Die uns vertraute Weihnachtsgeschichte der Bibel wäre ohne die Schätzung, die der römische Kaiser Augustus angeordnet hatte, nicht denkbar. In unzähligen Krippenspielen wird die Geschichte aus dem Lukas-Evangelium nachgespielt. Und wir alle haben in der Schule gelernt, dass es sich bei dieser Schätzung um eine Volkszählung handelt – ein Statistikzensus, wie er auch wieder für 2020/21 geplant ist. Aber alle modernen Volkszählungen hatten und haben  mit der biblischen Geschichte nichts zu tun. Denn die Schätzung, die Augustus angeordnet hatte, war keine statistische Erhebung. Die Schätzung bezog sich auf die Wirtschaftskraft seiner Untertanen und sie war Grundlage der Steuererhebung. Ein moderner Zensus dagegen soll lediglich die Einwohnerzahlen in ihren Summen möglichst genau feststellen. Und das ist selbst im Computer- und Informationszeitalter gar nicht so einfach. Am Ende wird die Bevölkerungszahl tatsächlich „geschätzt“ und die Ungenauigkeiten, die es gibt, sind auch nicht weiter schlimm.
Ende Oktober hat das Bundesverfassungsgericht die Klage der Bundesländer Berlin und Hamburg gegen die Methodik der letzten Volkszählung, des „Zensus 2011/12“, verhandelt – die Entscheidung steht noch aus. Beide Länder sowie etliche Städte sind davon überzeugt, dass der Zensus Einwohner übersehen hat und deswegen ihnen im Zuge des Länderfinanzausgleichs Millionenbeträge vorenthalten werden.
Das Problem ist: in einer freiheitlichen Gesellschaft ist es schlicht und einfach unmöglich festzustellen, wie viele Menschen zu einem bestimmten Stichtag tatsächlich im ganzen Land und in einer Gemeinde leben.
Zählt man Register wie die der Einwohnermeldeämter aus, dann werden Leute mitgezählt, die noch gemeldet sind, aber nicht mehr in der Gemeinde  leben. Und Einpendler, die in ihrer Heimatgemeinde gemeldet sind, werden nicht gezählt, obwohl sie faktisch mehr an ihrem Arbeits- oder Studienort leben als in ihrer Heimatgemeinde und dort entsprechend stärker die öffentliche Infrastruktur wie Straßen oder öffentliche Verkehrsmittel in Anspruch nehmen. Deswegen wurde beim letzten Zensus mit Hilfe einer Stichprobe von ca 10 Prozent der Bevölkerung abgeschätzt wie groß die Erfassungsfehler sind, um die Registerergebnisse korrigieren zu können. Wenn man so will, war dies eine Schätzung.
Zählt man hingegen zu einem bestimmten Stichtag einfach wie viele Menschen sich tatsächlich in einer Gemeinde aufhalten (wie das vor dem Zensus 2010/2011 bei traditionellen Volkszählungen mit Hilfe einer Befragung der Fall war), dann lehrt die Vergangenheit, dass zehntausende ungeübte Zähler dabei jede Menge Fehler machen. Und man muss auch in diesem Fall entscheiden, wer permanent da ist und wer nur vorübergehend. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Eine exakte Bevölkerungszahl ist in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht ermittelbar – jede denkbare Methode liefert nur eine Schätzung.
Nun kann man argumentieren, dass man den Zensus besser durchführen kann als das 2010/11 der Fall war. Sicher ist jede neue Methode nach den Erfahrungen, die man bei ihrer erstmaligen Anwendung macht, verbesserbar. Dafür liegen auch Vorschläge vor, etwa vom Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten (www.ratswd.de). Aber – das betonte die Bundesregierung bei der Verhandlung in Karlsruhe zu Recht – es gab im Vorfeld des Zensus keine erfolgreiche Klage gegen die Methodik.
Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Zensus 2010/11 sollte auch bedacht werden: In Großstädten und insbesondere in Berlin und Hamburg dürften jede Menge Menschen leben, die nicht gemeldet sind (und vielleicht noch nicht einmal legal für längere Zeit in Deutschland leben und arbeiten), aber trotzdem die Infrastruktur belasten. Solange die nicht explizit im Finanzausgleich berücksichtigt werden, ist die Grundlage des Ausgleichs – nämlich die amtlich festgestellte Bevölkerungszahl – eine höchst unvollkommene Hilfsgröße. Wenn dieser Hilfswert nicht hundertprozentig genau gemessen wird, ist das nicht per se unfair und ein Problem. Zumal Großstädte wegen ihrer Infrastruktur-Funktion beim Finanzausgleich ohnehin pauschal besser behandelt werden als andere Gemeinden („Einwohnerveredelung“, die auf der anderen Seite auch die sehr dünne Besiedlung in drei ostdeutschen Ländern berücksichtigt). Und für die Zahl und den Zuschnitt von Wahlkreisen – wofür auch Ergebnisse des Zensus genutzt werden – spielen politische Entscheidungen eine größere Rolle als die reine Bevölkerungszahl.
Das alles heißt nicht, dass der nächste Zensus 2020/21 nicht mit verbesserter Methodik durchgeführt werden sollte. Aber auch dann wird es keine über jeden Zweifel erhabene Bevölkerungszahl geben.
Hinweis: Der Beitrag erschien zuerst in Heft 12 (2017) der Fachzeitschrift WiSt.
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Das verkennt total die Probleme. Zufallsverteilte Fehler ( Rauschen) sind überhaupt kein Problem.
Davon kann man bei der Registermethode aber grade nicht sprechen. MIttlerweile gibt es enorme Konsistenzprobleme zw. Zensus, Microzensus, Arbeitskräfteerhebung, usw weil die Zahlen einfach so schlecht sind. Man sollte sich mal klar machen, dass dabei nicht etwa die Bevölkerung gezählt wird, sondern die Anzahl von Verwaltungsakten in einigen Ämtern und die komperative Rechtstreue von Migranten.
Aber gut, wer meint man könnte keinen Zensus in freien Gesellschaft machen, der wird ähnliches wohl für Grenzschutz vertreten, denn das hängt ja durchaus zusammen. Letztens hat destatis einen Aufsatz zum „preussischen Tabellenwesen“, über 300 Jahre alt, wiederveröffentlich. Als Vorbild.
Und heute? Deutschland: der Lügenstaat.