Über die Schuldenbremse wird heftig debattiert – nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz. Ist sie eine Wachstums- und Investitionsbremse? Ist sie überhaupt nötig? Und gäbe es nicht bessere Instrumente? 10 Fragen und Antworten rund um die Schweizer Schuldenbremse und warum das Deutschland interessieren könnte.
Der Schweizer Bundeshaushalt wurde einmal mehr von unerwartet guten Zahlen überrascht. Der Überschuss in der ordentlichen Finanzrechnung betrug im vergangen Jahr 2,9 statt der geplanten 0,3 Milliarden Franken. Der Überschuss wurde regelkonform für den Schuldenabbau verwendet. Das sorgt seit Jahren für Kritik: Die Schuldenbremse begrenze den Ausgabenspielraum übermässig und führe zu einer zu tiefen Verschuldung. Aus diesem Grund empfiehlt beispielsweise der Internationale Währungsfonds (IWF) der Schweiz nach seinem neusten Länderexamen eine Aufweichung der Regeln der Schuldenbremse – nicht das erste Mal. Die Schweiz ist dabei in guter Gesellschaft: Auch in Deutschland fordern IWF-Experten die Bundesregierung in ihren Länderberichten regelmässig auf, mehr Geld zu investieren und dafür auf die schwarze Null zu verzichten. Bestärkt durch einen Vortrag des ehemaligen IWF-Chefökonomen Olivier Blanchard hat sich in den beiden Ländern entsprechend eine lebhafte Debatte zur Schuldenbremse entwickelt. Der Grundtenor der Kritik: Schulden sind gut, die Schuldenbremse ist schlecht. Grund genug, diese Wahrnehmung anhand der Schweizer Schuldenbremse einer Beurteilung zu unterziehen.
10 Fragen zur Schweizer Schuldenbremse: Fakten und Wahrnehmung
Seit 1959 kennt die schweizerische Bundesverfassung eine allgemein gehaltene Vorgabe, die verlangt, dass Budgetdefizite des Bundes unter Berücksichtigung der Wirtschaftslage abzubauen sind. Betrachtet man die Schuldenentwicklung des Bundes, war davon aber lange nicht viel zu erkennen: Die Schulden stiegen insbesondere zwischen 1990 und 2002 stark von 37 auf über 120 Milliarden Franken – von rund 11 auf über 26 Prozent des Bruttoinlandprodukt (BIP). Nach einer Reihe temporärer Massnahmen zur Schuldenstabilisierung wurde 2003 mit Artikel 126 die sogenannte Schuldenbremse in die Bundesverfassung aufgenommen. Volk und Stände hatten diese wichtigste Fiskalregel auf Bundesebene zuvor mit einer Zustimmungsrate von 84,7 Prozent und einer eindeutigen Mehrheit in allen Kantonen angenommen. Das primäre Ziel der Schuldenbremse kann dabei bereits aus deren Name abgeleitet werden: die Stabilisierung der Bundesschulden – also ohne Kantone, Gemeinden und Sozialversicherungen. Indem über den Konjunkturzyklus die Ausgaben nicht höher sein dürfen als die Einnahmen, wird der Schuldenstand nominell stabilisiert und die Schulden wachsen nicht mehr. Bei gleichbleibendem Schuldenstand und wachsender Wirtschaft sinkt mit der Zeit die Schuldenquote. Ist dies sinnvoll oder zu restriktiv? Die wichtigsten Fragen rund um die Schuldenbremse im Überblick.
1. Braucht die Schweiz überhaupt eine Schuldenbremse?
Staatsschulden sind durchaus sinnvoll: Mittels Fremdfinanzierung können etwa Investitionen in die Infrastruktur realisiert werden, die in späteren Jahren Dividenden abwerfen, welche die Kreditkosten übertreffen. Zudem können in schweren Wirtschaftskrisen oder im Falle von Naturkatastrophen mithilfe von Schulden die Ausgaben kurzfristig erhöht werden. Auch haben Staatschulden eine wichtige ökonomische Funktion zur Glättung der Steuerbelastung über den Konjunkturzyklus (Barro, 1997). Das Problem in der Praxis ist allerdings: In schlechten Zeiten werden die Staatsausgaben zwar erhöht, doch in guten Zeiten werden sie nicht wieder abgebaut – und der Schuldenberg steigt kontinuierlich weiter. Die politökonomische Literatur zeigt, dass abhängig vom jeweiligen institutionellen Rahmen Anreize entstehen, höhere Staatsdefizit oder Schulden anzuhäufen, als dies gesellschaftlich optimal wäre. In der Literatur werden verschiedene Argumente für diese inhärente Neigung zu Defiziten und Verschuldung («deficit bias») angeführt (Alesina und Passalacqua, 2016; Feld, 2018): Vom Common-Pool-Problem (Weingast und Shepsle, 1981) bis hin zur Zeitinkonsistenz (Kydland und Prescott, 1977). Um diese politökonomischen Probleme in der demokratischen Finanzpolitik zu adressieren, bedarf es klug ausgestaltete Rahmenbedingungen. Die Schuldenbremse kann eine solche Regel zur Überwindung des «deficit bias» sein.
2. Begrenzt die Schuldenbremse wirklich die Staatsverschuldung?
Die Schuldenbremse deckt neben dem ordentlichen auch den ausserordentlichen Bundeshaushalt inklusive den Investitionen ab. Sie gilt verbindlich für das Budget und die Staatsrechnung eines jeden Haushaltsjahres. Über ein Amortisations- und Ausgleichskonto wird sichergestellt, dass strukturelle Überschreitungen der Ausgabenobergrenze in den Folgejahren berücksichtig werden müssen. Eine strukturelle Unterschreitung der Ausgaben im Vergleich zu den höchst zulässigen Einnahmen muss hingegen zwingend in den Schuldenabbau investiert werden (sogenannte Asymmetrie). Die Regeln senken bei wachsender Wirtschaft die Verschuldungsquote, auch wenn die nominale Verschuldung nicht sinkt.
Seit dem Inkrafttreten der Schuldenbremse 2003 sind die Bruttoschulden des Bundes entsprechend um 20 Milliarden auf 99 Milliarden Franken im Jahr 2018 gesenkt worden. Gemessen am BIP verminderten sich die Bundesschulden sogar noch stärker: von rund 26 Prozent auf 14 Prozent. Die Schuldenbremse war massgeblich an dieser Entwicklung beteiligt (Salvi, Schaltegger und Schmid, 2018).
3. Schränkt die Schuldenbremse dadurch die Ausgaben nicht übermässig ein?
Die Bundesausgaben sind stetig gestiegen, allein von 2003 bis 2018 von rund 50 auf knapp 71 Milliarden Franken – eine Steigerung von 41 Prozent. Das Bruttoinlandprodukt ist zwischen 2003 und 2017 ebenfalls um 41 Prozent gewachsen. Die Ausgabenquote ist entsprechend stabil. Warum? Die für die Ausgaben massgebenden ordentlichen Einnahmen werden mit einem Konjunkturfaktor (K-Faktor) korrigiert. Damit erlaubt die Regel bei Unterauslastung der Gesamtwirtschaft ein Defizit in der Finanzierungsrechnung; im Gegenzug fordert sie in Zeiten der Überauslastung einen Überschuss. Das Ausgabengebaren wird also vom konjunkturellen Verlauf der Einnahmen entkoppelt – die Ausgabenentwicklung wird verstetigt. Damit können die automatischen Stabilisatoren im Bundeshaushalt ihre Wirkung entfalten. Mit der heutigen Ausgestaltung der Schuldenbremse als Ausgabenregel bewegen sich die Ausgaben langfristig im Gleichschritt mit der Wirtschaftsleistung.
4. Verunmöglicht die Schuldenbremse neue Schulden?
Der Schweizer Bundeshaushalt kann jederzeit Schulden aufnehmen. Im Jahr 2018 sanken die Bruttoschulden zwar um 6 Milliarden auf 99 Milliarden Franken. Diese Reduktion ist hauptsächlich auf die Abnahme der Anleihen und der Geldmarktbuchforderungen zurückzuführen. Im Jahr 2018 wurde beispielsweise eine Anleihe von nominal 7 Milliarden zur Rückzahlung fällig. Aufgrund der hohen Mittelzuflüsse wurden die fälligen Schuldpapiere nur teilweise ersetzt – jedoch wurde ein beachtlicher Teil der Schulden wieder aufgenommen – also erneuert.
5. Beeinträchtigt die Schuldenbremse die Handlungsfähigkeit in Krisenzeiten?
Die Schuldenbremse erlaubt die Berücksichtigung der konjunkturellen Schwankungen des Wirtschaftsverlaufs und garantiert damit, dass die Plafonierung der Ausgaben über die konjunkturbereinigten Einnahmen weder zu restriktiv noch zu expansiv wirkt. In ausserordentlichen Situationen – beispielsweise schweren Rezessionen oder Naturkatastrophen – kann der Ausgabenplafond der Ausgabenregel mit einem qualifizierten Mehr beider Räte (beide Parlamentskammern) erhöht werden. Das System hat sich bewährt: Als sich 2009 abzeichnete, dass die Finanzkrise auf die Realwirtschaft übergreifen würde, hat das Parlament drei Stufen diskretionärer Stabilisierungsmassnahmen verabschiedet. Alle drei Stufen konnten – dank vorhandenen strukturellen Überschüssen – unter Ausnutzung des finanzpolitischen Spielraums gemäss Schuldenbremse durchgeführt werden. Gezielte Fiskalimpulse zur Adressierung einer starken Nachfragelücke waren also möglich. Seit der Einführung der Schuldenbremse im Jahr 2003 ist ein deutlicher Trend zur verstärkten Stabilisierung festzustellen (Schaltegger und Weder, 2010).
6. Ist die Schuldenbremse eine Investitionsbremse?
Es hat sich gezeigt, dass die Investitionen nicht von den laufenden Ausgaben verdrängt wurden. Der Investitionsanteil ist langfristig relativ stabil. Der Bund investiert sehr kontinuierlich. Die kontinuierlichen Investitionen können in der Regel durch die laufenden Einnahmen finanziert werden. Unter der Schuldenbremse schwer zu finanzierende Investitionsspitzen sind selten. Wo sie auftreten, werden Sonderlösungen gefunden. Ein Beispiel ist der FinöV-Fonds, der zur Finanzierung der grossen Bahnvorhaben NEAT und Bahn 2000 geschaffen wurde. Zwischen 1999 und 2016 wurde in der Schweiz beispielsweise der längste Eisenbahntunnel der Welt gebaut – und finanziert. 2019 soll der Investitionsanteil an den Ausgaben im Vergleich zum Vorjahr um fast 1 Prozentpunkt zunehmen. Bis 2022, dem aktuellen Planungsrahmen, ist ein Investitionsausbau um über 2 Milliarden vorgesehen. Volkswirtschaftlich stellt sich aber das Problem, dass ohne institutionelle Bremse ein übermässiges und eventuell auch ineffizientes Wachstum der Bundesinvestitionen zu erwarten wäre. Ein Beispiel ist die Gemeinde Leukerbad: In den 1990er-Jahren sind zweifelhafte Investitionsentscheidungen und finanzielle Beteiligungen an Infrastrukturprojekten zugunsten der örtlichen Tourismusbranche getroffen worden. Die Folge war letztlich die Insolvenz der Gemeinde. Denn neben dem Bund investierten auch die Kantone und die Gemeinden, in gewissen Bereichen wie der Gesundheit, der Bildung (Unter- und Mittelstufe) und dem Strassenverkehr (Ausnahme Nationalstrassen) sogar hauptsächlich. Und diese dürfen sich – oft unter der Einhaltung selbst erlassener Regeln – ebenfalls verschulden.
7. Bedroht die Schuldenbremse die Generationengerechtigkeit?
Die Belastung zukünftiger Generationen durch Staatsschulden hängt von verschiedenen Faktoren ab. Nachfolgende Generationen erben neben den Staatsschulden auch die entsprechenden Vermögenswerte. Falls mit den Schulden der ersten Generation staatlicher Konsum anstelle von Investitionen finanziert wird, schrumpfen der zukünftige Kapitalstock und damit die Produktionsmöglichkeiten nachfolgender Generationen. Die Krux dabei: Die staatliche Investitionstätigkeit kann sowohl mit zunehmenden als auch mit abnehmenden öffentlichen Schulden zu tief ausfallen. Wie aufgezeigt ist der Investitionsanteil in der Schweiz aber stabil. Zudem beseht ausserhalb des Bundeshaushalts eine zunehmende implizite Verschuldung: Die zukünftigen Rentenversprechen nehmen mit steigender Lebenserwartung zu, ohne dass deren Finanzierung gesichert ist. Gemäss einer Studie von Bernd Raffelhüschen übersteigen die heutige Rentenversprechen in der AHV den Barwert zukünftiger Einnahmen der AHV um 173,4 Prozent des Schweizer BIP. Die Schuldenbremse setzt immerhin der expliziten Verschuldung eine Grenze und verbessert damit die Generationengerechtigkeit.
8. Führt die Schuldenbremse zu mehr Ungleichheit?
Die Schuldenbremse hat weder die Ausgaben übermässig beschränkt noch Investitionen verhindert. Im Gegenteil: Ein gutes Beispiel ist der Bereich Bildung und Forschung, wo die Ausgaben seit 2008 von 5,3 auf 7,7 Milliarden Franken erhöht wurden. Der Anteil an allen Bundesausgaben hat sich damit von 9 auf 11 Prozent erhöht. Vielfach sind das auch Investitionen in die Chancengleichheit: Stellt der Staat gute öffentliche Bildungsangebote zur Verfügung, nimmt die Wichtigkeit der sozialen Herkunft als Faktor für den Bildungserfolg ab. Zudem ist der grösste Ausgabeposten seit Jahren die soziale Wohlfahrt: Die Schweiz wendete allein 2018 22,3 Milliarden Franken für die die soziale Wohlfahrt auf. Internationale Studien kommen für die OECD-Staaten zum Schluss, dass in den letzten 30 Jahren die obersten Einkommen beispielsweise in den USA, Grossbritannien und Kanada deutlich stärker angestiegen sind als die mittleren und tiefen Einkommen. Nicht so aber in der Schweiz: Während sowohl der Gini-Koeffizient als auch die Abweichung des Medians vom Durchschnitt im Trend leicht ansteigen, bleibt die Polarisierung stabil. Die hohen Arbeitseinkommen konnten also nur sehr leicht zulegen – was die Mitte jedoch nicht auseinanderdriften liess.
9. Verursacht die Schuldenbremse falsche Budgetprognosen?
Seit Einführung der Schuldenbremse 2003 wies die ordentliche Finanzierungsrechnung des Bundes in 12 von 16 Jahren einen Überschuss aus. In 14 von 16 Jahren fiel die ordentliche Finanzierungsrechnung des Bundes gar besser aus als vorgesehen. Der Überschuss beträgt allein im vergangen Jahr 2,9 statt 0,3 Milliarden Franken. Während die Einnahmen um über 2 Milliarden Franken unterschätzt wurden, resultierte ein ungenutzter Ausgabenspielraum in der Höhe von fast einer halben Milliarde Franken. Das Phänomen von pessimistischen Budgets ist aber nicht neu: Seit den 1990er-Jahren liegen die tatsächlichen Ausgaben tendenziell unter den budgetierten Werten. Warum? Nicht verwendeter Ausgabenspielraum ist in erster Linie Ausdruck einer funktionierenden Verwaltung: Während des Rechnungsjahres unterstehen die getätigten Ausgaben der Ressorts einer strengen Kontrolle durch Politik, Medien und Überwachungsstellen. Die Schuldenbremse hat durch die konjunkturadjustierte Deckelung des Ausgabenniveaus lediglich die Möglichkeit der Verschwendung öffentlicher Mittel – insbesondere in Phasen der Hochkonjunktur – erheblich eingeschränkt.
10. Verhindert die Schuldenbremse Steuersenkungen?
Klar ist: Die Schuldenbremse macht keine Vorgaben zur Steuerpolitik der Schweiz. Die finanziellen Überschüsse implizieren, dass ein Steuerniveau festgelegt worden ist, das höher liegt als für die Finanzierung der Staatsausgaben notwendig wäre. Die höher als für die Schuldenstabilisierung notwendige Steuerbelastung führt zu einer Verzerrung der Konsum-, Spar- und Investitionsentscheidungen seitens der Haushalte und Privatunternehmen und zu entsprechenden Wohlfahrtskosten. Steuern könnten also bei entsprechender politischer Präferenz auch mit der Schuldenbremse gesenkt werden. Falls politisch gewünscht ist, bei gleichzeitig stabiler Ausgabenquote mehr Schuldenfinanzierung zuzulassen, müssten konsequenterweise die Steuern gesenkt werden. Hierfür wäre ein Mechanismus notwendig, welcher die Ausgaben zwar begrenzt, die Aufteilung zwischen Steuer- und Schuldenfinanzierung aber vorgibt. Dies bedürfte eine komplexe Anpassung der Schuldenbremse.
Die Schweizer Schuldenbremse funktioniert. Sie hat nicht nur zu einem erheblichen Schuldenabbau beigetragen, sondern durch die konjunkturadjustierte Deckelung des Ausgabenniveaus auch die Möglichkeit der Verschwendung öffentlicher Mittel – insbesondere in Phasen der Hochkonjunktur – erheblich eingeschränkt. Die vom Parlament gesetzten Schwerpunkte in der Ausgabenpolitik werden unter der Schuldenbremse nicht gefährdet. Ein Hinweis dafür ist das stetige Wachstum des Bundeshaushalts und der vom Parlament prioritär behandelten Aufgabenbereiche Verkehr, Bildung und Forschung und soziale Wohlfahrt. Dass der Bund in seinem Wirken Schwerpunkte setzen muss, ist der Schuldenbremse nicht anzulasten, sondern entspricht einer an Wirkung, Nachhaltigkeit und dem sorgfältigen Umgang mit Steuergeldern orientierten Politik. Was könnte das für Deutschland bedeuten?
Was kann Deutschland aus der Schweizer Diskussion mitnehmen?
Deutschland ist dem Schweizer Beispiel der Schuldenbremse vor zehn Jahren gefolgt: Im Jahr 2009, unter dem Eindruck der Finanzkrise, schuf Berlin die Schuldenbremse. Es war die Zeit grosser Haushaltsnot. Der damalige Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) plante mit einem Defizit von 86 Milliarden Euro, die staatliche Gesamtverschuldung kletterte Richtung 80 Prozent des BIP – und damit weit über die Maastricht-Grenze von 60 Prozent. Als Folge daraus wurde die Schuldenbremse eingeführt: Sie lässt auf Stufe Bund in «normaler Konjunkturlage» ein jährliches strukturelles Defizit von 0,35 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts zu. Die Bundesländer dürfen ab 2020 in normalen Konjunkturzeiten kein Defizit mehr machen. Nun ist auch in Deutschland ist eine Diskussion entbrannt: Muss die Schuldenbremse angepasst oder gar abgeschafft werden?
Die Schweiz stellt sich dieser Diskussionen schon seit über fünfzehn Jahren. Die Argumente gegen die Schuldenbremse basieren teilweise auf einer einseitigen Wahrnehmung – die oben aufgezeigten Fakten widersprechen vielen Vermutungen der Kritiker. Bisher ist denn auch eine Mehrheit der Bevölkerung, Politiker und Experten von der Schweizer Schuldenbremse überzeugt: Der politische Grundkonsens, dass die Schuldenbremse weder gelockert noch umgangen werden darf, hat gehalten. Und das darf durchaus als Erfolg gewertet werden. Die Schulden wurden gesenkt, die nötigen Ausgaben getätigt und auch die schwächsten der Gesellschaft mitgenommen: Staatsschulden für zukunftsträchtige Innovationen sind nicht zwingend schlecht für das Wirtschaftswachstum – das Gegenteil kann der Fall sein. Aus ökonomischer Sicht sollte das Ziel daher sein, eine Schuldenbremse zu haben, die der Staatsverschuldung Grenzen setzt und gleichzeitig nicht als Investitionsbremse wirkt. Die Schweizer Schuldenbremse scheint dies zu leisten.
Eine gutausgestaltete Fiskalregel kann also eine optimale Ausgangslage für einen langfristig nachhaltigen Staatshaushalt schaffen. Regeln wie die Schuldenbremse leben nicht vom Buchstaben des Gesetzes alleine. Die rechtliche, «de jure», Verankerung muss «de facto» auch gelebt werden. Die stabilitätsorientierte Tradition verschafft der Regel politische Nachachtung. Fiskalregeln leben auch von der Stabilitätskultur. Man erinnere sich an die europäischen Konvergenzkriterien im Stabilitäts- und Wachstumspakt. Deutschland gehört zu den ersten Ländern, welche Anfang der Nullerjahre die Regel des maximal zulässigen Haushaltsdefizits von 3 Prozent des BIP gebrochen hatten. Andere europäische Länder folgten. Diese Episode zeigt eindrücklich, welche erodierende Dynamik für die Stabilitätskultur von einer Lockerung einmal eingeführter Fiskalregeln ausgehen kann. Dies gilt es auch bei den aktuellen Diskussionen um eine Lockerung der Schuldenbremse zu beachten – sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland.
Fazit: Der Versuchung widerstehen
Anpassungen und neue Elemente bergen die Gefahr, die Schuldenbremse politischem Druck auszusetzen und ihre Glaubwürdigkeit zu untergraben. Die Stärke der Schuldenbremse liegt gerade in ihrer klaren, mechanischen Wirkungsweise, die jedes Jahr gleich ist und von aussen kaum beeinflusst werden kann. Diese «Neutralität» gibt der Schuldenbremse eine grosse Legitimation und macht sie über die Zeit stabil. Eine Anpassung des Regelwerks könnte das Vertrauen und damit die Wirksamkeit der Schuldenbremse untergraben. Die politischen Bemühungen sollten daher in erster Linie auf eine adäquate Anwendung der Schuldenbremse – und nicht auf eine Abschaffung oder fundamentale Anpassung – hinauslaufen.
Literatur
Alesina, A. und Passalacqua, A. (2016). The Political Economy of Government Debt, Handbook of Macroeconomics, 2, 2599–2651. |
Barro, R.J. (1997). On the Determination of the Public Debt, The Journal of Political Economy, 87 (5), 940–971. |
Feld, L.P. (2018). The Quest for Fiscal Rules, Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungsökonomik, No. 18/09, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. |
Kydland, F.E. und Prescott, E.C. (1977). Rules Rather than Discretion: The Inconsistency of Optimal Plans. Journal of Political Economy, 85(3), 473–492. |
Salvi, M., Schaltegger, C.A. und Schmid L. (2018). Do Fiscal Rules Cause Lower Debt? A Case Study from Switzerland. Working Paper, University of Lucerne. |
Schaltegger, C.A. und Weder, M. (2010). Fiskalpolitik als antizyklisches Instrument? Eine Betrachtung der Schweiz. Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 11 (2), 146–177. |
Weingast B.R., Shepsle K.A. und Johnsen, C. (1981). The Political Economy of Benefits and Costs: A Neoclassical Approach to Distributive Politics, Journal of Political Economy 89(41), 642–664. |
Blog-Beiträge zum Thema:
Jan Schnellenbach: Ist die Schuldenbremse sinnvoll?
Christoph A. Schaltegger und Michele Salvi: Die Schuldenbremse lebt von der Stabilitätskultur
Die wichtigste Frage fehlt.
11. Ist die Schuldenbremse OHNE Beachtung der Leistungsbilanzsalden ein sinnvolles Konzept?
Da sowohl die Schweiz als auch Deutschland traditionell Leistungsbilanzüberschüsse erzielen, ist ein ausgeglichener Haushalt viel einfacher zu erreichen als bei einer ausgeglichenen Leistungsbilanz. Dies gilt umso mehr, seit die Überschüsse von 2 bis 3 Prozent in den letzten 15 Jahren auf über 8 bis 11 Prozent gestiegen sind. Einer muss in einem Kreditgeldsystem immer die Schulden machen. Im Falle von Deutschland und der Schweiz ist es eben der Rest der Welt. Denen sollte man dann aber nicht in jedem Fall eine unsolide Haushaltspolitik vorwerfen.
Viel wichtiger wäre es, die Verschuldung der einzelnen Sektoren (Private Haushalte, Unternehmen, Staat) im Kontext der Leistungsbilanz zu analysieren. Ein isolierter Blick ausschließlich auf den Staatshaushalt ist wenig zielführend; insbesondere für die Schweiz, die neben den extrem hohen LB-Überschüssen zugleich eine extrem hohe Verschuldung der privaten Haushalte vorzuweisen hat: https://www.nzz.ch/wirtschaft/die-privaten-haushalte-in-der-schweiz-weisen-eine-rekordhohe-verschuldung-auf-ld.1319983
LG Michael Stöcker