Am 23. Juni 2016 haben die Briten mit knapper Mehrheit für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union gestimmt. Seitdem herrscht große Verunsicherung über mögliche Folgen dieses Abstimmungsergebnisses, die sich unÂmittelÂbar an den FinanzÂmärkten widerspiegelte und minÂdestens anhalten wird, bis die RahmenbedingunÂgen des Austritts und die GrundlaÂgen für die zukünftigen BezieÂhung zwiÂschen Großbritannien und der EU ausgeÂhandelt sind – sofern Großbritannien denn tatsächlich eiÂnen AusÂtrittsantrag stellen wird.
Die langfristigen Folgen der Entscheidung in GroßbriÂtanÂnien werden dann maßgeblich von dem ErgebÂnis dieÂser Verhandlungen abhängen. Klar ist, dass beide SeiÂten auch zukünftig von guten Beziehungen in vielerlei HinÂsicht profitieren würden. Gute Handelsbeziehungen lassen – allgemein gesprochen – eine effizientere ArbeitsÂteilung und damit mehr Wohlstand erwarten, sowohl für GroßbriÂtannien als auch den Rest der EU. Weitgehende Einigungen, die Freihandel erÂlauben, sind also wünschenswert.
Natürlich ist die Befürchtung groß, dass ein glimpflich ausgehender Austritt Großbritanniens europaskeptischen bis -feindlichen Lagern in anderen Ländern Auftrieb geÂben wird. Daraus folgt aber nicht, dass die EU destruktive Verhandlungen anstreben sollte. AnÂstatt auf schwere ZeiÂten für die Briten und damit auf AbÂschreckung sollte die EU besÂser auf mehr Zufriedenheit in ihren MitgliedsstaaÂten setÂzen.
Subsidiarität ist das Kernprinzip präferenzgerechter PoliÂtik.
Das ist offensichtlich leichter gesagt als getan und jede Veränderung birgt Potenzial für neue Unzufriedenheit. Das gilt insbeÂsondere, weil sich soÂwohl die Ablehnung als auch die ZuÂstimmung, die den europäiÂschen InstituÂtionen entÂgegen gebracht wird, aus ganz unÂterschiedliÂchen WertÂvorstelÂlungen und Ideologien speist.
Dort wo MenÂschen ihÂre unterschiedlichen InÂteressen auf geÂsellschaftlicher Ebene koordinieren wollen, geraten eiÂnige dieser InteresÂsen ins Hintertreffen. Immer wenn EntÂscheidungen nicht einstimmig getroffen werden, gehen sie zwangsläufig zu Lasten von einer oder mehreren unÂterlegenen Minderheiten. Auch wenn deÂmokratische MehrÂheitsentscheidungen ohÂne gute AlternaÂtive bleiben, gehört das zu ihrem Kern.
Um möglichst präferenzgerechte Politik zu ermöglichen, setzen deshalb viele Gesellschaften auf das SubsidiariÂtätsprinzip und damit im Zweifelsfall auf kleine GebietsÂkörÂperschaften. Dafür sprechen nicht nur die geringeren PräÂferenzverfehlungskosten, die Entscheidungen kleinerer Gruppen erwarten lassen, sondern auch die Begrenzung der Macht politiÂscher Entscheidungsträger durch den Wettbewerb zwiÂschen den Gebietskörperschaften, wenn Bürger ihrer UnÂzufriedenheit durch Abwanderung AusÂdruck verleihen können. Unter unsicheren Bedingungen erlauben kleine politische Einheiten zudem, dass sich aus vielen verschieÂdenen politischen Strategien die beste herÂauskristallisiert und die verschiedenen GebietskörperÂschaften voneinander lernen.
Auch die EU hat sich in ihren VertragsÂwerken dem SubÂsidiaritätsprinzip verschrieben. Dessen Verletzung wird jedoch immer wieder kritisiert, beiÂspielsweise mit Blick auf die vielen ProduktregulieÂrungen, die die EU verabÂschiedet hat. Inzwischen könÂnen die nationalen ParlaÂmente Beschwerde einlegen, wenn sie das SubsidiaritätsÂprinzip in europäischen GeÂsetzgebungsproÂzessen verletzt sehen – eine Option, von der bislang relaÂtiv wenig geÂbraucht gemacht wird. Für mehr ZufriedenÂheit mit der euÂropäischen Politik sollte die Kernidee des SubsidiaritätsÂprinzips wieder mehr in den Mittelpunkt der EntscheiÂdungen über Kompetenzen geÂstellt werden.
Ein gemeinsamer Markt braucht gemeinsame Regeln.
Auch wenn vieles für dezentrale Entscheidungen spricht, sind bestimmte öffentliche Aufgaben auf höherer Ebene besser angesiedelt. Das Subsidiaritätsprinzip, wie es den Vertragswerken der EU zu Grunde liegt, ist vereinbar mit einem Tätigwerden auf europäischer Ebene, „sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen MaßÂnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf reÂgionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirkÂlicht werden könÂnen“ (EU-Vertrag, Artikel 5, Absatz 3).
Das gilt für viele Regeln, die den europäischen BinnenÂmarkt betreffen. Genauso wie gut funktionierende Märkte auf nationaler Ebene Regeln brauchen, ist auch dem euroÂpäischen Markt ein stabiler Rahmen zuträglich. Um viele dieser Regeln werden wohl auch die Briten zuÂkünftig nicht herum kommen, wenn sie weiter HandelsÂbeziehunÂgen zu den Mitgliedsstaaten der EU unterhalten wollen. Das gilt vor allem für Regeln, die der StabilisieÂrung des Handels dieÂnen, wie beispielsweise bestimmten DeklaraÂtionspflichten der Hersteller. Auch andere Regeln, die eiÂnen effizienten Binnenmarkt gewährleisten sollen, wie beispielsÂweise WettbewerbsreÂgeln, sind sinnvollerÂweise auf euroÂpäischer Ebene angeÂsiedelt.
Weitere Koordinationserfordernisse ergeben sich daraus, dass die wirtschaftliche Integration inzwischen weit über die Schaffung des Binnenmarktes hinausgeht. Die WähÂrungsunion funktioniert offensichtlich nicht ohne gemeinÂsame Geldpolitik und erfordert darüber hinaus fiskalpoliÂtische Koordination oder sogar supranationale FiskalpoliÂtik.
Aber nicht nur aus der wirtschaftlichen Integration EuroÂpas ergibt sich Koordinationsbedarf, sondern auch aus vielen anderen der großen Herausforderungen, vor denen wir steÂhen. Dazu zählt unter anderem der Schutz des KliÂmas. Auch wenn es sich dabei um ein globales und kein ausschließlich europäisches Problem handelt, sind ZielÂsetzungen auf europäischer Ebene ein Schritt in die richÂtige Richtung. Wie Klimaschutz konkret umgesetzt wird, sollÂte jedoch – ganz im Sinne der Subsidiarität – auf mögÂlichst deÂzentraler Ebene ausprobiert und entschieden werden. KoordiÂnierter Klimaschutz bedeutet also beiÂspielsÂweise gerade nicht, dass es notwendig ist, dass die EU bestimmÂte Glühbirnen verbietet.
Europäische Demokratie stärken!
Im Zuge einer Neuorientierung der EU wird es wichtig sein, klar zwischen den Bereichen zu unÂterscheiden, in denen es unseÂren Lebensverhältnissen zuÂträglich ist, dass Kompetenzen von den Nationalstaaten an die Europäische Union abgeÂgeben werden und solÂchen, über die besser auf niedriger Ebene entschieden wird.
Zur Legitimierung der Entscheidungen auf europäischer Ebene ist eine starke europäische Demokratie GrundvoÂraussetzung. Die einzige direkt von den europäiÂschen Bürgern geÂwählte demokratische Institution ist jeÂdoch das europäische ParÂlament, dessen Stellung im LauÂfe der Zeit zwar gestärkt wurde, aber dessen Einfluss nach wie vor begrenzt ist. Die EuropäÂische KommisÂsion, die in den meisten Fällen Gesetzgebungsverfahren initiiert, spielt hingegen eine sehr starke Rolle. Eine Machtverschiebung hin zum europäischen Parlament könnte das Gefühl vieler Bürger mindern, auf die europäischen Entscheidungen kaum Einfluss nehmen zu können.
Zwar sind an den GeÂsetzgebungsverfahren auch der Rat der Europäischen Union und damit Regierungsvertreter der MitgliedstaaÂten maßgeblich beteiligt. Weil dieser sich aus Vertretern der exekutiven Institutionen der MitÂgliedsstaaÂten zusamÂmenÂsetzt und die Entscheidungen in alltäglichen Fällen nicht durch nationale Parlamente legitimiert werden müsÂsen, ist dies der Gewaltenteilung und daÂmit der demoÂkraÂtischen Kontrolle jedoch nur bedingt zuÂträglich.
Darüber hinaus wird die europäische Demokratie dadurch erschwert, dass sie auf eine so große ÖfÂfentlichkeit angeÂwiesen ist. Wahlen liegt ein KoordinatiÂonsproblem zu Grunde, da es aus individuÂeller Sicht plauÂsibel sein kann, die möglicherweise hohen Kosten einer gut informierten Wahlentscheidung zu vermeiden, wenn diese den WahlÂausgang voraussichtlich nicht maßÂgeblich beeinflusst. In der EU mindert die große Zahl der WahlÂberechtigten das Gefühl, Einfluss nehmen zu könÂnen. GleichÂzeitig erhöht die Komplexität der europäÂischen EntÂscheidungsfinÂdungsprozesse die InformationsÂkosten.
Zur Begrenzung des Handlungsspielraums euÂropäischer EntÂscheidungsträÂger und auch der EinflussÂnahme durch InteÂressensgrupÂpen, wie sie so zahlreich in Brüssel aktiv sind, ist eine hohe Wahlbeteiligung gut inforÂmierter Bürger jeÂdoch eine wichtige Voraussetzung. Um die InÂformationsbeÂschafÂfung zu vereinfachen, sollte TranspaÂrenz in der euroÂpäiÂschen PoliÂtik deshalb einen beÂsonders hohen Stellenwert haÂben. Zudem gilt: Je weniger überÂflüssige GesetzgeÂbungsÂverfahren es gäbe, desto mehr AufmerkÂsamkeit würde wichÂtigen Entscheidungen gelten.
Fazit
Die EU gilt auch als Friedensprojekt. Ihr Bestehen trägt dazu bei, dass Menschen sich vernetzen, austauschen, gegenseitig kennenlernen und zusammenarbeiten. Auch diese Vorteile der EuroÂpäischen Integration sollten nicht unberücksichÂtigt bleiÂben. Das gilt geÂrade desÂhalb, weil alternative EntwickÂlungen, die in den letzÂten Jahrzehnten in Europa hätten stattfinden können, nicht rekonstruierbar sind.
Es gilt nun, gute Lösungen zu finden, falls Großbritannien tatsächlich aus der EU austreten wird, und der UnÂzufriedenheit vieler verbleibender Bürger mit der europäiÂschen Politik sinnvoll zu begegnen. Dafür sind die Wahrung des SubsiÂdiaritätsprinzips und mehr TranspaÂrenz wichtige VorausÂsetzungen.
Hoffentlich wird die Zusammenarbeit zwischen den MitÂgliedern der Europäischen Union und denjenigen, die mögÂlicherÂweise nicht mehr dazugehören, sowie dem Rest der Welt auch zukünftig zu Wohlstand und Frieden beiÂtragen.
Hinweis: Dieser Text ist auch als Ausgabe Nr. 07/2016 der Reihe Ordnungspolitischer Kommentar des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln und des Otto-Wolff-Instituts für Wirtschaftsordnung erschienen.
Beiträge zum Brexit:
Norbert Berthold: 23. Juni 2016: Das Waterloo der Brüsseler Zentralisten
Tim Krieger: Brexit: Englands und Europas Verteilungskonflikte bleiben ungelöst
Jan Schnellenbach: Brexit it is. On the rationality of referenda
Dieter Smeets und Markus Penatzer: Brexit or no Brexit – das ist hier die Frage!
Norbert Berthold: Die Risse in der EU werden größer. Euro, Flüchtlinge, Sezessionen und Brexit
Wolf Schäfer: Brexit: Von der Psychologie der Insellage
Renate Ohr: Quo vadis Europa? Zu den Folgen eines Brexit für die EU
- Ordnungspolitischer Kommentar
Bessere Entscheidungen mit weniger Informationen?
Gute Verbraucherschutzpolitik sieht anders aus - 11. August 2017 - Ordnungspolitischer Kommentar
Brexit – und jetzt? - 11. Juli 2016 - Ordnungspolitischer Kommentar
Verhaltensforscher im Kanzleramt
Nicht nur wirksam, sondern auch transparent regieren - 4. November 2015
Eine Antwort auf „Ordnungspolitischer Kommentar
Brexit – und jetzt?“