Von den Problemen des verhaltensökonomisch motivierten Paternalismus, oft auch verniedlichend „libertärer/liberaler Paternalismus“ genannt, war auf diesem Blog schon häufiger die Rede (siehe etwa hier, hier und hier). Es ist klar, dass mit diesem Konzept eine ganze Reihe von Schwierigkeiten verbunden sind. Zwar wird behauptet, die angeblich schlechten Entscheidungen von Individuen verbessern zu können, indem diesen sogenannte Entscheidungsarchitekturen, Nudges genannt, vorgegeben werden. Dies sind Rahmenbedingungen für Entscheidungen, die gezielt psychologische Schwächen der Betroffenen ausnutzen, um sie in eine gewünschte Richtung zu drängen. Allerdings zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass solche (wie auch immer gemessenen) Verbesserungen von Entscheidungen nicht ohne weiteres zu erreichen sind.
Einige Probleme des Ansatzes
Fehlendes Wissen über Präferenzen. Die neuen Paternalisten behaupten zwar, im Sinne der Betroffenen zu handeln und nur deren „wahren“ Präferenzen zum Durchbruch zu verhelfen. Ohne paternalistische Hilfe, so ist das Argument, würden die Konsumenten immer wieder von ihren wahren Zielen abweichen, etwa aus Willensschwäche oder Kurzsichtigkeit. Ein wesentliches Problem ist nun, dass kein praktisch anwendbares Verfahren existiert, mit dem solche „wahren“ Präferenzen rekonstruiert werden könnten. Wer auch immer verhaltensökonomisch motiviert zum Paternalisten wird, dürfte daher eher seine eigenen Präferenzen durchsetzen als diejenigen der Individuen, deren Wohl ihm angeblich am Herzen liegt.
Versteckter Zwang. Die standardmäßige Antwort auf meinen Einwand zu den Präferenzen ist, dass beim sogenannten „liberalen“ Paternalismus die Betroffenen sich jederzeit über die Entscheidungsarchitektur hinwegsetzen und anders verhalten können, als der Paternalist es will. Aber das ist natürlich ein zweifelhaftes Argument. Wenn der Paternalist psychologische Schwächen der Betroffenen ausnutzt, um sie zu beeinflussen, dann ist ein konformes Verhalten kein Beweis für Zustimmung, sondern nur für erfolgreiche Manipulation. Selbst völlige Transparenz hilft da nicht immer weiter, wie das Beispiel der Schockfotos auf Zigarettenpackungen zeigt. Hier wird nicht an den Verstand der Betroffenen appelliert, sondern an Emotionen. So gut sie gemeint sein mögen, zeigen diese Fotos letztlich, wie wenig die Paternalisten ihre Mündel ernst nehmen. Anstatt sie sachlich zu informieren, etwa über das mit dem Rauchen einer zusätzlichen Packung verbundene Krebsrisiko, versuchen sie sich an Verhaltensbeeinflussung über die emotionale Hintertür.
Nudges sind nicht alternativlos. „Aber Nudges sind unvermeidbar, wenn der Staat es nicht macht, tut es jemand anders!“ tönt es von den Befürwortern des neuen Paternalismus. Und sind nicht etwa die Schockfotos auf den Zigarettenpackungen nur ein Gegen-Nudge zur Werbung der Tabakindustrie? Ein notwendiges Gegengewicht zur ebenso emotionalen Werbung für das Rauchen? Nicht wirklich. Wir alle haben begrenzte Budgets, und so konkurriert im Bereich der Konsumgüter alles mit allem. Das Antidot zur Tabakwerbung ist insofern vielleicht eher die nicht weniger emotionale Werbung fürs Fitness-Studio, den Skiurlaub, das schöne Auto oder all die anderen Dinge, die man sich noch leisten könnte, wenn man sein Geld nicht in Rauch aufgehen ließe.
Und natürlich ist es unvermeidbar, irgendeine Entscheidungsarchitektur vorzufinden. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass es besser ist, eine „durchdachte“, politisch verordnete Architektur durchzusetzen. Denn auch hier kommt es letztlich auf Vielfalt an und darauf, dass Individuen mit heterogenen Präferenzen das vorfinden können, was zu ihnen passt. Wer starke vegane Präferenzen hat, aber um seine Rückfallgefahr beim Angebot von Steaks weiß, der wird entsprechende Restaurants und Geschäfte finden, die ihn bei der Durchsetzung seiner eigenen Präferenzen unterstützen. Niemand würde zwar bisher aus der Inkonsequenz verführbarer Veganer die Forderung nach allgemein fleischfreien Entscheidungsarchitekturen ableiten. Das muss aber erstens nicht so bleiben, denn der Neo-Puritanismus schlägt derzeit allgemein seltsame Kapriolen. Unter diesen Bedingungen kann man nie wissen, was vielleicht schon morgen auf die Agenda kommt. Und zweitens ist dies genau das Muster, nach dem auch in anderen Bereichen Nudges gefordert werden: Manche Leute haben Entscheidungsprobleme, also wird eine für alle wirkende politische Intervention gefordert.
Vom Paternalismus zur Gesellschaftspolitik. Der neue Paternalismus wird von seinen Befürwortern durchaus erfolgreich als eine Art Selbstoptimierungs-Technologie mit staatlicher Hilfe vermarktet, als angewandte Lebenshilfe für Menschen mit willigem Geist und schwachem Fleisch. Die Argumentation setzt also auf der individuellen Ebene an. Aber dabei bleibt es natürlich nicht. Denn letztlich wird durch die Bank die Durchsetzung von sozialen Normen propagiert, die, wie gesagt, auf eine erschütternd freudlose Art neo-puritanisch daherkommen. Nun kann man Askese gerne individuell mögen, aber sie mit dem Vehikel des „liberalen“ Paternalismus als allgemein wünschenswerten Lebensentwurf zu vermarkten geht dann vielleicht doch etwas weit. Es besteht jedenfalls die Gefahr, dass sich mittels einer paternalistischen Politik ohnehin in der Luft liegende Trends und Lifestyle-Moden verstärken und vor allem ““ anstatt mehr oder weniger schnell von selbst wieder zu verschwinden ““ politisch verstetigen.
Rationale Politik? Die Politik, das ist jene Entscheidungssphäre, in der man nicht ohne eine Empörungswelle auszulösen auf die wissenschaftlich gut abgestützte Harmlosigkeit eines viel diskutierten Herbizids hinweisen kann. Entgegen aller Erfahrung hält sich dennoch das Vorurteil, politische Entscheidungen seien das Ergebnis rationalen Abwägens aller Vor- und Nachteile. Gerade wenn es aber um die Beurteilung von Risiken geht, die z.B. mit dem Konsum von bestimmten Produkten verbunden sind, dann sind politische Diskussionen anfällig für Fehleinschätzungen und Übertreibungen bis hin zu Massenhysterien. Wieso also sollten wir rationaler werden, wenn wir private Konsumentscheidungen zunehmend politisieren? Auf diese zentrale Frage bleiben die Befürworter des neuen Paternalismus jede Antwort schuldig.
Der Stand der Dinge in der Praxis
Die oben aufgezählten Einwände klingen natürlich sehr schwerwiegend, und sie sind es punktuell auch ““ tendenziell immer dann, wenn die Bürger als Konsumenten nicht als souveräne Entscheidungsträger ernst genommen werden. Das paternalistische Denken verbreitet sich gerade in der Verbraucherpolitik jüngst in zahlreichen Themenfeldern. Etwa da, wo mittels einer stark vereinfachenden Lebensmittelampel ein einfaches Signal gegeben werden soll, welche Lebensmittel bedenkenlos konsumiert werden können und welche nicht. In dieser Darstellung schwingt aber gleichzeitig eine (politisch verordnete) normative Bewertung darüber mit, welche Konsummuster noch gesellschaftlich akzeptabel sind. Es wird der gesellschaftlichen Stigmatisierung bestimmter Konsummuster Vorschub geleistet, und zwar nicht durch spontan entstehende soziale Normen, sondern durch diskretionäre politische Entscheidungen. Ein anderes Beispiel sind die oben bereits angesprochenen Schock-Fotos.
Dahinter verbirgt sich ein breiter Trend in der Verbraucherpolitik, vom bisherigen Verbraucherleitbild des mündigen Verbrauchers zu einem sogenannten differenzierten Verbraucherleitbild überzugehen. Dieses definiert die Verbraucher situativ mal als „verletzlich“, mal als „vertrauend“ und mal als „verantwortungsvoll“. In jedem dieser drei Fälle sind sie aber paternalistisch betreuungsbedürftig. Im ersten Fall, weil sie schlicht nicht fähig sind, selbst gut zu entscheiden. Im zweiten Fall, weil sie könnten, aber nicht wollen, sondern lieber naiv auf die Redlichkeit der Anbieter vertrauen. Im dritten Fall, weil sie verantwortungsvoll sein wollen ““ also z.B. nur ökologisch unbedenkliche Produkte kaufen wollen ““ aber wiederum verführbar sind, so dass sie vor der Versuchung nicht-verantwortungsvollen Konsums durch Ver- und Gebote geschützt werden müssen.
Definiert man den mündigen Verbraucher derart weg, so werden die Konsumenten voll und ganz zum Spielball interventionistischer Verbraucherpolitik. Es gibt kaum eine denkbare Intervention in den Konsum, die nicht durch argumentative Winkelzüge mit zumindest einer der drei Komponenten des differenzierten Verbraucherleitbildes in Verbindung gebracht werden könnte. Dieses wiederum funktioniert als Universalrechtfertigung für Verbraucherschützer, die wie alle guten Bürokraten gerne ihre Budgets und Zuständigkeitsbereiche ausweiten möchten.
Das paternalistische Denken auf vermeintlich verhaltensökonomischer Grundlage hat sich also bereits weit vom Nudging entfernt; die schiefe Ebene des ubiquitären Interventionismus wurde bereits ein gutes Stück weit beschritten.
An einer anderen Stelle kann dagegen, zum gegenwärtigen Stand, weitestgehend Entwarnung gegeben werden. Die sogenannte „Arbeitsgruppe wirksam regieren“ im Bundeskanzleramt arbeitete einige Jahre lang relativ intransparent und lud so zu Spekulationen darüber ein, welche politischen Ansätze hier wohl geplant werden.
Was hier aber nun tatsächlich passiert kann als durchaus sinnvoller Einsatz verhaltensökonomischer Werkzeuge verstanden werden. Hier geht es etwa darum, Hygienestandards in Krankenhäusern durch entsprechende Interventionen zu verbessern, Verwaltungsprozeduren in Behörden effizienter zu gestalten, oder die Steuererklärung zu vereinfachen. Dagegen kann es eigentlich keine ernsthaften Einwände geben, und es zeigt, dass man die Idee des gezielten Einsatzes von Entscheidungsarchitekturen auch durchaus sinnvoll, zur Lösung konkreter und klar definierter Probleme einsetzen kann.
Schlussfolgerungen: Wo ist die Grenze?
Es gibt Ziele für den Einsatz von durchdachten Entscheidungsarchitekturen, bei denen vermutlich niemand ernsthaften Widerspruch äußern wird. Wenn etwa das Risiko der Infektion mit Keimen im Krankenhaus reduziert werden kann, indem experimentell überprüfte Entscheidungssituationen eingesetzt werden, so kann man wohl von einer Pareto-Verbesserung sprechen. Wie sähe es aber z.B. bei der Organspende aus?
Sicherlich könnte man sich wiederum darauf einigen, dass ein größerer Anteil von Spendewilligen in der Bevölkerung wünschenswert wäre. Mit einem Umstieg auf eine Widerspruchslösung nach österreichischem Vorbild würde man aber mit Sicherheit zahlreiche Individuen zu zufälligen Organspendern machen, die es eigentlich nicht sein wollen. Man würde ihre Präferenzen nicht mehr respektieren. Hier wären stattdessen sanftere Interventionen denkbar, etwa eine neutrale Aufforderung bei jeder Verlängerung des Personalausweises, eine Entscheidung über die eigene Spendenbereitschaft zu treffen. Man würde also lediglich ein Aufschieben der Entscheidung verhindern, aber die Entscheidung selbst nicht beeinflussen.
Auf seiner großen Schattenseite wird neue Paternalismus dort besonders übergriffig, wo er versucht, die Bürger auf einen vermeintlich vorbildlichen Lebensstil zu verpflichten, oder gar so etwas wie eine Konsummoral als verbindlich vorzugeben. Ärgerlicherweise bewegt sich derzeit in der politischen Diskussion viel in diese Richtung. Der Versuch von interessierter Seite, die selbständige Entscheidungsfähigkeit der Bürger bei alltäglichen Konsumentscheidungen infrage zu stellen, ist bereits recht weit fortgeschritten. Wie oben gesehen, ist die Behauptung von positiven Effekten eines paternalistischen Interventionismus aber mehr als zweifelhaft.
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Es ist schön, dass sich Prof. Schnellenbach dieses Themas annimmt. Ich fürchte nur, der „erzieherische Staat“ ist in Deutschland schon Realität. Man schau sich einmal an, was der sogenannte „Rat für Nachhaltige Entwicklung“ mit Steuerzahlergeld auf seinen Internetseiten so alles an fragwürdigen „Infomationen“ verbreitet:
Da wird so getan, als ob der Kauf von in Europa hergestellter Kleidung anstelle von Kleidung aus Entwicklungsländern einer „fairen“ Entwicklung dieser Länder dienen würde: https://www.nachhaltiger-warenkorb.de/themen/fair-produzierte-mode/ Wie kann man einen derartigen objektiven Unsinn im Auftrag der Bundesregierung verbreiten?
Oder es wird empfohlen, nur Produkte der biologischen Landwirtschaft zu kaufen ( https://www.nachhaltiger-warenkorb.de/themen/bio-lebensmittel-kaufen/ ), weil dies angeblich „nachhaltiger“ sei als konventionelle Landwirtschaft. Dabei ist der Flächenverbrauch der biologischen Landwirtschaft 1,8 bis 2 mal so hoch wie der Flächenverbrauch der konventionellen Landwirtschaft ( https://host.cals.wisc.edu/agronomy/wp-content/uploads/sites/16/2014/04/Tuomisto-et-al-2011.pdf ).
Bei einem derzeitigen Anteil von ca. 1% der Biolandwirtschaft an der Weltagrarproduktion (http://www.organic-world.net/yearbook/yearbook-2017.html ) müsste sich also die landwirtschaftliche Nutzfläche beim Übergang zur globalen Biolandwirtschaft verdoppeln! Das wäre dann aber nur noch mit einer sehr „anthropozentrischen“ Variante von „Nachhaltigkeit“ vereinbar. Durch die Ablehnung von Kunstdünger und genetisch veränderter Organismen hat sich der „Biolandbau“ vom technologischen Fortschritt abgeschnitten. Mit der konventionellen Landwirtschaft ließe sich dagegen, auch bei wachsender Weltbevölkerung die landwirtschaftliche Nutzfläche zugunsten der Natur reduzieren.
Derartige Probleme diskutiert der sogenannte „Rat für Nachhaltige Entwicklung“ natürlich nicht. Warum auch? Er hat soviel Steuerzahlergeld, dass er damit ausgedehnte Studien für eine weitere „Nachhaltigkeits-Erziehung“ der Bevölkerung finanzieren kann: https://www.nachhaltigkeitsrat.de/wp-content/uploads/2017/11/Mueller-Christ_Giesenbauer_Tegeler_2017-10_Studie_zur_Umsetzung_der_SDG_im_deutschen_Bildungssystem.pdf