Die Zukunft Europas
Fünf Szenarien und doch orientierungslos

Die Tatsache, dass die Europäische Kommission ein Weißbuch zur Zukunft Europas – konkret der EU27 – vorgelegt hat, ist zuerst einmal höchst positiv einzuschätzen. Dies gilt auch für die im Vorwort von Jean-Claude Juncker genannten Zielsetzungen, dass „ein vereintes Europa der 27 sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und eine eigene Vorstellung seiner Zukunft entwickeln und umsetzen muss“ und erst recht, dass die Inhalte des Weißbuchs eine ehrliche und umfassende Debatte über die Zukunft Europas anstoßen und strukturieren sollen. Wann wäre dies alles nötiger gewesen als jetzt? Doch das Weißbuch setzt nicht am eigentlichen Kern der aktuellen Probleme an und ist daher auch nicht geeignet nachhaltige Lösungen zu entwickeln.

 Fünf Szenarien

Diese Kritik setzt nicht daran an, dass die fünf präsentierten Szenarien für die Europäische Union wenig konkret, sehr holzschnittartig und nur punktuell formuliert sind, dass sie sich überschneiden und zahlreiche der Beispiele nicht erhellend sind. Konkretisierungen werden in Diskussionspapieren angekündigt, deren Veröffentlichungszeitpunkte bereits bekannt gegeben wurden und auf die es mit einer abschließenden Einschätzung zu warten gilt. In diesem Beitrag sollen kurz die Szenarien skizziert werden bevor auf einige Merkmale dieses Weißbuchs einzugehen und schließlich daran fundamentale Kritik anzubringen ist. Im vorgelegten Dokument werden die fünf Szenarien in einer einheitlichen Struktur präsentiert. Es wird nach Warum und wie gefragt und es werden Überlegungen angestellt, was dies bis 2025 bedeutet. Pro und Kontra werden formuliert, Auswirkungen auf Binnenmarkt und Handel, Wirtschafts- und Währungsunion, Schengen, Migration und Sicherheit, Außenpolitik und Verteidigung sowie den EU-Haushalt abgeschätzt.

Szenario 1: Weiter wie bisher

Das erste Szenario geht von der Fortsetzung der aktuellen Aktivitäten und Schwerpunkte sowie den bisherigen Wegen der Entscheidungsfindung aus. Die EU27 wird langsam weiter voranschreiten, dies mit allen Vor- und Nachteilen, Fortschritten und Rückschlägen, je nachdem wie gut es gelingt, Differenzen abzubauen und Kompromisse zu finden. Die Kommission befürchtet, dass die Einheit der EU bei ernsthaften Differenzen immer wieder auf dem Spiel stehen könnte und die erreichbaren Ergebnisse nicht immer in der Lage sind, die Erwartungen der Bürger zu erfüllen.

Szenario 2: Schwerpunkt Binnenmarkt

Im zweiten Szenario erfolgt eine Konzentration der zukünftigen Aktivitäten auf die Stärkung des Binnenmarktes. Dies wird damit begründet, dass in anderen Bereichen wie Migration, Sicherheit oder Verteidigung der gemeinsame Wille fehlt, intensiver zusammenzuarbeiten. Dies gilt auch für die Außenpolitik und manche aufgebauten EU-Regulierungen. Viele Politikfelder, die heute in der EU organisiert werden, sollen dann nicht mehr gemeinsam verfolgt, sondern bestenfalls bilateral koordiniert werden. Im Ergebnis werden sich Differenzen und unterschiedliche Standards in der Sozial- und Umweltpolitik, bei Steuern und Subventionen herausbilden. Es wird erwartet, dass die Entscheidungen dann einfacher verständlich werden, doch das gemeinsame Handeln deutlich beschränkt wird.

Szenario 3: Wer mehr will, tut mehr

Im dritten Szenario wird die EU27 wie bisher weiter machen, doch „Koalitionen der Willigen“ intensivieren ihre Zusammenarbeit in einzelnen Politikbereichen. Dieses Szenario hat sich in der kurzen Zeit der bisherigen Diskussion nicht überraschend als der Favorit herausgestellt, der am meisten Zustimmung und Sympathie gefunden hat, können doch die meisten realen Herausforderungen diskursiv ausgeklammert werden. Die Vertiefung der Integration für einzelne Mitgliedergruppen und Bereiche ist mit speziellen Rechts- und Finanzregelungen verbunden, die auf dem vorherrschenden EU-Rahmen aufbauen. Den anderen Mitgliedern bleibt der Zutritt offen, wenn sie bereit sind, die Regeln zu übernehmen. Die Governance der EU wird in diesem Szenario freilich komplexer. Vorbilder für dieses Voranschreiten sind in theoretischer Hinsicht Formen der „variablen Integration“ oder „Integrationsclubs“, in der EU-Realität entspricht ihm die Euro-Union.

Szenario 4: Weniger, aber effizienter

Die EU würde sich im vierten Szenario auf einzelne Politikbereiche konzentrieren und diese zügig weiterbringen wollen, während sie sich bei anderen Themen zurücknimmt oder sie nicht mehr verfolgt. In den ausgewählten Bereichen sollen wirksame Instrumente vereinbart werden, die es der EU27 ermöglichen Entscheidungen unmittelbar umzusetzen, nach dem Muster der EU-Wettbewerbspolitik oder der EU-Bankenaufsicht. Als Beispiele für die intensivere Zusammenarbeit werden binnenmarktnahe Politikbereiche genannt, während die Regionalentwicklung oder die Beschäftigungs- und Sozialpolitik als Beispiele genannt werden, die in den Hintergrund gerückt werden. Auch die Europäische Kommission sieht es als eine große Herausforderung an, sich auf Prioritäten zu verständigen, während nach dieser Grundentscheidung die Entscheidungsfindung deutlich einfacher wäre als heute.

Szenario 5: Viel mehr gemeinsames Handeln

Szenario 5 schließlich geht am weitesten: Auf allen bisherigen Politikfeldern der EU27 soll mehr gemeinsam gemacht werden als bisher und sollen Entscheidungen schneller getroffen werden können. Hier findet sich die Anknüpfung an den Fünf-Präsidenten-Bericht von 2015, dessen Umsetzung explizit vorausgesetzt wird. Nach außen würde die EU27 mit einer Stimme sprechen. Vieles würde ausschließlich auf der EU-Ebene entschieden oder einer sehr effizienten Koordination auf der Mitgliederebene folgen. Konsequenterweise würde eine solche Entwicklung zusätzliche Ressourcen und zusätzliche Kompetenzen auf der EU-Ebene erfordern. Der EU-Haushalt würde eine Aufstockung durch Eigenmittel sowie eine fiskalische Stabilisierungsfunktion für das Euro-Währungsgebiet erfahren.

Auffälliger Vertiefungsbias

Viele Fragen stellen sich im Zusammenhang mit den einzelnen Szenarien und welche Bedeutung ihnen im Rahmen des weiteren EU-Integrationsprozesses zukommen soll und wird. Diese seien beim aktuellen Informationsstand aber zurück gestellt. Vielmehr sollen ein paar erste Eindrücke skizziert werden, die auffallen. Erstens überwiegen argumentativ die negativen Aspekte, die dem Abbau von EU-Aktivitäten zugunsten ihrer nationalen oder bilateralen Organisation zugeschrieben werden. Umgekehrt verhält es sich beim Transfer von Kompetenzen an die EU, die positiv assoziiert werden. Dies zeigt sich auch bei den Szenarien 3 und 4, die nur partielle Vertiefungen der Integration beinhalten.

Einseitige Beurteilungskriterien

Interessant sind zweitens auch die hauptsächlich verwendeten Indikatoren für die zusammenfassende Einschätzung und Bewertung. Dies sind die Übereinstimmung zwischen Erwartungen der Bürger und Ergebnissen sowie die sich aus dem Unionsrecht ableitenden Bürgerrechte. Beides steigt bei einer Vertiefung der Integration und sinkt bei einem Kompetenztransfer in Richtung Mitgliedsstaaten. Dies lässt Hinweise auf die Adressaten zu, die mit diesem Weißbuch offensichtlich nicht in Expertenkreisen gesucht werden.

Ignorieren von Sachzusammenhängen

Drittens ist bemerkenswert, dass sich keine Hinweise darüber finden, dass ökonomische sowie politische Sachzusammenhänge existieren, die keine beliebigen Kombinationen von Agenden zulassen, die zusammen auf der EU-Ebene organisiert werden sollten. Eine 60jährige Integrationsgeschichte hat viele solcher Zusammenhänge sehr deutlich werden lassen. Als Beispiel sei die gemeinsame Währung mit der Notwendigkeit von Fiskalregeln genannt. Schließlich war es die mangelnde Berücksichtigung solcher Zusammenhänge, die den beklagten Status quo der EU27 erreichen ließen, der zu diesem Weißbuch geführt hat.

Diffuser Abbau gemeinsamer Aktivitäten

Obwohl zu akzeptieren ist, dass noch keine Details ausgeführt wurden, stört viertens doch, dass jegliche Hinweise fehlen wie man sich die Rückführung von gemeinsamen Aktivitäten, wie eine gemeinsame Währung oder die gerade geschaffene Bankenunion, vorzustellen hat. Die Formulierung bei „Szenario 2: Schwerpunkt Binnenmarkt“ lautet z.B. „Die Zusammenarbeit im Euro-Währungsgebiet ist begrenzt.“ Was hat man sich darunter vorzustellen, ebenso wenn im „Szenario 4: Weniger, aber effizienter“ formuliert wird: „Auf der anderen Seite wird die EU27 in Bereichen, in denen der Zusatznutzen ihrer Aktivitäten als eher begrenzt wahrgenommen wird oder davon ausgegangen wird, dass Versprechen nicht gehalten werden können, nicht mehr oder nur noch in geringerem Umfang tätig“?

Argumentative Beliebigkeit

Dass rechtliche oder institutionelle Prozesse bewusst ausgespart blieben und „die Form der Funktion folgen“ wird, wie auf S. 15 hervorgehoben wird, kann es fünftens nicht rechtfertigen, eine derartige Beliebigkeit zu praktizieren, auch nicht, dass die Szenarien von „bildhaftem Charakter“ sind, um das Nachdenken anzuregen. Der EU-Integrationsprozess weist eine ausgeprägte Pfadabhängigkeit auf, die ausgehend vom Status quo den Abbau von Integrationselementen zu einer großen rechtlichen und politischen Herausforderung macht. Am Beispiel der gemeinsamen Währung möge man sich vorstellen wie spezifische Investitionen großen Ausmaßes entwertet werden, Verteilungswirkungen hervorgerufen werden und hohe Transaktionskosten anfallen. Es zeugt von einer großen Unbekümmertheit, Szenarien völlig losgelöst von ihren Begleiterscheinungen und Übergangseffekten zur Diskussion zu stellen.

Fehlende Perspektive

Noch schwerwiegender ist sechstens jedoch, dass den Szenarien die Perspektive fehlt und eine Diskussion darüber wohl auch nicht angestrebt wird. Konkret ist zu kritisieren, dass fünf Wege vorgeschlagen werden, aber kein irgendwie näher definiertes Ziel. Wohin soll sich die EU27 eigentlich entwickeln? Darüber geben die Szenarien keine Auskunft. Auch wenn die Finalität des europäischen Integrationsprozesses kein beliebtes Thema ist, wird man sich ihm stellen müssen, wenn man die gewünschte Diskussion anstoßen will. Jedes der fünf Szenarien lässt ausgehend vom Status quo der EU27 mehrere Entwicklungen zu. Es ist nicht zu erwarten, dass durch die Umsetzung von einem der Szenarien ein stabiler Zustand der EU27 erreicht wird. Daher wird sich immer wieder die Frage stellen, ob gemeinsame Aktivitäten aufgebaut oder abgebaut werden sollen oder ob das dann erreichte Mischungsverhältnis verteidigt werden soll. Man stelle sich interne Probleme in der EU27 oder externe Schocks als Auslöser für einen Handlungsbedarf vor. Immer dann, wenn sich Fragen von Transfer- oder Ausgleichszahlungen oder des Einsatzes anderer Solidaritätsmechanismen stellen, sind diese anders einzuschätzen und zu beantworten, wenn von einer wie auch immer gearteten politischen Union auszugehen ist.

Fehlende Bindungskraft gemeinsamer Regeln

Siebtens leidet das Weißbuch zur Zukunft Europas darunter, dass die Problemdiagnose des unbefriedigenden Status quo der EU27 nicht bis zum eigentlichen Kern vordringt. Dass Entscheidungen immer langwieriger werden, Kompromisse immer schwieriger zu finden sind und Lösungen immer mehr Kollateraleffekte mich sich bringen, wird dadurch verursacht, dass die Mitgliedsstaaten in dem was sie wollen und was sie an Belastungen akzeptieren ebenso heterogen sind wie in ihren Voraussetzungen. Dies führt nicht nur zur Thematik der Transfer- und Ausgleichszahlungen, die bereits angesprochen wurde. Ebenso schwerwiegend ist die fehlenden Glaubwürdigkeit und damit die Bindungskraft von Regeln. Die Anreize, auf die Politiker (und private Akteure) der Mitgliedsstaaten reagieren (müssen), legen heute EU-Regelverstöße nahe. Die politischen Entscheidungs- und Verantwortungsstrukturen, die Meinungs- und Konfliktlösungsmechanismen sind nach wie vor auf der Ebene der europäischen Mitgliedsstaaten verankert. Politiker orientieren ihre Entscheidungen an den Gegebenheiten der eigenen Volkswirtschaft – an den Forderungen der eigenen Wählerschaft, wenn es zu einem Konflikt mit den europäischen Regeln kommt. Die Wähler wiederum werden sich vor allem an der sie unmittelbar betreffenden Situation orientieren, dies unter Mitwirkung von Interessengruppen und kommunikativer Unterstützung durch soziale Medien. So lange dies der Fall ist, wird der Integrationsstand der EU27 ein instabiler sein, und zwar unabhängig vom nun gewählten Szenario.

Orientierung suchen

Die eigentliche Aufgabe für die Moderatoren des Integrationsprozesses ist es daher, konsensfähige Institutionen zu finden, die es für die Mitgliedsstaaten unter den heutigen Gegebenheiten nahelegen, gemeinsame Regeln nicht nur zu vereinbaren, sondern diese auch einzuhalten. Dies führt aber dazu, dass die umfassende Diskussion, die nun auf der Grundlage des Weißbuches geführt werden soll, auch eine Antwort auf die Frage nach der Orientierung der EU27 suchen und deren Konsensfähigkeit ausloten muss. Gelingt dies nicht, dann werden sowohl die angeregten Diskussionen der fünf Szenarien als auch die weiteren Integrations- oder Desintegrationsschritte der EU27 beliebig und zufällig sein.

Literatur:

Europäische Kommission (2017): Weissbuch zur Zukunft Europas. Die EU der 27 im Jahr 2025 – Überlegungen und Szenarien, COM(2017)2025, 1. März 2017, Brüssel, https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2017/DE/COM-2017-2025-F1-DE-MAIN-PART-1.PDF

Europäische Kommission (2015): Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden. Vorgelegt von: Jean-Claude Juncker in enger Zusammenarbeit mit Donald Tusk, Jeroen Dijsselbloem, Mario Draghi und Martin Schulz, Brüssel. https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/other/5presidentsreport.de.pdf?4b942c5f6fc385ea3624ec18a85f3fe4

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