Bei der Antwort auf kaum eine Frage sind sich deutsche Politiker so einig wie bei jener, ob wir Wirtschaftswachstum benötigen. Alle Mittel, welche auch nur möglicherweise Wirtschaftswachstum fördern, gelten in den wirtschaftspolitischen Diskussionen als sakrosankt. Miegel nennt in seinem Buch „Exit – Wohlstand ohne Wachstum“ als Beispiele Rettungsschirme für Banken, Konjunkturprogramme mittels Steuernachlässen, Abwrackprämien oder Konsumgutscheine. Hauptsache sei beim Beschluss all dieser Maßnahmen, so kritisiert Miegel, dass die Wirtschaft wachse. Eine Rezession werde als ein Drama betrachtet, eine Depression sei eine Tragödie (Miegel, 2010, S.11 ff und S. 63).
Warum aber reagieren Politiker so erschrocken, mitunter sogar panisch wirkend auf die gelegentlich kommenden (und wieder gehenden) Krisen der Wirtschaft? Warum opfern sie sogar Wohlstand (die Abwrackprämie ist ein prägnantes Beispiel hierfür), um positive Wachstumsraten zu generieren? Es liegt wohl daran, dass wir – die Bürger, die sie vertreten – uns an Wirtschaftswachstum gewöhnt haben. Die Menschen wurden durch die in der Menschheitsgeschichte einzigartige Explosion von Wohlstand in den frühindustrialisierten Ländern geprägt, so dass sie nur eine Welt von permanenter gesellschaftlicher Wohlstandsmehrung und von Wachstum kennen. Miegel (2010, S.28) präsentiert hierfür handfeste Zahlen: 81 Prozent der deutschen Bevölkerung meinen, dass wir weiterhin wirtschaftliches Wachstum brauchen. 73 Prozent der Bevölkerung erklären: Ohne wirtschaftliches Wachstum kann Deutschland nicht überleben“. Und 61 Prozent und damit immer noch eine deutliche Mehrheit in der Bevölkerung stimmt der Auffassung zu: „Wachstum ist nicht alles, aber ohne Wachstum ist alles nichts“. Miegel schließt an diese Umfrageergebnisse die Behauptung an, dass selbst zentrale Werte wie Menschenwürde, bürgerliche Freiheitsrechte, der Rechts- und Sozialstaat und unsere Demokratie verblassen gegenüber der Bedeutung von Wirtschaftswachstum. Selbst Wohlstand wird geopfert, um Wachstum zu generieren.
Warum aber wünschen sich Menschen für ihre Gesellschaft wirtschaftliches Wachstum? Einfach argumentiert lässt sich festhalten, dass all jene Menschen ungestillte materielle Bedürfnisse haben, die an Hunger leiden, keinen eigenen Wohnraum innehaben, keinen Zugang zu Bildung oder zu einem funktionierenden Gesundheitssystem besitzen; und diese Bedürfnisse lassen sich mit Wirtschaftswachstum in zunehmendem Maße stillen.
Es gibt aber auch und gerade in den wohlhabenderen Ländern der Welt viele Menschen, deren Lebenszufriedenheit auch bei steigendem materiellem Wohlstand kaum oder gar nicht mehr ansteigt. Warum aber streben auch diese Menschen in den wohlhabenden Ländern der Welt nach positiven Wachstumsraten, wenn es ihnen gar nicht um zunehmenden materiellen Wohlstand geht?
Randers (2012, S. 392 ff) beschreibt diese Wahrnehmung von Wachstum als ein Bauchgefühl, das allerdings in die Irre führe. Es erkläre sich aus unserer jüngeren Geschichte, denn Wirtschaftswachstum habe in den vergangenen Jahrzehnten viele Probleme verringert: Die Einkommen und der Wohlstand sind im Durchschnitt gestiegen, der Lebensstandard hat sich deutlich verbessert. Wachstum ging einher mit Kapitalakkumulation und Investitionen, wovon auch das Gesundheits- und das Sozialsystem profitierten. Die Lebenserwartung ist höher als früher. Auch die Schaffung neuer Arbeitsplätze und der Anstieg der Löhne werden in unseren Köpfen mit Wachstum assoziiert. Hinzu kommt die öffentliche Kommunikationspolitik. Wachstum, vor allem das Wachstum des BIP, wird in den Medien als etwas Positives dargestellt. Wir Menschen aber fühlen uns glücklich, wenn etwas wahr wird, woran wir glauben.
Sind wir überzeugt davon, dass Wachstum gut sei, so sind wir glücklich, wenn wir hören, dass die Wirtschaft wächst.
Miegel (2010, S.33 ff) führt diesbezüglich auch mehrere verschiedene plausible Argumente an:
- Die Sorge um ihre Arbeitsplätze macht die Menschen ängstlich. Wachstum und Beschäftigung sind in den Köpfen der Menschen in hohem Maße miteinander verquickt. (Natürlich besteht hier ökonomisch ein Zusammenhang, denn in einer kriselnden Wirtschaft kommt es oft zu Entlassungen. Der Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrisen und Entlassungen ist aber keineswegs ein ökonomisches Naturgesetz; er hängt viel mehr sehr stark von Lohnrigiditäten und Arbeitsmarktflexibilität ab.) Die Menschen sehen diesen Zusammenhang vor dem Hintergrund von Vergangenheitserfahrungen als sehr eng an, und die Sorge des Verlustes des Arbeitsplatzes stellt daher eine wichtige Triebfeder für den Wachstumswunsch.
- Ein weiterer Grund ist die Abhängigkeit der sozialen Sicherungssysteme und der öffentlichen Haushalte vom Wirtschaftswachstum. Das Umlageverfahren in der gesetzlichen Rentenversicherung, der steigende Mittelbedarf in den gesetzlichen Krankenversicherungen, der durch den medizinisch technischen Fortschritt und die im demografischen Wandel zunehmend alternde Bevölkerung getrieben wird, aber auch die hohe Verschuldung der öffentlichen Haushalte lassen sich leichter tragen, wenn die Wirtschaft weiterhin wächst. Dass Wachstum allerdings kein Allheilmittel für die Probleme von Staatshaushalt und Sozialversicherungen darstellt, ist auch weiten Teilen der Bevölkerung ausreichend bekannt.
- Die Bekämpfung von Armut wird drittens als mögliches Argument für Wachstum angeführt. Dieses Argument ist aber schnell als fadenscheinig enttarnt: Armut ist eine Frage der Einkommensverteilung. Wirtschaftswachstum verringert die Armut in der Gesellschaft nicht. Wer (relativ) arm ist, der bleibt auch dann (relativ) arm, wenn alle gleichmäßig reicher werden.
- Auch der Stolz auf die deutsche Wirtschaft geprägt durch die Wirtschaftswunderzeit könnte eine Erklärung dafür bieten, warum weiteres Wachstum für uns Deutsche wichtig erscheint. Wie alle Völker, so führt Miegel aus, wollen wir auf etwas stolz sein. Fehlende andere Quellen des nationalen Stolzes könnten dazu geführt haben, dass die Zeit des deutschen Wirtschaftswunders uns eine Art nationaler Identität und nationalen Stolzes vermittelt haben.
- Individuelles Statusstreben ist sicherlich ein Wachstumstreiber. Der Wunsch, besser zu sein als andere und mehr zu besitzen als andere, führt zu Anstrengungen, welche Wachstumsprozesse auslösen. Doch erklärt der Wunsch nach eigenem Status in der Gesellschaft nicht, warum wir gesamtwirtschaftliches Wirtschaftswachstum so positiv sehen.
Letztlich kommt Miegel zu dem Schluss, dass Wachstum für viele Menschen nicht mehr Mittel zur Erreichung eines übergeordneten Zwecks ist, sondern einen Selbstzweck darstellt. Er bezeichnet Wachstum als eine Ideologie. Wachstum ist ein eigener Wert, und damit erklärt Miegel die Furcht der heutigen deutschen Gesellschaft, dass ihr ohne Wachstum nichts bliebe, – eine Furcht, die selbst dann schon auftritt, wenn das Wachstum nur kurzzeitig einmal schwächelt.
Diese Argumentation erscheint tatsächlich plausibel, sie kann viele politische Irrwege der letzten Jahre erklären. Was aber bleibt von den geführten Argumenten, wenn man einen gemeinsamen Nenner sucht? Es bleibt die Sorge um den Verlust von Arbeitsplätzen. Es bleibt auch die Sorge, den gewohnten Lebensstandard im Alter zu verlieren, wenn Renten- und Krankenversicherung nicht hinreichend von den Einzahlungen der folgenden Generation alimentiert werden. Es bleibt drittens auch die Sorge, mit dem Wachstum eine Quelle von Stolz und nationaler Identität zu verlieren, die positives Wachstum uns seit der Wirtschaftswunderzeit vermittelt hat.
Es sind alles Verlustängste, die unseren Wunsch des kontinuierlichen, dauerhaften Wachstums prägen. Und aus den Verlustängsten heraus hat sich eine Ideologie entwickelt, die Wachstum als einen eigenen Wert versteht. Solche Verlustängste sind aber keine guten Ratgeber. Verlustaversion – das hat die Verhaltensökonomie längst herausgearbeitet – führt zu fehlerhaften, irrationalen Entscheidungen.
Wirtschaftswachstum darf kein Selbstzweck sein.
Quellen:Â
Miegel, M. (2010): Exit. Wohlstand ohne Wachstum, Berlin
Randers, J. (2012): 2052 – Der neue Bericht an den Club of Rome, Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre, München
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Wachstum kann man positiv oder negativ bewerten. Eine Marktwirtschaft, in der netto gespart und investiert wird, muss aber zwingend wachsen, damit das durch Investitionen geschaffene zusätzliche Produktionspotential auch genutzt wird.
Letztlich erhöhen die Investitionen die Produktivität der Arbeit. Der Wachstumsspielraum kann daher nur auf 2 Wegen genutzt werden: Für mehr Realeinkommen und Konsum (bei konstanter Arbeitszeit) oder für weniger Arbeitszeit (bei gleichem Realeinkommen).
Das ist die Systemlogik. Wer nicht mehr Güter will, soll weniger Arbeit wählen. Das System muss hierfür allerdings offener werden und den Bürgern die freie Wahl leichter machen.
Mir ist kein Politiker oder Ökonom bekannt, der BIP-Wachstum als Selbstzweck betrachtet. Der Grund, weshalb die Politik so stark auf BIP-Wachstum ausgerichtet ist ist der negative Zusammenhang zwischen BIP-Wachstum und der Veränderung der Arbeitslosenquote („Okunsches Gesetz“).
Auch auf der Mikroebene scheint mir das Streben nach Einkommenswachstum kein Selbstzweck zu sein. Aber zum Glück brauchen wir uns darüber keine Gedanken zu machen, weil wir (noch) in einer Gesellschaft leben, in der die Individuen ohne staatliche Bevormundung über solche Dinge entscheiden dürfen.
„Wer Wachstum nur auf der Makro-Ebene analysiert, wird leicht zu wirtschaftspolitischen Fehlurteilen verleidet. Tatsächlich ist wirtschaftliches Wachstum das Ergebnis millionenfacher individueller Entscheidungen. Private wirtschaftliche Akteure treiben das Wachstum. Wie sich Arbeitnehmer und Unternehmer entscheiden, hängt von Anreizen und Präferenzen ab. Koordiniert werden die wirtschaftlichen Aktivitäten über private Märkte. Das gilt zumindest in funktionierenden marktwirtschaftlichen Ordnungen. Sind die Preise nicht verzerrt, ist das so entstandene Wachstum sogar optimal. Haben etwa Haushalte eine stärkere Präferenz für die Gegenwart, werden sie weniger sparen und jetzt mehr konsumieren. Das notwendig geringere Wachstum ist aber nicht korrekturbedürftig. Es entspricht den individuellen Präferenzen. Die Aufgabe des Staates besteht nicht darin, auf „Teufel komm raus“ für mehr Wachstum zu sorgen. Vielmehr muss er alles dafür tun, dass die Märkte möglichst unverzerrt ihre Arbeit erledigen können.“
aus: Norbert Berthold, Wachstumspolitik in Zeiten säkularer Stagnation: Wachstumsziele, Strukturreformen und Unternehmertum