Im Jahr 1980 erschien das Buch The Power to Tax vom Geoffrey Brennan und James M. Buchanan. Es wurde einflußreich und viel zitiert, weil es der traditionellen finanzwissenschaftlichen Besteuerungstheorie einen völlig anderen theoretischen Ansatz gegenüberstellte. Die etablierte Optimalsteuertheorie fragte und fragt heute noch, welches Steuersystem wohlwollende, die Wohlfahrt der Bürger maximierende Finanzminister implementieren sollten. Brennan und Buchanan dagegen untersuchten, wie sinnvolle Beschränkungen der Besteuerungsmacht auf der Verfassungsebene aussehen müssen, wenn politische Entscheidungsträger vor allem ihr eigenes Wohl und nicht das der Bürger im Blick haben.
Die steuerpolitischen Implikationen der Untersuchung von Brennan und Buchanan klangen fast ketzerisch. Wo beispielsweise die etablierte Theorie möglichst breite Bemessungsgrundlagen forderte um scheinbar schädliches Ausweichverhalten der Steuerzahler zu erschweren, empfahlen sie, der Besteuerungsmacht enge Grenzen zu setzen, indem man auf der Verfassungsebene die zulässigen Bemessungsgrundlagen eng definiert. Das ist nur ein (sehr simples) Beispiel, das zeigt, wie die – durchaus plausible – Variation von nur einer Ausgangsannahme zu vollkommen konträren Resultaten führen kann.
Fast vierzig Jahre und eine verhaltensökonomische Revolution später ist die Lage nun nicht ganz unähnlich. Angespornt vom empirischen Nachweis zahlreicher Diskrepanzen zwischen Entscheidungen realer Menschen und dem hypothetischen Maßstab vollständiger neoklassischer Rationalität, wendet sich die große Mehrheit der Verhaltensökonomen mit ihren Ratschlägen nicht etwa an die Bürger, sondern direkt an die Politik. Oder genauer gesagt: an eine Idealvorstellung von einem fiktiven politischen Entscheidungsträger, der ganz neutral und persönlich desinteressiert das Wohl der Bürger im Blick hat.
Vor einigen Wochen hat Christian Schubert an dieser Stelle diskutiert (hier), was mit dieser Vorstellung nicht stimmt. Da ich in den wichtigen Punkten im Prinzip durchgehend seiner Meinung bin, brauche ich seine Kritik an der Vorstellung der Politik als verläßlichem Apparat zur Korrektur verhaltensökonomischer Probleme nicht zu wiederholen, ebensowenig wie sein Plädoyer für eine starke Achtung der Autonomie von Personen bei der Weiterentwicklung ihrer jeweils eigenen Präferenzen.
Ganz praktisch betrachtet besteht aber derzeit das Problem, daß die tatsächliche „power to nudge“ also der staatliche Spielraum zum Einsatz verhaltensökonomisch begründeter politischer Instrumente, bisher kaum eingeschränkt ist. Es stellt sich also die Frage nach allgemeinen Spielregeln, die abgrenzen, was politisch zulässig sein soll und was nicht.
Das zentrale Kriterium zur Abgrenzung dürfte hierbei die Transparenz sein. Damit ist nicht nur eine schwache Form von Transparenz gemeint, wie sie gelegentlich von Befürwortern einer verhaltensökonomisch motivierten Politik vorgeschlagen wird. Diese wäre etwa dann erfüllt, wenn es irgendwann einmal eine öffentliche, politische Diskussion um das eingesetzte Instrument gegeben hätte. Das würde zwar vermutlich ausreichen, um bei sehr gut informierten, politisch stark interessierten Bürgern für einen gewissen, aber immer noch sehr begrenzten, Zeitraum Aufmerksamkeit zu generieren. Abgesehen davon könnte aber das Gros der Betroffenen von einer entsprechenden Politik kalt erwischt werden und entsprechend anfällig für eine politische Manipulation ihres Handelns und der Weiterentwicklung ihrer Präferenzen sein.
Statt dessen ist daher ein starkes Transparenzerfordernis nötig. Wenn der von einer Politik Betroffene im Moment seines Handelns darüber informiert ist, daß er beeinflußt werden soll und zu welchem Zweck dieses dient, dann wäre seine Autonomie weitgehend erhalten. Zwar wird er dann immer noch beeinflußt, etwa weil er mit einer normativen Erwartung konfrontiert wird. Er würde also eine Information darüber erhalten, welches Verhalten in einer konkreten Situation aus irgendeinem Grund politisch für wünschenswert gehalten wird. Aber er könnte sich immer noch autonom entscheiden, ob er sich dieser Erwartung entsprechen will, oder nicht.
Es ist klar, daß mit einem so starken Transparenzkriterium ein großer Teil der aktuell diskutierten paternalistischen und sonstigen verhaltensökonomisch motivierten politischen Instrumente von einem praktischen Einsatz ausgeschlossen würde. Weicht man das Kriterium aber auf, so besteht der Preis immer in einem individuellen Kontrollverlust zugunsten einer paternalistisch auftretenden, aber letztlich doch immer eigennützig motivierten Politik. Vor diesem Hintergrund erscheint starke Transparenz als sinnvolle politische Selbstbindung.
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