Die Public-Choice-Theorie geht davon aus, dass sich die politischen Akteure – wie andere Menschen auch – in der Regel von ihrem eigenen Nutzen leiten lassen. Politiker und Bürokraten mögen zwar in vielen Fällen besser wissen, was für die Bürger gut ist, als die Bürger selbst, aber sie werden nicht in erster Linie die Interessen der Bürger, sondern ihre eigenen Interessen verfolgen. So steht es bereits bei James Mill („On Government“), dem Vater von John Stuart Mill. Dass die Regierenden andere Präferenzen als die Bürger haben, belegen zum Beispiel diverse Parallelumfragen zu europapolitischen Themen. Mangelndes Wissen (bei den Bürgern) – so Vater Mill – ist ein geringeres Problem als falsche Anreize (bei den Regierenden), denn Wissen ist vermehrbar. Gegen die Unwissenheit der Bürger kann man etwas tun. Wenn dagegen die Anreize – wie bei den Regierenden – nicht stimmen, hilft auch das beste Wissen nichts.
In der repräsentativen Demokratie kontrollieren die Bürger die Regierenden nur indirekt und unvollkommen. Deshalb hat die Divergenz der Interessen ein „Principal-Agent Problem“ zur Folge: Die Beauftragten tun nicht, was die Auftraggeber wollen. Dagegen helfen nur Volksabstimmungen. Die Public-Choice-Theorie spricht deshalb dafür, Volksbegehren und Volksentscheide über diejenigen Themen zu ermöglichen, bei denen die Politiker typischerweise andere Interessen als die Bürger haben:
- die Rechte der Bürger gegenüber dem Staat,
- die Entlohnung der Politiker und Bürokraten,
- die staatliche Parteienfinanzierung,
- die Größe des Parlaments, des Kabinetts und der Verwaltung,
- Staatsfernsehen und -rundfunk,
- Steuern und Neuverschuldung,
- Regulierungsbefugnisse,
- Subventionen und Privilegien für Interessengruppen,
- Beschränkungen des politischen Wettbewerbs durch x-Prozentklauseln, „harmonisierende“ Absprachen zwischen Regierungen und politische Zentralisierung im Inland und in Europa.
- Besonders weit klaffen die Präferenzen der Bürger und der Politiker beim Thema Einwanderung auseinander. (Zuwanderungskontrollen erschweren zum Beispiel die Verbrüderung mit den Politikern anderer Länder.)
Es liegt auch nahe, bei allen Änderungen der Verfassung und des EU-Vertrages Volksabstimmungen zu ermöglichen oder vorzuschreiben. Denn über sehr wichtige Fragen sind die Bürger am besten informiert.
Dies sind natürlich nur aus der Public-Choice-Theorie abgeleitete Empfehlungen. In einer Demokratie bestimmen die Bürger selbst, welche Entscheidungen sie delegieren wollen und welche nicht.
Während Politikwissenschaftler die sich verselbständigenden staatlichen Akteure samt den von ihnen kontrollierten Medien gerne – eher unkritisch – als „Elite“ bezeichnen, erscheinen sie dem Soziologen als „politische Klasse“. Aus der Sicht des Politischen Ökonomen sind es Anbieter, die „Rent Seeking“ betreiben. Wie wehren sich die so Kritisierten? Sie haben den Kampfbegriff des „Populismus“ erfunden.
„Populisten“ sind diejenigen, die die Regierten gegen die Regierenden aufhetzen. Der Begriff ist denkbar unglücklich gewählt und zeigt die Begründungsnot der in die Enge getriebenen Politiker. „Populus“ ist das lateinische Wort für Volk, „Demos“ das griechische. „Demokratie“ soll gut sein, „Populismus“ aber schlecht? Zu kritisieren sind doch nicht diejenigen, die an das Volk appellieren, sondern die, die es durch falsche Behauptungen in die Irre führen – zum Beispiel indem sie Ressentiments gegenüber Ausländern wecken oder mit vordergründigen Argumenten protektionistischen Beschränkungen das Wort reden. Der Begriff „Populismus“ gibt das nicht her. Auch das Schimpfwort „Demagoge“ (Führer des Volkes) passt nicht. Ein Volk will geführt werden – von klugen Menschen, die sich an den Wünschen der Bürger orientieren. Wer seine politischen Gegner „Populisten“ oder „Demagogen“ nennt, nimmt die Perspektive der römischen Patrizier oder des athenischen Adels ein. Das „Volk“ sind dann die Plebejer und ihr Anführer der „Volkstribun“. Der so verengte Volksbegriff ist vordemokratisch. Das hier zu bezeichnende Problem sind nicht die Volkstribune, sondern die politischen Betrüger. Diese gibt es aber leider genauso im politischen Establishment.
Zum Beispiel ist es unaufrichtig, allen denen, die für Zuwanderungskontrollen eintreten, Fremdenhass oder Vorurteile gegen Ausländer zu unterstellen. Es zeugt außerdem nicht von Ehrlichkeit, wenn denjenigen, die in der fortschreitenden politischen Zentralisierung Europas eine Gefahr für Freiheit und Demokratie sehen, „nationaler Egoismus“ vorgeworfen wird. Auch zwischen einer Politik des „America first“ und dem britischen Autonomiestreben besteht ein himmelweiter Unterschied. Sie gehören nicht in einen Topf – mit der Aufschrift „Populismus“.
Gegen politische Rattenfänger hilft nicht eine irreführende elitäre Begrifflichkeit, sondern nur eine inhaltliche Auseinandersetzung: Wahrheit.
Wie kam es dazu, dass auch der Begriff des Demagogen verdreht wurde? Hier zur Ergänzung zwei Zitate aus Wikipedia: „Ursprünglich war der Begriff in der Regel positiv gefüllt. Der antike Demagoge war ein angesehener Redner und Führer des Volkes bei politischen Entscheidungen. … Noch Anfang des 19. Jahrhunderts erfuhren begabte Redner Wertschätzung als „Demagogen“. Die Karlsbader Beschlüsse 1819 brachten aber die Durchsetzung eines Demagogiebegriffs mit deutlich negativer Nebenbedeutung. Die politische Reaktion brandmarkte ihre Gegner als Demagogen und leitete zahlreiche Zwangsmaßnahmen (Zensur, Lehrverbote) gegen sie ein. Unter dem Namen „Demagogenverfolgung“ gingen Vertreter des Deutschen Bundes gegen deutsch-nationale und liberale Gruppen und Einzelpersonen vor, die man der Subversion und des Aufruhrs beschuldigte. Nach der Juli-Revolution 1830 wurden die Maßnahmen gegen „demagogische Umtriebe“ erneuert und trafen besonders die Burschenschaftler, zum Beispiel Fritz Reuter.“
Merkel, Wolfgang (2015): “ Schluss. Ist die Krise der Demokratie eine Erfindung?“. In: Wolfgang Merkel (Hg.): Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhaltnis von Theorie und Empirie. Wiesbaden: Springer VS, S. 473-498.