In den letzten Monaten haben sich mehrere deutsche Ökonomen (Hans-Werner Sinn, Lüder Gerken, Friedrich Heinemann) dafür ausgesprochen, jetzt das Projekt einer europäischen Verteidigungsunion in Angriff zu nehmen. Den Zeitpunkt dieser Initiativen kann man leicht erklären.
Erstens möchte man, da die wirtschaftspolitischen Vorschläge Frankreichs (Euro-Finanzminister, Eurobonds, gemeinsame Einlagensicherung usw.) auf Ablehnung stoßen, nicht generell als Gegner einer stärkeren politischen Integration erscheinen, sondern ein alternatives Projekt anbieten. Zweitens wird der Hauptgegner der Militärunion – Großbritannien – aus der EU ausscheiden. Die politischen Widerstände gegen die Verteidigungsunion können daher jetzt leichter überwunden werden. Drittens scheint die Wahl von Donald Trump die NATO zu gefährden. Denn Trump hat gedroht, dass die USA die NATO verlassen werden, wenn die europäischen Verbündeten sich nicht stärker an den Lasten beteiligen. Im Jahr 2014 gaben die USA 3,4 Prozent ihres BIP für die Verteidigung aus, ihre europäischen Partner aber nur 1,5 Prozent. Die USA fordern von den Europäern mindestens zwei Prozent. Allerdings ist es wohl ausgeschlossen, dass der US-Senat einem Austritt aus der NATO zustimmen könnte.
Aus ökonomischer Sicht dienen Verteidigungsallianzen dazu, die internationalen positiven externen Effekte zu internalisieren, die die Verteidigungsanstrengungen eines Landes in anderen gleichgesinnten Ländern erzeugen. Wenn es nicht zu einer Kooperation käme, wäre zu befürchten, dass die Verteidigungsausgaben zu niedrig sind, weil jedes Land nur den eigenen Nutzen sieht oder berücksichtigt. Es könnte sogar passieren, dass sich die kleineren Länder als Trittbrettfahrer verhalten. Genau dies wirft Trump den Europäern vor.
Vergleicht man die NATO mit der EU, so ist klar, dass die NATO mehr positive externe Effekte internalisiert und insofern effizienter als eine EU-Militärunion ist. Die Verteidigungsanstrengungen der EU-Staaten wirken sich auch positiv auf die Sicherheit der USA, Kanadas, Norwegens und Islands aus – und umgekehrt. Also gehören diese Länder dazu.
Außerdem ist zu bedenken, dass Sicherheitsbündnisse – übrigens auch Währungssysteme – nur dann von Dauer sind, wenn es unter den Mitgliedstaaten ein besonders großes Land gibt, das als Systemführer agiert. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen hat das große Land einen großen Anteil an dem Nutzen der Allianz und daher einen starken Anreiz, die Allianz am Leben zu erhalten. Zum anderen vermindert die Existenz eines Systemführers die Koordinationskosten. Nehmen wir der Einfachheit halber an, die Allianz bestehe aus vier Mitgliedern: den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Wenn die USA wie in der NATO Systemführer sind, stimmen sie sich mit den anderen drei Ländern ab, so dass insgesamt drei Koordinationsbeziehungen existieren. Wenn die EU zwischengeschaltet wird, verhandelt Amerika mit Großbritannien und mit der EU, und die EU verhandelt mit den beiden Mitgliedstaaten Frankreich und Deutschland – es bestehen also vier Koordinationsbeziehungen. Das bipolare System ist insofern kostspieliger als das hegemoniale. Die bisherige Analyse setzt voraus, dass Brüssel tatsächlich für Frankreich und Deutschland sprechen kann. Das ist wohl nicht zu erwarten. Realistisch ist, dass die USA nicht nur mit der EU und Großbritannien verhandeln würden, sondern auch direkt mit Frankreich und Deutschland. Außerdem würden Frankreich und Deutschland miteinander verhandeln und einzeln mit der EU. Dann ergeben sich sogar sieben Koordinationsbeziehungen, und das Arrangement ist noch ineffizienter. Bei 28 EU-Mitgliedstaaten werden diese Probleme natürlich potenziert.
Kehren wir zu den externen Effekten zurück. Realistischerweise ist anzunehmen, dass die USA und die EU nicht in allen militärischen Fragen dieselben Interessen oder Präferenzen haben. Zum Beispiel könnte es sein, dass die EU in Europa (auf dem Balkan?) intervenieren möchte und die USAÂ nicht interessiert sind (obwohl im Kosovo-Konflikt gerade die amerikanische Intervention die Entscheidung brachte). Aber dafür braucht man keine Militärunion der EU. Auch für solche Einsätze steht die NATO zur Verfügung. Anders wäre es, wenn die USA ein Veto einlegen würden.
Aber was für ein Anlass könnte das sein?
Historisch gesehen wurde das Projekt der europäischen Verteidigungsgemeinschaft jedes Mal von französischen Regierungen lanciert (auch wenn es 1953 an der französischen Nationalversammlung scheiterte). Der französische Ministerpräsident Manuel Valls hat die Europa-Armee gerade wieder ins Gespräch gebracht: „The French army … cannot remain the de facto European army forever. France expects Europe to implement a common security strategy with fully operational border guards … „ (Financial Times, 13.10.16). Damit verfolgt Paris drei verschiedene Ziele. Erstens sollen sich die anderen EU-Staaten stärker an den Einsätzen in den ehemaligen französischen Kolonien in Schwarzafrika beteiligen. Zweitens sollen die EU-eigenen Streitkräfte – so Valls – die illegale Einwanderung an den EU-Außengrenzen eindämmen. Drittens – und das ist das Wichtigste – will Paris die Amerikaner aus Europa hinausdrängen, um auf diese Weise seinen eigenen Einfluss in Europa zu verstärken. Das geht vor allem zu Lasten Großbritanniens, welches der natürliche Verbündete der USA und in Europa der Hauptrivale Frankreichs ist. Deshalb sind die Briten dagegen, eine europäische Konkurrenz zur NATO zu schaffen. Den Interessengegensatz zwischen Frankreich und den USA durch eine europäische Militärunion zu institutionalisieren, ist gerade in der Ära Trump für den Zusammenhalt des westlichen Bündnisses eine echte Gefahr. „Europa-Chauvinismus“ ist die falsche Antwort auf die berechtigten Forderungen der USA nach einer neuen Lastenverteilung in der NATO.