Ordnungspolitischer Kommentar
Verhaltensforscher im Kanzleramt
Nicht nur wirksam, sondern auch transparent regieren

Vor ungefähr einem Jahr hat das Bundeskanzleramt drei ungewöhnliche Stellen ausgeschrieben: Gesucht wurden Forscher verschiedener Fachrichtungen, die die Bundesregierung dabei unterstützen sollen „wirksam zu regieren“. Presseberichten zufolge haben Anfang des Jahres neue Mitarbeiter, die alle einen psychologischen oder verhaltenswissenschaftlichen Hintergrund haben, die Arbeit im Bundeskanzleramt aufgenommen. Zeit sich zu fragen: Was genau machen diese Leute dort eigentlich?

Informationen zu der Tätigkeit dieses Beraterteams werden bislang nur sehr begrenzt öffentlich. Verschiedene Andeutungen vermitteln jedoch eine Ahnung davon, was sich die Bundesregierung von ihrem Team verspricht. So verwies der stellvertretende Regierungssprecher Georg Streiter vergangenes Jahr auf die wissenschaftliche Erkenntnis, dass „viele Menschen so handeln, dass es ihren eigenen Interessen widerspricht“. Vor diesem Hintergrund sei es Aufgabe des Teams, im Rahmen der Strategie „wirksam regieren“ verhaltensökonomische Techniken auszuprobieren.

Verhaltensökonomische Erkenntnisse in der politischen Praxis

In den letzten Jahren hat sich die Politik in vielen Ländern die Erkenntnisse von Verhaltensforschern zu Nutze gemacht. So gibt es beispielsweise in den USA das „Social and Behavioral Sciences Team“, in Dänemark ein „Mind Lab“ und in Großbritannien das „Behavioural Insights Team“. Letzteres wird von britischen Medien auch als „Nudge Unit“ bezeichnet. Gewählt wurde dieser Name in Anlehnung an das Buch „Nudge – wie man kluge Entscheidungen anstößt“ von Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein. Deren Kernbotschaft ist, dass sich Menschen häufig nicht rational verhalten würden und dass bereits kleine Veränderungen einer Entscheidungssituation („Nudges“) helfen könnten, irrationales Verhalten zu vermeiden.

Die Grundlage für solche Thesen sind verhaltensökonomische Forschungsergebnisse. Verhaltensökonomen versuchen herauszufinden, inwiefern Individuen systematisch anders handeln, als es in den meisten ökonomischen Modellen angenommen wird. Und tatsächlich lassen sich weitverbreitete Verhaltensmuster aufdecken, die – zumindest auf den ersten Blick – nicht unbedingt dem entsprechen, was man von vollständig rationalen Individuen erwarten würde.

Häufig diskutiert wird beispielsweise die Wirkung von „Defaults“, also bestimmten Standards, die das Verhalten beeinflussen. Als Beispiel dient die Organspende: Wissenschaftler haben dokumentiert, dass der Anteil der Bevölkerung, der für eine Organspende zur Verfügung steht, meist bei über 90% liegt, wenn all diejenigen automatisch Spender sind, die nicht ausdrücklich widersprochen haben. Ist die Gesetzeslage in einem Land hingegen so, dass ein Organspendeausweis ausgefüllt werden muss, um zum Spender zu werden, ist der Anteil deutlich niedriger. So wird er beispielsweise für Deutschland auf 12% geschätzt. Wenn man nicht unterstellt, dass sich die Präferenzen hinsichtlich der Organspende in diesem Maße unterscheiden, scheinen Defaults starke Auswirkungen auf individuelle Entscheidungen zu haben.

Ein weiteres Beispiel ist das Sparverhalten bei der privaten Altersvorsorge. Es gibt Hinweise, dass viele Menschen mehr sparen würden, wenn sie zu einem frühen Zeitpunkt einmal entscheiden müssten, wie viel sie zukünftig sparen wollen, als wenn sie jeden Tag eine neue Sparentscheidung treffen. Diese Inkonsistenz wird auf eine übermäßig hohe Wertschätzung für heutigen Konsum gegenüber späterem Konsum zurückgeführt. Die amerikanische Regierung schreibt einen Teil ihrer Mitarbeiter automatisch in freiwillige Sparpläne für die Altersvorsorge ein. Diese sparen mehr als andere Mitarbeiter. Auch hierbei ist der Default relevant: Während die einen von sich aus aktiv dem Sparplan beitreten können, erfordert für die anderen der Austritt eine aktive Handlung.
Man mag sich in diesen Verhaltensmustern mehr oder weniger wiederfinden – Tatsache ist, dass sie sich in der Realität beobachten lassen. So bezweifeln auch die wenigsten Ökonomen, dass sich Menschen nicht immer so verhalten, wie es ein einfaches Modell des „homo oeconomicus“ erwarten lassen würde – auch diejenigen nicht, die dennoch von der Nützlichkeit des Konzeptes überzeugt sind.

Weniger klar ist jedoch, was aus den beobachteten Verhaltensmustern gefolgert werden kann: Ist es vielleicht für viele Menschen mit sehr viel Anstrengung verbunden, über existenzielle Fragen nachzudenken und einen Organspendeausweis auszufüllen? Dann könnte es rational sein, darauf zu verzichten. Fällt es einigen eventuell aus moralischen Gründen schwerer aktiv „Nein“ als „Ja“ zur Organspende zu sagen? Dann wäre es nicht einfach festzustellen, was die eigentliche Präferenz ist. Oder handeln manche am Ende wirklich entgegen der eigenen Präferenzen? Mögliche Erklärungen gibt es viele.

Wünschenswerte Hilfestellung oder gefährliche Manipulation?

Dem „libertären Paternalismus“, wie Sunstein und Thaler ihr Konzept auch nennen, liegt die Annahme zugrunde, dass Menschen sich tatsächlich in vielen Situationen nicht zu ihrem eigenen Besten verhalten. Befürworter des „Nudging“ raten deshalb dazu, solche Situationen so umzugestalten, dass „bessere“ Entscheidungen leichter fallen. Zumal man den Bürgern ja keine bestimmte Entscheidung aufzwingen würde, wenn man lediglich kleine Hilfestellungen gibt. Zugrunde gelegt werden dabei die Präferenzen, die der Mehrheit der Bevölkerung unterstellt werden. So werden beispielweise Strategien entwickelt, die bei einer gesunden Ernährung, einem sportlichen Lebensstil oder eben der Altersvorsorge helfen.

Die Unterstellung, dass Menschen ihren eigenen Präferenzen zuwiderhandeln, verträgt sich allerdings schlecht mit einem liberalen Menschenbild: Solange man davon ausgeht, dass jeder selbst am besten weiß, welche Bedürfnisse und Wünsche er hat, fehlt schlicht der Maßstab, um ein bestimmtes Verhalten irrational zu nennen. Kritiker des libertären Paternalismus lehnen deshalb eine Manipulation des Verhaltens ab. Ob man ein gesundheitsbewusstes, sportliches und sparsames Leben führen wolle, müsse jedem selbst überlassen sein. Niemand könne sich anmaßen, dies für andere zu entscheiden. Zudem sei nicht gesagt, dass mit der Manipulation ausschließlich das Ziel verfolgt wird, die Bürger in deren eigenem Sinne zu beeinflussen. Vielmehr bestünde die Gefahr, dass die Manipulation im Dienste der Interessen anderer erfolgt.

Das vielleicht interessanteste Argument der Befürworter des libertären Paternalismus lautet, dass die Beeinflussung des Verhaltens in vielen Fällen unvermeidbar sei. So gibt es beispielsweise Anhaltspunkte dafür, dass Menschen in Entscheidungssituationen tendenziell die erste Option wählen, die ihnen angeboten wird. Dies kann für die Auswahl zwischen mehreren Gerichten in der Kantine aber auch für ein bürokratisches Formular gelten. Erst angesichts dieser Unvermeidbarkeit ergebe sich die Notwendigkeit, verhaltensökonomische Erkenntnisse in staatliches Handeln zu integrieren.

Nun könnte man argumentieren, dass man – selbst wenn dies für manche Entscheidungssituationen gilt – zumindest Defaults durch offene Fragen ersetzen sollte: Warum nicht einfach jeden Bürger fragen, ob er Organspender sein möchte und eine Antwort erzwingen? Doch auch damit scheint man nicht auf der sicheren Seite zu sein: Studien weisen darauf hin, dass manche Menschen eine Abneigung gegen Entscheidungen als solche haben. Der Zwang eine Entscheidung zu treffen könnte also gegebenenfalls am Ende einige schlechter stellen als der Default.

Transparenz sollte oberste Priorität haben

In einer Demokratie drängt sich die Frage auf, welche Lösungen sich die Bürger von ihren Politikern in solchen Situationen wünschen. Denkbar scheint sowohl, dass einige kleine Hilfestellungen begrüßen würden, als auch dass die Mehrheit jegliche Manipulation des Verhaltens ablehnt. Möglich wäre es schließlich auch, per Zufallsgenerator zu entscheiden, welche Option in einem Formular als erstes genannt wird.

Damit die verschiedenen Meinungen im politischen Prozess Berücksichtigung finden können, müsste die Regierung den Einsatz verhaltensökonomischer Erkenntnisse in jedem Einzelfall zur Diskussion stellen. Wäre die Arbeit der verhaltenswissenschaftlichen Beraterteams vollständig transparent, wäre es möglich, sich über dessen Rolle eine Meinung zu bilden und diese im politischen Prozess zum Ausdruck zu bringen. Eine stärkere Transparenz würde zudem die Wahrscheinlichkeit verringern, dass jemand entgegen seiner Präferenzen von einem Default beeinflusst wird. So würde auch die Gefahr sinken, dass die Manipulation zum Instrument fremder Interessen wird.

Fazit

Die neue Strategie der Bundesregierung, „wirksam zu regieren“, erscheint als solche kaum verwerflich. Wenn dabei zukünftig verhaltensökonomische Erkenntnisse eingesetzt werden sollen, muss das weder unbedingt jeder gut noch unbedingt jeder schlecht finden. Damit jedoch diese Haltungen zum Ausdruck gebracht und damit einzelne Maßnahmen und die damit verbundenen Ziele kritisch hinterfragt werden können, sollte eine solche Strategie transparent und überprüfbar sein. Zukünftig wünschenswert wären also mehr Informationen als die Andeutungen, die sich bislang zur Arbeit der Verhaltensforscher im Bundeskanzleramt finden lassen.

 

Hinweis: Dieser Text ist zugleich als Ausgabe Nr. 11/2015 der Reihe Ordnungspolitischer Kommentar des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln und des Otto-Wolff-Instituts für Wirtschaftsordnung erschienen.

 

Blog-Beiträge zum Thema:

Jan Schnellenbach: Neuer Paternalismus in der Praxis. Unspektakulär, aber trotzdem problematisch

Christian Schubert: „Mehr Psychologie wagen!“ Warum eine psychologisch informierte VWL gute Argumente gegen staatlichen Interventionismus liefert

2 Antworten auf „Ordnungspolitischer Kommentar
Verhaltensforscher im Kanzleramt
Nicht nur wirksam, sondern auch transparent regieren

  1. Gelungener Beitrag zur Versachlichung der Debatte

    Es ist sehr erfreulich, dass die Autorin von einem der führenden ordnungsökonomische ausgerichteten Forschungsinstitute hiermit einen weiteren Beitrag zur Versachlichung der Debatte auch in Deutschland leistet.
    Denn die wissenschaftliche Diskussioni zur verhaltensökonomischen Fundierung von Politik etwa in Großbritannien berücksichtigt die Transparenz- und Überprüfbarkeitsforderung schon länger. Dies wird aber auch in der Diskussion in Deutschland keineswegs etwa von Verfechtern einer stärker verhaltensökonomisch basierten Verbraucherpolitik übersehen (vgl. etwa L.A. Reisch/J. Sandrini: Nudging in der Verbraucherpolitik, Baden-Baden 2015) – auch wenn dies von Kritikern häufig zumindest implizit unterstellt wird. Differenzierte Analysen existieren folglich. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass sie bisher in der Mediendebatte auch angemessen rezipiert werden (vgl. etwa den „Feldzug“ gegen Nudging in mehreren Beiträgen/Interviews in der Zeitschrift NovoArgumente, etwa: http://www.novo-argumente.com/magazin.php/novo_notizen/artikel/0001744). Gerade solche sehr einseitigen Darstellungen scheinen vor allem auf „Bauchgefühlen“ zu basieren und weniger auf einer wissenschaftlich notwendigen Abwägung der Pro- und Contra-Argumente. Es ist daher sehr zu begrüßen, dass der Beitrag von Rebekka Rehm zur weiteren Aufklärung auch hierzulande beiträgt.

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