verhaltensökonomisch inspirierter Politik ist oft gar nicht so sehr das Instrumentarium an und für sich. Das Problem sind die versteckten Werturteile, die nicht selten reine Ideologie sind und auf einer Anmaßung von Wissen durch die paternalistischen Planer beruhen. Wir wissen, was gut für Dich ist: Spare mehr und spare in unseren Systemen, esse weniger und esse Gemüse, abonniere mehr Ökostrom, und fahre Dein Auto so langweilig und beschleunigungsarm, daß Du am Lenkrad auch noch einen nudge zum Wachbleiben brauchst! Manche dieser Dinge mögen für einzelne Bürger persönlich erstrebenswert erscheinen. Für einen liberalen Rechtstaat allerdings liegt die Definition und politische Durchsetzung eines vorbildlichen Lebensstils weit jenseits der Grenzen seiner legitimen Aufgaben.

2 Antworten auf „Neuer Paternalismus in der Praxis
Unspektakulär, aber trotzdem problematisch

  1. OK, wir wollen uns alle nicht von Heiko Maas nudgen lassen, sonst würde wir am Ende alle noch mit so einer komischen Brille auf der Nase rumlaufen. Das sehe ich ein! Ästhetische Kontamination usw….

    Aber: Genudged werden wir aber auch im Supermarkt: Zuckerstangen für die Kleinen und Alkoholfläschchen für die Großen links und rechts im Kassengang. Die billigsten Erdnüsse liegen im Regal immer ganz unten; die teuren in Griffweite. Geschmacklicher Unterschied = Null; wahrscheinlich, sind es die gleichen Erdnüsse.

    Und bei der Telekom unterschreiben wir einen Vertrag, der uns „maximal 16000 kbit/s“ verspricht, obwohl wir in einem Gebiet wohnen, in dem in den nächsten 10 Jahren nicht mehr als 6000 kbit/s verfügbar sind.

    Irgendwie finde ich diese Art von Nudging auch nicht so gut!

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