Die Schuldenbremse wird erst im nächsten Jahr vollständig, also auch für die Länder, wirksam. Für den Bund gilt sie dagegen bereits seit 2016, aber auch das ist keine lange Zeit. Eine echte Bewährungsprobe hat sie in Zeiten schnell wachsender Steuereinnahmen bisher noch nicht überstehen müssen. Dennoch hört man jüngst häufiger Kritik an der grundgesetzlichen Begrenzung der öffentlichen Verschuldung. Ob diese Kritik berechtigt ist, soll in diesem Beitrag kurz diskutiert werden.
Ist die Schuldenbremse eine exzentrische deutsche Besonderheit?
Nicht wenige Kritiker behaupten, die Schuldenbremse sei das Resultat einer typisch deutschen, ordnungspolitischen Obsession mit Regeln. Sie sei, so suggerieren diese Kritiker, reichlich provinziell, während weltläufige und international orientierte Ökonomen damit nichts anzufangen wüssten. Das ist jedoch nicht so. Ein Papier des IMF gibt einen Überblick über nationale und supranationale Fiskalregeln und zeigt, dass diese weltweit verbreitet sind. Natürlich sind diese sehr heterogen und es sind auch nicht immer Defizitregeln. In manchen Ländern gibt es beispielsweise auch Ausgabenregeln, die Höchstgrenzen für öffentliche Ausgaben festlegen. Ebenso sind nicht in allen Ländern die Fiskalregeln in den Verfassungen verankert, so dass Regierungen sie auch mit einfacher Mehrheit ändern können und die Bindungswirkung geringer sein dürfte. Aber ein Blick ins IMF-Papier zeigt, dass Fiskalregeln verbreitet sind. Viele Länder halten es für sinnvoll, solche Pflöcke für ihre Finanzpolitik einzuschlagen, weil sie Zeitkonsistenzprobleme erwarten, also befürchten, dass die Politik kurzfristig immer wieder Anreize hat, von langfristig sinnvollen finanzpolitischen Entwicklungspfaden abzuweichen.
Ist die Schuldenbremse nicht undemokratisch?
Ein weiterer Einwand gegen die Schuldenbremse ist, dass sie für demokratisch gewählte Parlamentarier den diskretionären Entscheidungsspielraum verengt. Darauf gibt es zwei Antworten, eine grundsätzliche und eine, die speziell die deutsche Schuldenbremse betrifft. Die grundsätzliche Antwort ist, dass es in fast jeder entwickelten Demokratie verfassungsmäße Einschränkungen dessen gibt, was im tagespolitischen Geschäft entschieden werden kann. Das betrifft beispielsweise Grundrechte, die vor Zugriffen geschützt sind. Aber auch sonst können Verfassungsregeln sinnvoll sein, vor allem dann, wenn wir mit einer zeitinkonsistenten Politik rechnen müssen. Die demokratische Politik bindet sich selbst an den Mast wie Odysseus, als er nicht den Sirenen folgen wollte. Aus einer verfassungsökonomischen Sicht bedeutet das: Wenn es gute Argumente dafür gibt, dass eine Schuldenbremse für die Bürger zustimmungsfähig ist, dann kann man sie als demokratisch legitimierte, politische Selbstbindung verstehen.
So abstrakt müssen wir zur Schuldenbremse aber gar nicht argumentieren. Ihr stimmten 2009 im Bundestag 418 Abgeordnete zu, 109 stimmten dagegen und 48 enthielten sich. Im Bundesrat stimmten nur drei Länder (Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein) dagegen. Mehr tatsächliche demokratische Legimitation kann man sich für eine demokratische Selbstbindung qua Grundgesetz kaum wünschen.
Und es kommt noch etwas hinzu. Natürlich schränkt die Schuldenbremse den normalen, tagespolitischen Entscheidungsspielraum von Regierungen bei der öffentlichen Verschuldung zunächst einmal ein. Das ist ihr Sinn und Zweck. Aber sie bindet die Politik nicht vollkommen. Der Art. 115 Abs. 2 des Grundgesetzes erlaubt es, im Fall von „Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen“ mit Kanzlermehrheit eine Anhebung der Verschuldungsgrenze des Bundes zu beschließen, wenn auch unter der Maßgabe, dass ein Tilgungsplan mit beschlossen wird. Es gibt also durchaus die Möglichkeit für die Bundesregierung, sich in Ausnahmesituationen höher zu verschulden, ohne dass dies einer verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit bedürfte.
Ist die Schuldenbremse trotzdem zu streng?
Zugegeben, das sieht auf den ersten Blick so aus. Die Länder dürfen sich gar nicht mehr verschulden, der Bund nur noch mit strukturellen (also um konjunkturelle Einflüsse korrigierten) 0,35%. Dies gibt der Bundesregierung durchaus die Flexibilität, nicht im Fall einer Rezession nicht in den Abschwung hinein sparen zu müssen, sondern die automatischen Stabilisatoren spielen zu lassen und so einen fiskalischen Impuls zu setzen. In einer schlechten konjunkturellen Lage, die sich in einer stark negativen Produktionslücke (einer großen negativen Differenz zwischen tatsächlichem BIP und Produktionspotential) zeigt, sind also auch deutlich höhere Defizite als 0,35% möglich. Umgekehrt sorgt die strukturelle Sichtweise dafür, dass in einer Hochkonjunktur mit Überauslastung und positiver Produktionslücke das zulässige Defizit in einem Jahr auch deutlich unter 0,35% des BIP liegen kann.
Gleichzeitig existiert ein Kontrollkonto, auf dem Abweichungen von den jeweils für ein Jahr berechneten zulässigen Defiziten erfasst werden. Erreichen die auf dem Ausgleichskonto gesammelten Defizitüberschreitungen insgesamt einen Schwellenwert, der nach einfachgesetzlicher Regelung derzeit bei 1% des BIP liegt, so ist der Saldo des Kontos in konjunkturellen Aufschwungphasen zurück zu führen. Damit wird sichergestellt, dass Bundesregierungen nicht beliebig lang und folgenlos zu hohe Defizite verantworten können.
Berücksichtigt man all dies, so macht die Schuldenbremse den Eindruck, durchdacht, aber nicht allzu streng zu sein. Sie stellt die Anreize in Rechnung, die Politiker im Tagesgeschäft haben und setzt ihnen Grenzen, wo diese Anreize zu einem gesellschaftlich unerwünschten Verhalten (also: zu permanenten und zu übermäßigen Defiziten) führen können. Dabei lässt sie der Politik aber dennoch die Flexibilität, die nötig ist, um auf konjunkturelle Entwicklungen angemessen reagieren zu können.
Aber wir sollten doch unseren Politikern trauen!
Nein, sollten wir nicht. Das Ausweichen auf die Finanzierung öffentlicher Ausgaben durch öffentliche Verschuldung ist kurzfristig immer wieder zu verlockend. Selbst in einem Land wie Deutschland, das sich immer fiskalisch konservativ gibt und von vermeintlichen Schuldenhochburgen in Südeuropa abgrenzen will, zeigt die Zeitreihe ein eindeutiges Bild. Noch Mitte der 1970er-Jahre lang der Anteil der Schulden des Gesamtstaates am BIP knapp unter 20%, auf dem Höhepunkt im Jahr 2010 bei knapp unter 80%. Der Anstieg ging auf das Konto von Bund und Ländern, während die anteilige Verschuldung der Gemeinden sogar gesunken ist.
Natürlich kann man argumentieren, dass auch eine Schuldenstandsquote von 80% kein Problem ist, schließlich gibt es Länder wie Japan, die mit Quoten über 200% leben können. So einfach ist es aber nicht. Die Zinsausgabenquote des Bundes erreichte auf dem Höhepunkt 1999 einen Wert von 16,64%. Fast jeder sechste Euro, den der Bund in diesem Jahr ausgab, wurde also für Zinszahlungen aufgewendet. Danach sank dieser Wert auf ein immer noch sehr hohes Plateau bei knapp 15%. Erst seit Deutschland von der Eurokrise und der damit einhergehenden sprunghaft gestiegenen Nachfrage nach deutschen Staatsanleihen profitiert, ist diese Quote auf rund 5% gesunken. Hier war aber schlicht das fiskalische Unvermögen anderer Euroländer das Glück der Deutschen.
Deutschland hat also die Risiken steigender Staatsverschuldung selbst erlebt. Man muss ein kurzes Gedächtnis haben, um dies bereits vergessen zu haben. Im Moment profitieren wir zwar vom Glück äußerer Umstände, aber diese müssen nicht notwendig dauerhaft robust sein. Die gerade erst wirksam werdende Schuldenbremse gleich wieder auszuhebeln mag in einem Niedrigzinsumfeld kurzfristig verlockend erscheinen, aber es wäre natürlich gleichzeitig ein Signal, dass Deutschland seine gerade erst kultivierte schuldenpolitische Trendwende gleich wieder aufgeben will. Anders gesagt: Könnte es nicht sein, dass die Nachfrage nach deutschen Staatsanleihen gerade deshalb so hoch ist, weil ein Land mit ernstzunehmender Schuldenbremse als Stabilitätsanker erscheint? Und wäre Deutschland dies noch, wenn es die Schuldenbremse über Bord werfen und sich wieder massiv verschulden würde, oder müssten wir dann selbst wieder mit steigenden Zinsen rechnen?
Man sollte es vielleicht eher so sehen: Wir haben hier einen Mechanismus gefunden, der mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die existierende Verschuldungsneigung von Regierungen kontrollieren wird. Dass es einen solchen deficit bias gibt, ist übrigens durch eine breite empirische Literatur untermauert. Vielleicht ist die Schuldenbremse noch nicht perfekt und kann hier und da nachjustiert werden, aber um dies herauszufinden, sollte man nun erst einmal über einen längeren Zeitraum bei diesem Regelrahmen bleiben und beobachten, wie gut er funktioniert.
Aber die Investitionen!
Der Anteil der öffentlichen Investitionen am BIP ist keineswegs, wie oft unterstellt wird, auf einem Rekordtief. Dieses wurde vielmehr in den 2000er-Jahren erreicht, als von der Schuldenbremse noch überhaupt keine Rede war und sich deutsche Regierungen für die Maastricht-Kriterien nicht wirklich interessierten. Die öffentliche Investitionsquote befindet sich derzeit grob auf dem Niveau, auf dem sie unmittelbar vor der Wiedervereinigung in Westdeutschland schon einmal war. Danach kam der Aufbau Ost mit entsprechend hohen Investitionsbedarfen, und schon Ende der 1990er-Jahre beobachteten wir eine Normalisierung mehr oder weniger auf das heutige Niveau. Einen kausalen Effekt der Schuldenbremse auf das Investitionsniveau wird man in dieser Zeitreihe beim besten Willen nicht finden können.
Wenn es hier ein Problem gibt, dann besteht es vielleicht darin, dass manche finanzschwache Kommunen nur einen geringen Spielraum für Investitionen haben. Dem kommt man aber nicht mit einer Lockerung der Schuldenbremse bei, es sei denn, man träumt davon, den deutschen Föderalismus durch massive vertikale Transfers an die Gemeinden noch etwas mehr auszuhöhlen. Sinnvoller wäre es vielleicht, die Finanzausstattung der Gemeinden systematisch zu verbessern und ihnen z.B. die Möglichkeit zu geben, autonome Zuschläge auf Einkommen- und Körperschaftsteuer zu erheben. Dann wären finanzschwache Gemeinden mit Investitionswünschen in der Lage, diese dem Äquivalenzprinzip entsprechend von ihren eigenen Bürgern finanzieren zu lassen.
Will man, dass der Bund mehr investiert, so findet man sicherlich bei den Transfers und den Konsumausgaben Spielräume. In den letzten Jahren wurde aber konsequent jeder neue Finanzierungsspielraum durch unerwartet hohe Steuereinnahmen genutzt, um zusätzliche Sozialausgaben und öffentlichen Konsum zu finanzieren. Es scheint also, als hätten Investitionen unter den maßgeblichen Bundespolitikern keine besonders hohe Priorität. Warum Befürworter einer Abschaffung der Schuldenbremse nun erwarten, dass die dann entstehenden Verschuldungsspielräume dann aber doch für Investitionen genutzt werden, bleibt rätselhaft. Wahrscheinlicher ist es, dass neue Ausgabenspielräume genauso wenig prioritär für Investitionen genutzt werden, wie es bei den alten Ausgabenspielräumen der Fall war.
Fazit
Die Schuldenbremse hat das Potential, ein Erfolgsmodell zu werden. Eine im Hinblick auf die Verschuldungsneigung berechenbare, kontrollierte Finanzpolitik, wie sie durch die Schuldenbremse gestützt wird, sorgt dafür, dass die Zinslasten in den öffentlichen Budgets weiter sinken und gering bleiben. Sie schafft damit auch neue Ausgabenspielräume. Wie diese genutzt werden, bleibt weiterhin der Tagespolitik überlassen.
Die Behauptung, dass eine Abschaffung der Schuldenbremse dazu führen würde, dass Deutschland etwa durch eine Investitionsoffensive zukunftssicher gemacht werden kann, ist dagegen naiv und durch keine Erfahrung gestützt. Sie basiert auf einer märchenhaften Vorstellung politischer Prozesse, die annimmt, dass von der Schuldenbremse befreite Politiker mit den neuen kurzfristigen Ausgabenspielräumen plötzlich das tun, was man sich immer gewünscht hat. Seriös ist diese Vorstellung nicht.
4 Antworten auf „Ist die Schuldenbremse sinnvoll?“