Die Entwicklung freier, toleranter, menschlicher und letztlich auch demokratischer Gesellschaften war ein Produkt der Aufklärung, und die Aufklärung war ein Triumph der Vernunft über die Irrationalität. Das gilt zumindest für die westliche Welt, weil sie sich mit der Aufklärung endgültig aus dem mythischen Dünkel des Mittelalters befreien konnte. Der Kern der Aufklärung bestand bekanntlich aus der Aufforderung, sein eigenes Gehirn zu benutzen, statt vorgegebene Glaubenssätze wiederzukäuen, und sich um rationales Denken zu bemühen. Natürlich können wir Menschen allenfalls beschränkt rational denken. In ähnlicher Weise sind wir auch nur beschränkt zu Toleranz, Menschlichkeit und Aufrichtigkeit befähigt. Daraus schließt aber niemand, dass wir deshalb erst gar nicht versuchen sollten, tolerant, menschlich und aufrichtig zu sein. Ganz analog dazu verbietet sich der Schluss, es mit der Vernunft erst gar nicht zu versuchen, weil der Versuch ja doch immer nur von beschränktem Erfolg gekrönt sein wird.
Genau das wird aber bereits seit geraumer Zeit infrage gestellt, und zwar nicht etwa aus bildungsfernen Schichten heraus, welche sich durch Globalisierung und Digitalisierung abgehängt und entwurzelt sehen, sondern von einem stetig wachsenden Kreis von wohlbestallten Intellektuellen. Aus diesem Kreis wird die Irrationalität systematisch salonfähig gemacht, man könnte fast sagen, als alternativlos diagnostiziert. Das jüngste „Framing-Manual“ des „Berkeley International Framing Instituts“ von Elisabeth Wehling für die ARD ist dafür nicht mehr und nicht weniger als ein besonders prägnantes Beispiel. Anlass für das Manual waren nicht etwa die „Lügenpresse-Kampagnen“ hirnloser Pegida-Aktivisten, die hinter unserer gesamten bundesdeutschen Medienlandschaft eine große dunkle Verschwörung mit dem Ziel sehen, unser deutsches „Vaterland“ zu zerstören. Vielmehr sind jenseits der großen Bühnen hier und dort Stimmen laut geworden, welche den ÖRR in der heutigen Form zu teuer und mitunter auch zu eng mit der deutschen Parteienlandschaft verbunden sehen. Außerdem beklagen sie, dass er das meiste Geld für teure Sportübertragungen, Krimis oder seichte Seifenopern verwende und damit seinem eigenen Anspruch nicht gerecht werde. Diese Kritik stammt von honorigen Vertretern aus Journalismus und Wissenschaft, welche mit Fakten und Zusammenhängen argumentieren, die zu bedenken sich durchaus lohnt, egal, wie man am Ende urteilen mag. Mit den „Lügenpresse-Kampagnen“ und deren geistiger Grundlage haben sie jedenfalls nichts zu tun.
Nun sollte es selbstverständlich sein, dass sich auch und vielleicht gerade eine Institution wie die ARD offen solcher Kritik stellt und ihr in ihren Programmen jenen Raum gibt, den sie verdient. Stattdessen aber lässt man sich dazu hinreißen, sich ein „Framing-Manual“ erstellen zu lassen, das dazu auffordert und anleitet, die Kritiker des ÖRR pauschal zu diskreditieren. Wider besseres Wissens wirft das „Framing-Manual“ die „Nicht-Befürworter“ des ÖRR, deren „Angreifer“ oder „Gegner“ in einen Topf mit den „Lügenpresse-Skandierern“:
Eine ganze Batterie von abwertenden Schlagwörtern wurde über die Zeit von unterschiedlichen NichtBefürwortern der ARD auf das öffentliche sprachliche Tablett gehoben – von „Lügenpresse“, „Staatsfunk“ und „Steigbügel der Politik“ über „Dinosaurier“ und „Krake mit Wasserkopf“ bis hin zu „aufgeblähtem Selbstbedienungsladen“ mit „ausufernden Renten“ und vermuteten „Millionengehältern für prominente Fernsehgesichter“. (Seite 16; Fehler im Original)
Und niemand aus den Reihen der ÖRR hält es zumindest im Nachhinein für nötig, sich von solcherlei diffamierender Pauschalisierung zu distanzieren. Das allein ist eigentlich schon ein Skandal. Man könnte darin puren Opportunismus sehen. Aber der erklärt die Unbefangenheit nicht, mit der zum Beispiel ARD-Chefredakteur Rainald Becker öffentlich feststellt, keinen Skandal entdecken zu können und das Ganze ohnehin eine „künstlich aufgeblasene Diskussion“ findet. Wie ist das möglich? Es ist möglich, weil wir gerade dabei sind, es zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen, rationale Argumentation weltfremd zu finden. Und zwar mit der Begründung, dass wir Menschen zu rationaler Argumentation ohnehin nur beschränkt in der Lage sind. Da findet man es angemessener, es lieber gleich bleiben zu lassen. Was für ein Schluss! Aber genau so liest sich das auch in dem unsäglichen „Framing Manual“:
„Denken und sprechen Sie nicht primär in Form von Faktenlisten und einzelnen Details. (…) Der Grund ist einfach: Wenn Menschen sich für oder gegen eine Sache einsetzen, dann tun sie das nicht aufgrund von einzelnen Faktenargumenten und auch nicht aufgrund eines reinen Appellierens an ihren materiellen Eigennutz. Sondern, sie tun es, wenn sie das Gefühl haben, dass es ums Prinzip geht.“ (Seite 3).
Das ist noch harmlos, aber es kommt dicker. Denn Wehling maßt sich nicht weniger an, als das ganze argumentative Spektrum der Aufklärungsphilosophen kurzerhand beiseite zu wischen, indem sie schreibt:
„Entgegen dem gängigen Mythos entscheidet der Mensch sich nicht ‚rein rational’ und aufgrund einer ‚objektiver’ Abwägung von Fakten für oder gegen Dinge, denn objektives, faktenbegründetes und rationales Denken gibt es nicht, zumindest nicht in der Form, in der es der Aufklärungsgedanke suggeriert.“ (Seite 14; Hervorhebung von mir; Fehler im Original)
Nun wäre es keinem Vertreter des „Aufklärungsgedankens“ in den Sinn gekommen, Menschen würden und könnten stets „rein rational“ aufgrund „objektiver“ Abwägung entscheiden. Man darf ihnen vielmehr zutrauen, gewusst zu haben, dass sich die Reinform „objektiven, faktenbegründeten und rationalen Denkens“ bei keinem Menschen findet, nicht einmal bei ihnen selbst. Ebenso wie bei Tugenden der Menschlichkeit und der Aufrichtigkeit geht es immer nur um ein Streben nach etwas, von dem wir wissen, dass wir es aufgrund unserer Fehlbarkeit bestenfalls näherungsweise realisieren werden. Die Einsicht in die Fehlbarkeit ist sogar ein Kernbestandteil der Aufklärungsphilosophie, und gerade deshalb sind das Streben nach menschlichen Tugenden, nach Rationalität und nach Vernunft in Verbindung mit dem Wissen um die eigene Fehlbarkeit zur Grundlage unserer modernen, offenen und toleranten Gesellschaft geworden.
Das aber scheint man inzwischen alles für Quatsch zu halten – überholt von neuen Erkenntnissen. Um zu verstehen, warum man es neuerdings für überholten Quatsch hält, rational zu denken oder das auch nur ansatzweise zu versuchen, muss man wissen, welche erkenntnistheoretischen Grundlagen diesem Urteil zugrunde liegen. Es handelt sich um den auf die Mitte der 1970er Jahre zurückgehenden „Sozialkonstruktivismus“, der sich in weiten Kreisen der Gesellschaftswissenschaft und mit ihnen der Kommunikationswissenschaft zu einem heiligen Gral entwickelt hat. Seit rund zwei Jahrzehnten lernt der größte Teil der Studierenden gesellschaftswissenschaftlicher Fächer mit wenigen Ausnahmen diese Variante des Konstruktivismus als den nahezu ausschließlichen Standard der Erkenntnistheorie kennen. Gerade in den gesellschaftswissenschaftlichen Lehramtsstudiengängen und in der Pädagogik gehört er inzwischen weitgehend unhinterfragt zum Pflichtprogramm. Ganze Kohorten von Studierenden verlassen heute die Universität mit der Überzeugung, damit den state of the art der modernen Wissenschaftstheorie kennengelernt zu haben, während alles andere Schnee von gestern ist.
Worum geht es? Ganz allgemein zeichnet sich der Konstruktivismus durch eine Kernaussage aus: dass es nämlich keine für uns Menschen eindeutig identifizierbare Wahrheit gibt! Der Grund: Jede Verarbeitung von äußeren Eindrücken geht durch den Filter unserer ganz spezifischen Sinneswahrnehmung. Niemand kann ohne Sinne etwas wahrnehmen. Deshalb kann auch niemand hinter den Filter der Sinneswahrnehmung blicken und dort so etwas wie eine rein objektive Wahrheit erkennen, die von Sinneswahrnehmungen unabhängig ist. Daher ist auch kein Vergleich zwischen der sinnlich wahrgenommenen Wirklichkeit einerseits und einer irgendwie gearteten objektiven Wirklichkeit andererseits möglich. Möglich ist allenfalls ein Vergleich unterschiedlich wahrgenommener Wirklichkeiten oder unterschiedlicher „Konstruktionen von Wirklichkeit.“ Wegen des Wahrnehmungsfilters muss dagegen jede „Suche nach objektiver Wahrheit“ stets vergeblich bleiben.
So weit, so gut und so nachvollziehbar. Doch für gesellschaftswissenschaftliche Fragen ist das Problem schon deshalb kaum relevant, weil wir Menschen auf die Probleme unserer Gesellschaft alle mit den gleichen Sinnesorganen blicken und es jenseits dessen, was wir da sehen, keine relevante Wirklichkeit gibt. Alles, was wir sehen, ist von uns allen gleichermaßen beobachtbar und damit intersubjektiv vergleichbar. Um die Relevanz des Konstruktivismus dennoch auf die Gesellschaftswissenschaften übertragen zu können, wird deshalb darauf verwiesen, dass unterschiedliche soziale Gruppen zwar mit denselben Sinnesorganen, aber mit unterschiedlichen sozialen und kulturellen Hintergründen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit blicken. Mit diesem scheinbar kleinen Kunstgriff wird der Konstruktivismus auf die Gesellschaftswissenschaft übertragen und somit zum Sozialkonstruktivismus. Nicht die Filter unserer Sinnesorgane, sondern die Filter unserer jeweiligen sozialen Hintergründe, so behauptet er, machen jede Form von Objektivität in gesellschaftlichen Fragen unmöglich.
Daher löst der Sozialkonstruktivismus die Suche nach objektiver Wahrheit ab durch die „soziale Konstruktion von Wirklichkeit“. Davon gibt es so viele, wie es soziale Gruppen gibt. Jede ist stets gleichermaßen „wahr“, aber immer nur vor dem Hintergrund der jeweiligen sozialen Filter. Alles geht, nichts ist falsch, aber alles ist gleichermaßen subjektiv. Wer heute noch mit rationaler Argumentation nach objektiver Wahrheit sucht, erntet unter Sozialkonstruktivisten allenfalls mitleidiges Lächeln. Und das ist kein Randphänomen. Im Gegenteil: Kein Student und keine Studentin aus dem großen Kreis der Gesellschaftswissenschaften verlässt heute mehr eine deutschsprachige Universität, ohne mit dem Begriff der „sozialen Konstruktion von Wirklichkeit“ mindestens einmal und vermutlich recht häufig konfrontiert worden zu sein.
Die Verschiebung vom Filter der Sinne zum Filter des Sozialen führt allerdings eine völlig neue Begründung ein, welche allenfalls strukturähnlich mit dem ursprünglichen Argument ist. Schlimmer noch: Mit den „sozialen Filtern“ fußt der Sozialkonstruktivismus auf einer beliebig definierbaren Kategorie. Wie bedeutsam die sozialen Filter sind, wird nicht thematisiert. Sie werden vielmehr strukturgleich mit dem Filter der Sinneswahrnehmung einfach als undurchdringlich und unauflöslich definiert. Belege dafür gibt es nicht. Das stört die Sozialkonstruktivisten aber nicht. Im Gegenteil: Ihr Siegeszug dürfte gerade auf der daraus folgenden Beliebigkeit beruhen. Denn sie befreit von der manchmal peinigenden Frage, ob eine Aussage sachlich wahr oder falsch ist, und sie erlaubt stattdessen, unter den vielen denkbaren „Wahrheiten“ nach Gusto jene auszusuchen, welche auf einer vermeintlich moralisch überlegenen sozialen Konstruktion beruht. Das gleiche gilt für Diskussionsteilnehmer, die man unbeschadet der Rationalität oder des Faktengehalts ihrer Argumente pauschal in Gut und Böse, in Mitstreiter und Gegner, in Freund und Feind einteilen kann. Den Gegnern muss man gar nicht mehr zuhören, denn sie argumentieren in einer anderen, einer unmoralischen und daher in einer irrelevanten sozialen Konstruktion von Wirklichkeit.
Genau so geht das Framing-Manual für die ARD vor, kombiniert allerdings mit durchaus zutreffenden, aber wissenschaftstheoretisch wiederum abenteuerlich eingeordneten Erkenntnissen aus der Kognitionspsychologie. Herausgekommen ist dies: Bemühungen um Rationalität gelten per se als sinnlos, weil es so etwas wie rationale Argumente oder eine rational gesteuerte Annäherung an objektive Wahrheit nicht gibt. Stattdessen ist alles Denken davon abhängig, in welchem Rahmen es geschieht und durch welche sozialen Filter es geleitet wird. In der Psychologie heißen die sozialen Filter des Sozialkonstruktivismus „Frames“. Sie entstehen meist unbewusst, aber man kann sie auch bewusst „strategisch“ einsetzen, um das Ergebnis von Denkprozessen in eine „gewünschte Erkenntnis“ zu lenken. Zumindest in dem Framing-Manual wird das als völlig legitim erachtet, nicht zuletzt, weil es annimmt, dass es so etwas wie eine objektive Erkenntnis ohnehin nicht gibt. Schließlich kann man mit Hilfe von Frames niemanden von einer objektiven Erkenntnis wegführen, die nicht existiert. Das macht das Framing scheinbar sogar zwingend:
„Strategisches Framing ist ein stufenweiser Prozess, und: Es führt kein Weg an einem strategischen Framing vorbei, will man erfolgreich Mitbürger mobilisieren und sie heute und morgen für die ARD begeistern. (…) Moralisches Framing ist notwendig. (Seite 18-19)
Offen bleibt dabei, wer das Recht haben kann, zu bestimmen, welches Framing „moralisch“ ist. Dessen ungeachtet wird ohne weitere Diskussion festgehalten, wie im vorliegenden Fall des ÖRR nicht „geframed“ werden darf, weil es „moralisch falsch“ ist:
Die sprachliche Kategorisierung von den „privaten“ versus den „öffentlichrechtlichen“ Rundfunkanbietern fördert das Narrativ, nach dem beide in einem wirtschaftlichen Wettbewerb miteinander stehen – und etwa Rundfunkbeteiligungen der Bürger an ihrem gemeinsamen, freien Rundfunk ARD als wettbewerbsschädigend gelten. Das Framing ist höchst irreführend. (Seite 26)
Wenn dieses Framing „höchst irreführend“ ist, dann muss es mindestens ein Framing geben, das nicht irreführend ist. Hierzu wird einfach festgelegt, was offenbar nicht „irreführend“ ist:
Entsprechend ist auch das, was ARDGegner als „Zwangsabgabe“ oder „Zwangsgebühr“ begreifbar machen, kein Eingriff in die Freiheit der Bürger als – metaphorische – Konsumenten. Im Gegenteil, es ist die proaktive, selbstbestimmte (da demokratisch entschiedene) Beteiligung der Bürger am gemeinsamen Rundfunk ARD, die monatliche Rundfunkbeteiligung, die Beteiligung an der gemeinsamen medialen Infrastruktur oder auch der Beitrag zum gemeinsamen, freien Rundfunk ARD. (Seite 26)
Damit wird eine aus vielen möglichen „Wahrheiten“ als „moralisch richtig“ gesetzt und zugleich „geframed“, indem dazu geraten wird, die privaten Medienanbieter als „profitwirtschaftliche Sender“ oder „medienkapitalistische Heuschrecken“ zu bezeichnen (S. 22). Die Frage, mit welcher Legitimation ein solches Framing geschieht, wenn die Auswahl der Wahrheit zuvor keinem rationalen, offenen und demokratischen Diskurs unterworfen wurde, wird nicht gestellt. Der Grund ist einfach: Einen solchen Diskurs gibt es nicht, kann es nicht geben. Denn der Variation einer gern zitierten Banalität von Paul Watzlawick über Kommunikation zufolge, „kann man nicht nicht framen“. Also kann man auch keinen ergebnisoffenen und rationalen Diskurs vorschalten. Den aus Wehlings Sicht offenkundig naiven Glauben daran, dass es einen zumindest „framing-armen“ rationalen Diskurs geben könne, bezeichnet sie als „Frame-Negierungs-Falle“ (S. 16). Aus ihr folgt zwingend, dass man gleich mit dem „Framen“ anfangen muss, basiert auf einer willkürlichen moralischen Setzung.
Bedeutend ist, dass nicht einmal die Möglichkeit eines Bemühens um Abschwächung von Framing-Effekten konzediert wird. Kein auch nur näherungsweise rationaler Diskurs geht, alles und jedes folgt stets aus dem jeweiligen Framing. Das hier das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird, ist nur eine Sache. Die andere Sache ist, dass die einzige Legitimation für das elitäre Setzen der gewünschten „Wahrheit“ darin besteht, dass ohnehin zwangsläufig alles „geframed“ sei und dass man als Vertreter der „Guten“ den „Gegnern“ im Framing unbedingt zuvorkommen müsse.
Alles das wird im Anschluss in Empfehlungen zu einzuübenden Phrasen gegossen. Diese dienen dazu, die Kommunikation der ÖRR-Mitarbeiter nach außen so zu framen, dass den „Gegnern“ das Wasser abgegraben wird. Wohlgemerkt nicht mit Argumenten und Fakten, sondern allein durch die Suggestivkraft der eingeübten Phrasen. Hier nur ein paar Beispiele:
„Die ARD ist von uns, mit uns und für uns geschaffen.“ (Seite 27)
„[D]ie ARD ist die Gesellschaft: Wir sind Ihr.“ (ebd.)
„[E]in Rundfunk, der von allen finanziert wird, der ist auch für alle da.“ (Seite 30; Hervorhebung im Original)
Hosianna! Was für ein offenkundiger Unsinn: Die ersten beiden Sätze könnten einer religiösen Schrift entnommen sein (wo sie vielleicht ihren Sinn hätten), der dritte dagegen ist schon sachlogisch falsch, weil der zweite Halbsatz aus dem ersten nicht folgt. Völlig egal? Haben auch die modernen Logiker von George Boole bis Bertrand Russell und all die anderen nur Unsinn erzählt, weil sie dem Irrglauben der Aufklärungsphilosophen von der Fähigkeit des Menschen zur Rationalität erlegen sind? Ist jede Art von Aussage beliebig, solange sie nur den anscheinend moralisch überlegenen Frames entspricht?
Nun könnte man auf die Idee kommen, solcherlei Propaganda unvermeidlich zu finden, wenn die ihr zugrundeliegende Behauptung von der Unmöglichkeit rationaler Diskurse wahr wäre. Aber das ist sie nicht. Denn das, was heute unter dem Begriff des Sozialkonstruktivismus firmiert, ist nichts Neues. Karl Popper nannte es den Relativismus. Genau wie im Sozialkonstruktivismus gibt es im Relativismus keine objektive Erkenntnis über Wahrheit und keine Objektivität. Daher ist alles möglich, alles ist gleich wahr oder gleich falsch, und in jedem Falle ist alles gleichermaßen subjektiv. Wie der Konstruktivismus gab sich der Relativismus als eine besonders konsequente Form des Skeptizismus. Popper bestritt aber, dass der Relativismus aus dem Skeptizismus folge. Und er wies den Weg, wie sich dieser Irrtum aufklären lässt. Hierzu unterschied er einerseits zwischen der Existenz einer von uns Menschen unabhängigen Wahrheit und andererseits der begrenzten Fähigkeit von uns Menschen, solche Wahrheit zu erkennen.
Popper anerkannte zunächst, dass es von unserer Existenz und unserer Wahrnehmung unabhängige objektive Wahrheiten gibt, die zumindest intersubjektiv soweit vergleichbar sind, dass es zu rationalen Diskursen zwischen Menschen reicht. Zum Beispiel: Egal, ob wir es wahrnehmen oder nicht: Da draußen gibt es ein Universum mit Sternen, Planeten und Monden. Die mögen andere Wesen ganz anders wahrnehmen als wir Menschen das mit unseren Sinnesorganen tun. Aber sie existieren, und sie werden auch dann noch existieren, wenn es keinen Menschen mehr gibt, der sie wahrnehmen und ihnen damit vermeintlich erst Existenz verleihen könnte. So wie diese von unserer Wahrnehmung unabhängig existierenden Himmelsköper, so existieren auch rein logische Wahrheiten, die sich nicht framen lassen und die völlig unabhängig von unserer Wahrnehmung ihre logische Struktur innehaben und auch dann noch behalten, wenn kein Mensch mehr die Erde bevölkert. Popper erwähnt das Beispiel der Primzahlen. Die Entwicklung von Zahlensystemen ist eindeutig eine kulturelle Leistung, die an die Existenz von uns Menschen gebunden ist. Aber sobald die Zahlen da sind, ist die Existenz der Primzahlen eine logisch unvermeidbare, von uns und unserer Wahrnehmung völlig unabhängige Wahrheit, welche keine soziale oder kulturelle Relativierung kennt und daher auch nicht „geframed“ werden kann.
Ob Wahrheit existiert, lässt sich also ziemlich sicher sagen. Inwieweit wir aber eine Wahrheit in Händen halten, werden wir jenseits empirisch leerer Tautologien niemals sicher sagen können. Wenn wir an eine Wahrheit glauben, dann können wir damit Recht oder Unrecht haben. Wir werden es nie sicher erfahren. Das ist der skeptische Teil des Arguments. Aber dieser Skeptizismus begründet keinen Relativismus und keine konstruktivistische Beliebigkeit. Denn erstens existiert so etwas wie eine für uns hinreichend objektivierbare Wirklichkeit. Und zweitens sind wir Menschen durchaus fähig, dieser Wirklichkeit näher zu kommen, auch wenn wir wiederum nie sicher wissen, ob das im Einzelfall geschehen ist oder nicht. Wenn der Hund den Mond anbellt, dann nimmt er etwas wahr, was auch wir wahrnehmen. Aber er versteht nicht, was es ist. Die Menschen sind dort hingeflogen und wohlbehalten wieder zurückgekommen. Andere könnten heute noch hinfliegen und die Mondautos finden, die Menschen dort hinterlassen haben.
Das mag ja alles nur eine Einbildung sein, so dass wir nicht viel weitergekommen sind als der Hund, der den Mond anbellt. Aber es ist eben sehr unwahrscheinlich, denn alle Beobachtungen und Erfahrungen, die wir in diesem Zusammenhang gemacht haben, lassen sich konsistent kaum anders zusammenfügen als mit genau der Geschichte, die wir kennen: dass da ein Himmelskörper ist, der die Erde umkreist, dass Astronauten dort hingeflogen sind, Spuren hinterlassen haben und vieles andere mehr. Damit sind wir der Wahrheit mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ein großes Stück nähergekommen als der Hund, der nur einen leuchtenden Kreis sieht. Für fast alle praktischen Probleme reicht das mindestens aus. Für soziale Phänomene reicht es erst recht, denn sie sind überhaupt nur vorstellbar und sinnvoll in der Welt der menschlichen Wahrnehmung.
Folgen wir dagegen dogmatisch dem Konstruktivismus, dann müssten wir jede Suche nach objektiver Erkenntnis aufgeben. Dann wäre der Hund nur anders „geframed“ als wir. Für ihn gibt es schlicht nur eine andere Wahrheit als für uns, und die hat den gleichen Rang, sie ist nicht mehr und nicht minder gültig als „unsere“ Wahrheit. Wir wissen nicht mehr als er, wie wissen nur „anders“. Wenn wir aber so weit gehen, dann können wir uns nicht mehr von wüsten Verschwörungstheorien abgrenzen. Denn sie müssen dann genauso viel und genauso wenig wahr sein wie das, was wir nach gängigen Standards als wissenschaftliche Theorien anerkennen. Und wenn wir so weit gehen, dann gilt das schließlich auch für Reichsbürger, Holocaustleugner, Kreationisten und all die anderen Irren. Sie würden dann nicht an irgendeinen Schwachsinn glauben, sondern sie wären lediglich anders „geframed“ als andere und betrieben daher eine andere soziale Konstruktion von Wirklichkeit. Das zu beurteilen, was diese Leute erzählen, wäre dann nicht mehr eine Frage von wahr oder falsch, sondern allein eine Frage der rechten Moral.
Wenn wir so weit gehen, dann treten Fakten schließlich vollständig in den Hintergrund. Alles geht, weil nichts mehr auf seine Übereinstimmung mit intersubjektiv wahrgenommener Realität überprüft wird. Der Unsinn, der dann nach Belieben verzapft werden kann, fällt am Ende niemandem mehr auf, solange deren Urheber nur ihre Zugehörigkeit zu den „Guten“ signalisieren. Tun sie das nicht, dann gelten sie nichts, egal wie rational ihre Argumente sind. Wie weit man das treiben kann, haben zwei amerikanische Wissenschaftler und Witzbolde namens Jamie Lindsay und Peter Boyle kürzlich demonstriert. Ihnen war es gelungen, einen frei erfundenen „wissenschaftlichen“ Artikel unter dem Titel „The conceptual penis as a social construct“ in einem sozialwissenschaftlichen Journal unterzubringen (Cogent Social Sciences, 3, 2017, S. 1-17). In diesem Artikel behaupteten sie, dass das männliche Geschlecht lediglich eine soziale Konstruktion und als solche ursächlich für den Klimawandel sei: „Wir argumentieren, dass der konzeptionelle Penis nicht als ein anatomisches Organ verstanden werden kann, sondern als ein gender-performatives, hochgradig fluides soziales Konstrukt.“ (ebd., S. 2; Übersetzung von mir). Nachdem der teilweise mit Textgeneratoren völlig sinnfrei formulierte Artikel erschienen war, machten sie ihren Coup öffentlich. So etwas geht durch, wenn sich niemand mehr für die Rationalität eines Diskurses und für seine Rückbindung an Fakten interessiert, sondern allein für das „moralisch und strategisch korrekte“ Framing.
Gewiss kann man „nicht nicht framen“. So wie man auch „nicht nicht kommunizieren kann“. Wohl aber kann man mehr oder weniger kommunizieren, und so kann man auch mehr oder weniger framen. Zurückhaltung in der Form der Übermittlung von Information, Bemühungen, gewollte oder ungewollte Frames zu vermeiden, alles das wird möglich, sobald wir die Beliebigkeit erkennen, auf der das Dogma der „sozialen Konstruktion von Wirklichkeit“ beruht. Nicht umsonst bedienen sich mathematische Beweise einer Sprache, die weder Raum für „soziale Konstruktion“ noch für Framing lässt. Warum soll man sich in Diskursen nicht um eine Annäherung an eine „framing-arme“ Sprache bemühen können?
So ist das sogar einmal etabliert gewesen, in der Wissenschaft und im Journalismus. Aber durch den Siegeszug des Sozialkonstruktivismus ist es auf dem Rückzug. Denn mit ihm ist es chic geworden, die ehemals als vornehm geltende Zurückhaltung in der Übermittlung und Analyse von Fakten und Nachrichten weitgehend aufzugeben. Entsprechend moderieren Moderatoren heute nicht mehr, sondern sie kommentieren, sie konstruieren munter soziale Wirklichkeit, wie sie sie sehen und wie wir sie dann offensichtlich auch zu sehen haben. Sie framen ihre Informationen unverhohlen, und selbst in Satiresendungen wie der „Heute Show“ wird uns vor den jeweiligen Gags zunächst einmal erklärt, wie wir die Dinge zu sehen haben. Damit wir wissen, worüber wir lachen sollen. Das nervt selbst und vielleicht gerade dann, wenn man gleicher Meinung ist, weil man sich in seiner eigenen Urteilskraft nicht mehr erstgenommen fühlt. Fortwährend wird damit gegen die Mahnungen der Aufklärungsphilosophen verstoßen, unser Gehirn selbst zu nutzen, uns selbst ein Bild zu machen und damit in einen möglichst offenen und möglichst rationalen Diskurs zu treten. Und dass man mit der sozialkonstruktivistischen Rationalitätsverweigerung ungewollt das Feld jener Verschwörungstheoretiker bestellt, gegen die man anschließend „anframed“, fällt offenbar niemandem auf.
Jedes Jahr wird Journalisten der „Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis für Fernsehjournalismus“ verliehen. Dabei ist es kein Geheimnis, dass man sein vielleicht berühmtestes Zitat eigentlich überholt findet. Es ist nämlich geprägt von dem Bemühen um Vermeidung jedweden Framings und der Wahrung weitest möglicher Objektivität:
„Das hab‘ ich in meinen fünf Jahren bei der BBC in London gelernt: Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten (…).“ (Der Spiegel, 13/1995, S. 113).
Schön wäre es, man würde diese rationale Haltung zum Journalismus wieder beherzigen. Zumindest den „Lügenpresse-Krakelern“ würde das weit wirkungsvoller den Wind aus den Segeln nehmen als Propaganda-Übungsseminare auf der Basis von Framing-Manuals. Wirkungsvoller wäre es vor allem aus einem Grund: Weil es ehrlicher wäre, um Wahrheitssuche, Aufklärung und Rationalität bemüht.
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Langsam rächt sich, dass die Ökonomenzunft jahrzehntelang kaum über die erkenntnistheoretischen Grundlagen ihrer Disziplin nachgedacht haben.
Jetzt stellt sie verwundert fest, dass der philosophische Mainstream in Deutschland Positionen vertritt, auf denen sich keine Volkswirtschaftlehre im herkömmlichen Sinn mehr betreiben lässt.
Professor Apolte versucht hier zumindest einmal den Aufbau einer Gegenposition. Das ist sehr lobenswert. Aber wenn er seine Studenten zu den Kollegen vom Fach Philosophie schickt, werden sie dort etwas ganz anderes hören.