Böhmermann, Jenninger und die deutsche Vergangenheit

Die an grotesker Übertreibung kaum zu überbietenden Reaktionen türkischer Regierungskreise auf Böhmermanns Provokation, lassen dieser politisches Gewicht zukommen. Die türkische Seite führte einer breiteren Öffentlichkeit vor, wie weit der Weg der türkischen Regierung bis zu einem europäischen Verständnis von Meinungsfreiheit (vom amerikanischen ganz zu schweigen) noch ist.

Eine so wie heute regierte Türkei hat in der Europäischen Union nichts zu suchen, auch wenn man aus anderen Gründen die Mitgliedschaft gern sähe. Daraus folgt aber nicht, dass türkische Bürger in der EU nichts zu suchen hätten. Die Abschaffung der Pflicht, ein Visum zu beantragen, muss jedenfalls nicht als Anerkennung der autoritären Strukturen in der Türkei angesehen werden.

Gemeinsame Interessen verfolgen und auf Wandel hoffen

Auch wenn eine rechtsstaatlich unappetitliche Regierung für die Türken spricht, sollte uns das nicht hindern, uns mit ihr zu verständigen, soweit das im gemeinsamen Interessen der Bürger beider Staaten liegt. Wir sollten zudem nicht vergessen, dass Länder wie Portugal, Spanien und Griechenland autoritäre jüngere Vergangenheiten besitzen, von denen man heute nicht mehr viel spürt.

Wandel kann sich überraschend zügig vollziehen. Es ist durchaus möglich zu argumentieren, dass sich die Türken in einer Übergangsphase befinden bzw. bis vor kurzem befunden haben, die in manchem der Adenauerzeit in Deutschland ähnelt. Die rechtsstaatlichen Institutionen waren im Nachkriegsdeutschland gewiss verlässlicher als in der heutigen Türkei. Überreste autoritären Gehabes und eine große Unduldsamkeit gegenüber politisch unliebsamen Äußerungen und provokanten verbalen und bildlichen Darstellungen waren jedoch ebenfalls zu verzeichnen. Auch in der Bundesrepublik gab es die Verfolgung sexueller Minoritäten — ebenfalls gern mit religiösen Tabus unterfüttert –, gab es eine Spiegel-Affäre und andere „Merkwürdigkeiten“.

Bei uns ist die Sache gut gegangen. Die Bundesrepublik hat sich zu einem vorbildlich freiheitlichen Rechtsstaat entwickelt. Die Entwicklung der Türkei geht im Augenblick nicht in Richtung der Stabilisierung eines freiheitlichen Rechtsstaates. Dafür, dass dies einer breiteren Öffentlichkeit plastisch vor Augen geführt wurde, müssen wir mit allen Anzeichen des Bedauerns dem satirischen Scheinriesen Böhmermann dankbar sein. Ansonsten sollten wir ihn nicht weiter aufwerten.

Jetzt kommt es außenpolitisch darauf an, den türkischen Regierungskreisen, Anreize zu bieten, die grundsätzlich rechtsstaatlichen Strukturen, die es in der Türkei gibt, nicht hinwegzufegen. Dass das gegen Böhmermann angestrengte Gerichtsverfahren nach Geist und Buchstaben der Gesetze und nach bisherigen Präzedenzfallentscheidungen durchgeführt werden muss, trifft in der Bundesrepublik auf breiteste Akzeptanz. Rechtsverletzungen festzustellen können wir den Gerichten überlassen, uns eine Meinung über die Meinungsfreiheit und deren Grenzen zu bilden, nicht.

Grenzen der Meinungsfreiheit?

Es gab vor vielen Jahren einmal ein Urteil dazu, ob die Äußerung „Soldaten sind Mörder“ als Beleidigung zu verbieten oder als Meinungsäußerung zu erlauben ist. Die deutsche Rechtsprechung kam zu dem Schluss, dass ungeachtet der buchstäblichen Falschheit der Äußerung, deren metaphorischer Gebrauch in der politischen Auseinandersetzung erlaubt sein muss. Das Urteil war gewiss richtig. Der Umgang mit metaphorischen Vergleichen, der indirekten Rede, bloß zugeschriebenen Zitaten etc., wirft jedoch schwierige Fragen auf.

Es ist hilfreich, sich auf einen anderen Fall aus der politischen Auseinandersetzung in der Bundesrepublik Deutschland zu besinnen. Vom damaligen Präsidenten des Bundestages wurde in einer öffentlichen Rede aus Anlass des Jahrestages der „November-Progrome“ im Parlament der längst überfällige Versuch einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit unternommen. Philipp Jenninger bediente sich des Instruments der indirekten Rede, um die innere „Logik“ nationalsozialistischen Gedankengutes und die darin liegende potentielle Verführungskraft offen zu legen. Das war gerechtfertigt. Denn, will man den Feind wirksam bekämpfen, muss man ihn erst einmal verstehen. Viele Abgeordnete, Journalisten und andere Meinungsmacher waren zu diesem Abstraktionsschritt nicht in der Lage oder wollten ihn nicht mitmachen, um an der politischen Resterampe Stimmen einzuwerben.

Man argumentierte zum einen, dass weltanschaulich noch ungefestigte Bürger nicht in der Lage seien, die Indirektheit der Rede angemessen zu berücksichtigen. Zum anderen betonte man, dass auch die überlebenden Opfer der Naziverbrechen und deren Hinterbliebene mit der indirekten Rede nicht zurecht kämen.

Diese „Argumente“ setzten sich im öffentlichen Empörungsorchester durch. Denn es gab genügend Bürger und vor allem auch Abgeordnete, die sich mit den indirekt präsentierten Inhalten überhaupt nicht auseinandersetzen wollten. Es war viel einfacher, an der stupiden und gerade nicht ernsthaften Vergangenheitsbewältigung des formelhaften „nie wieder“ festzuhalten. Sich jede ernsthafte Reflexion ersparen zu können, befriedigte ein Grundbedürfnis. Denn selbst dann, wenn sie nicht eigene frühere Überzeugungen verdrängen mussten, war es doch vielen unangenehm, zur Kenntnis zu nehmen, wie schmal der Graben zwischen „Geist und Ungeist“ sein kann.

Herr Jenninger verdient unseren Applaus (auch wenn er „Dreck am Stecken“ hatte), Herr Böhmermann unsere Kritik. Jenninger wollte aufklären durch die hypothetische Einnahme einer Position, Böhmermann wollte im wesentlichen den möglichen Schaden vor Gericht begrenzen. Jenninger bewegte sich klar im Rahmen des Rechtes, Böhmermann vielleicht nicht.

Vergessen wir jedoch nicht, man darf in Deutschland keineswegs von einer „Auschwitzlüge“ sprechen; weshalb man durchaus ernsthaft in Zweifel ziehen darf, ob wir die Prinzipien unbeschränkter Meinungsfreiheit akzeptieren. Das Verbot entsprechender Äußerungen lässt sich vielleicht trotzdem politisch rechtfertigen. Aber dann gilt in Deutschland nicht der Leitgedanken, bei klar politischen Auseinandersetzungen nahezu alles zuzulassen.

In Fragen der politischen Meinungsfreiheit gibt es keine einfachen allgemeinen Antworten. Die Gerichte, die insoweit Entscheidungen treffen müssen, sind nicht zu beneiden. Aber jeder verständige Türke wird uns darum beneiden, dass diese Fragen bei uns von Gerichten entschieden werden. Gönnen wir es ihm, dass er in Zukunft ohne Visum von der blutigen Realsatire türkischer Innenpolitik Urlaub nehmen und seine unterdrückten Landsleute in der EU besuchen kann.

Hartmut Kliemt
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Eine Antwort auf „Böhmermann, Jenninger und die deutsche Vergangenheit“

  1. Die Merkelsche Logik „Rechtsverletzungen festzustellen können wir den Gerichten überlassen…“ klingt erst einmal gut, verdeckt aber die tatsächliche Rechtslage. Der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof, Wolfgang NeÅ¡ković, hat kürzlich auf Cicero darüber aufgeklärt (http://www.cicero.de/berliner-republik/causa-boehmermann-der-rechtstaat-braucht-merkels-ermaechtigung-nicht/60795).

    Danach war es in keiner Weise zwingend, dass Bundeskanzlerin Merkel, die Verfolgungsermächtigung erteilt hat, denn „Erdogan standen (…) andere Mittel zur Seite, um mit rechtsstaatlichen Mitteln seine Interessen durchzusetzen.“ Eine Ermächtigung für ein Strafverfahren nach Paragraph 103 Strafgesetzbuch zu erteilen, ist ein Rechtsinstitut, das in diesem Fall ausdrücklich, der Regierung die Abwägung überlässt. Durch die Ermächtigung nach Paragraph 103 Strafgesetzbuch hat Merkel das mögliche Strafmass für Böhmermann unnötigerweise erheblich erhöht.

    Merkel hat in der Flüchtlingsfrage offensichlich „Führungsstärke“ zeigen wollen und eine Entscheidung ohne Abstimmung mit den europäischen Partnerländern getroffen. Sie hat sich dadurch völlig unnötigerweise in die Abhängigkeit von Herrn Erdogan begeben. Das zeigt wie fragwürdig unternehmensberaterische Konzepte wie „Führungsstärke“ in einer komplexen Realität sind.

    Eine andere Frage ist, ob Erdogan sich zu dem entwickelt hätte, der er heute ist, wenn die EU der Türkei die Tür zu einem Beitritt etwas weiter geöffnet hätte? Auch hier hat Bundeskanzlerin Merkel keine besonders weitsichtige Rolle gespielt.

    Dass sie trotzdem noch immer die Reputation einer „klugen und weitsichtigen Führungspersönlichkeit“ hat, dürfte vor allem daran liegen, dass sie die Formen besser beherrscht als die Inhalte.

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