Laut EZB-Direktoriumsmitglied Mersch sollte die Notenbank erwägen, selbst in Phasen niedriger Inflation geldpolitisch gegen die Gefahr von Blasen an den Finanzmärkten vorzugehen. Mersch weicht damit überraschend deutlich von der bisherigen Sichtweise der EZB ab. Unser Finanzzyklus bestätigt die Sorge Merschs vor einer Blase am Immobilienmarkt und zeigt – am Beispiel der USA –, dass die Geldpolitik erfolgreich gegensteuern kann.
Lagardes Einschätzung …
Immer wieder weigerte sich EZB-Präsidentin Lagarde, die soeben begonnene Überprüfung der EZB-Strategie zu kommentieren, da sie deren Ergebnisse weder vorwegnehmen wolle noch könne. In einem Punkt – Assetpreisblasen und die Rolle der Geldpolitik – äußerte sie sich dennoch ziemlich klar. Auf Fragen über eine Blase an den Immobilienmärkten im Euroraum betonte sie, im Euroraum insgesamt sei so etwas nicht festzustellen. Sie signalisierte, dass gefährliche Entwicklungen nicht mit der Geldpolitik, sondern mit den sogenannten makroprudenziellen Maßnahmen (z.B. Kapitalpuffer) zu bekämpfen seien. Lagarde liegt damit auf einer Linie mit ihrem Vorgänger Draghi.
… und Merschs Vorstoß
Insofern überrascht der Vorstoß von EZB-Direktoriumsmitglied Mersch, sowohl was den Zeitpunkt – nur wenige Tage nach dem offiziellen Start der Strategieüberprüfung – als auch was die Richtung betrifft. Laut Mersch sollte die Notenbank erwägen, selbst in Phasen niedriger Inflation geldpolitisch gegen die Gefahr von Blasen an den Finanzmärkten vorzugehen. Er weicht damit deutlich von Lagardes Aussage ab.
Zwar betont Mersch, dass eine hohe Risikobereitschaft im Prinzip ein beabsichtigter Wirkungskanal der EZB-Geldpolitik sei.[1] Die entscheidende Frage sei aber, ob die Risikobereitschaft exzessiv sei, also zu Finanzmarktblasen führt oder nicht. Mersch erkennt solche Gefahren und verweist unter anderem darauf, dass die Wohnimmobilienpreise im Euroraum sich im Vergleich zu den Mieten auf einem historischen Höchststand bewegen würden. Hier wäre hinzuzufügen, dass in vielen EU-Ländern die Immobilienpreise deutlich zulegen. In rund zwei Drittel der EU-Mitgliedsländer steigen die Preise für Wohnimmobilien zurzeit um mehr als 5% gegenüber dem Vorjahr (Abbildung 1).
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Die makroprudenzielle Politik, mit der man die Blasenbildung bekämpfen könnte, wird laut Mersch durch eine Verlagerung des Kreditgeschäfts auf ausländische Banken oder den Schattenbankensektor umgangen und damit weniger effizient. Deswegen sollte die Geldpolitik eingesetzt werden, um die Entstehung von Risiken im Finanzsektor zu verringern, argumentiert Mersch. Er äußert sich in seiner Rede allerdings nicht, wann und wie die EZB einschreiten könnte. Hilfreich könnte hier ein Blick auf den Finanzzyklus sein. Um das zu zeigen, müssen wir allerdings etwas weiter ausholen.
Orientierungshilfe vom Finanzzyklus
Die Abbildungen 2 und 3 zeigen den von uns ermittelten Finanzzyklus im Euroraum und in den USA. Es ging uns hierbei nicht primär darum, gemeinsame Schwankungen eines breiten Satzes an Finanzvariablen zu ermitteln. Vielmehr wollten wir insbesondere solche finanziellen Schwankungen identifizieren, die zu Krisen wie der Großen Finanzkrise ab 2008 führen können. Methodisch sind wir bei der Ermittlung des Finanzzyklus einem von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) vorgestellten Ansatz gefolgt.[2]
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Wie kann nun das Entstehen einer Blase an den Finanzmärkten verhindert werden? Rein formal sollte der nächste Hochpunkt im Finanzzyklus im Unterschied zu früheren Zyklen möglichst wenig über der Nulllinie liegen. Das kann nur gelingen, wenn die Aufwärtsdynamik im Vergleich zu früheren Zyklen gebremst wird, solange sich der Zyklus noch erkennbar unterhalb der Nulllinie befindet.
Weniger technisch argumentiert ergibt es kaum Sinn, gegen übermäßig riskante Geschäfte nur zeitweise vorzugehen, weil sich finanzielle Ungleichgewichte über einen sehr langen Zeitraum aufbauen. Laut BIZ dauern Finanzzyklen etwa 15 bis 20 Jahre, also deutlich länger als Konjunkturzyklen. Es dürfte also noch lange dauern, bis Anzeichen für eine Überhitzung klar erkennbar sind, und noch viel länger, bis die Blase platzt. Aber gerade diese Länge von Finanzzyklen ist gefährlich. Sie können sich der Wahrnehmung entziehen, gerade weil sie zu langsam für Investoren und Beobachter verlaufen. Wenn lange Zeit alles gut geht, warum sollte man dann eingreifen? Zu lange führen Finanzbooms zu einer Illusion von Reichtum, so dass in bestimmte, gerade angesagte Sektoren zu viel investiert wird. Es entsteht ein Wachstumsmodell, das zu stark auf Verschuldung basiert.
In den Vereinigten Staaten wurde der letzte Tiefpunkt im Finanzzyklus Ende 2012 erreicht, im Euroraum im Sommer 2015. Wie schon im letzten Zyklus, der dann in der Großen Finanzkrise endete, folgt also der Finanzzyklus im Euroraum dem in den USA nach. In den letzten Jahren verlief die Entwicklung allerdings unterschiedlich. Während sich der Zyklus in den USA zusehends abflachte, ist eine solche Tendenz im Euroraum nicht zu erkennen.
Ein Blick auf die Komponenten der Finanzzyklen zeigt nun, dass die Abflachung des US-Finanzzyklus auf die Bewegung des langfristigen Zyklus der realen Immobilienpreise in den USA zurückzuführen ist (Abbildung 5), während der langfristige Zyklus der realen Immobilienpreise im Euroraum im Gegensatz dazu sogar schon über die Nulllinie geklettert ist (Abbildung 4).
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Die Analyse des Finanzzyklus im Euroraum bestätigt also die Sorge Merschs, dass die Gefahr einer Blase am Immobilienmarkt im Euroraum immer mehr zunimmt. Makroprudenzielle Instrumente wurden offenbar bisher nicht ausreichend eingesetzt oder ihre Wirkung war wie von Mersch befürchtet nicht ausreichend. Dagegen kann die Geldpolitik offenbar einen erkennbaren Einfluss auf den Finanzzyklus ausüben, da der langfristige Zyklus der realen US-Immobilienpreise sich merklich abflachte, nachdem die US-Notenbank in den letzten Jahren den Fuß vom Gaspedal genommen hat.
Wunsch und Wirklichkeit
Die Erkenntnisse des von uns berechneten Finanzzyklus unterstützen den Vorschlag von EZB-Direktoriumsmitglied Mersch, bei künftigen geldpolitischen Entscheidungen deren Wirkung auf die Finanzstabilität stärker zu berücksichtigen. Wir erwarten allerdings nicht, dass eine Mehrheit im EZB-Rat der Sichtweise Merschs folgt, sondern wohl eher der eingangs erwähnten Auffassung von EZB-Präsidentin Lagarde, dass eine Reaktion vorderhand über makroprudenzielle Instrumente erfolgen sollte. Mersch selber hat in seiner Rede benannt, woran es wohl hapern dürfte: Die EZB müsste bereit sein, gegen die Gefahr von Blasen an den Finanzmärkten auch dann vorzugehen, wenn in Boomphasen die Inflation noch unterhalb des EZB-Ziels liegt. Dieser Schritt dürfte für die meisten EZB-Ratsmitglieder zu groß ausfallen.
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[1] Dieser Wirkungskanal funktioniert im Übrigen sehr effektiv, wie die Autoren einer im November 2019 veröffentlichten empirischen Studie der französischen Notenbank betonen: „After the ECB’s Governing Council Monetary policy meetings, market uncertainty has systematically fallen. It has done so even more in the past years. In particular, announcements related to asset purchases had a strong dampening impact on market uncertainty.“
[2] Die realen Kredite, das Verhältnis von Kreditvolumen zum Bruttoinlandsprodukt und die realen Immobilienpreise sind die kleinstmögliche Auswahl an Variablen, um den Finanzzyklus adäquat zu beschreiben, hat die BIZ ermittelt. Die Entwicklung der Aktienkurse spielt offenbar für die Bestimmung eines Finanzzyklus, dessen Höhepunkt tendenziell mit Bankenkrisen zusammenfällt, eine weniger wichtige Rolle. Zu einem sehr ähnlichen Ergebnis gelangt eine Mitte 2015 veröffentlichte Studie der EZB: Hanno Stremmel, “Capturing the financial cycle in Europe”, ECB Working Paper No 1811.
Technisch gesehen filtern wir im Einklang mit der Vorgehensweise der BIZ mit Hilfe eines sogenannten Bandbreitenfilters nach Christiano und Fitzgerald mit Zyklen von 8 bis 30 Jahren aus den drei Datenreihen entsprechende Zyklen heraus und ermitteln dann den Finanzzyklus durch Bildung eines einfachen Durchschnitts.
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Sehr gute Analyse-herzlichen Dank. Makroprudenziellen Maßnahmen – wie Erhöhung der Kapitalpuffer, strengere Kreditrichtlinien usw. – war die 2016 auch in der BRD verbindlich eingeführte „europäische Wohnimmobilienkreditrichtlinine“ NICHT bereits ein Schritt in diese Richtung???
Könnte z.B. die Deutsche Bundesbank & die deutsche BAFin & ggf. das deutsche BM Justiz & Verbraucherschutz hier NICHT selbst für den Bereich der BRD solche „Makroprudenziellen Maßnahmen“ veranlassen – und Kreditfinanzierungen ausländischer Banken stärker kontrollieren bzw. untersagen???
siehe auch – passend dazu:
https://www.handelsblatt.com/finanzen/immobilien/studie-welchen-einfluss-geld-aus-dem-ausland-auf-den-immobilienmarkt-hat/25557790.html?ticket=ST-5525135-EmDjwHWpxmk3wiNF0BMB-ap1&utm_term=Autofeed&social=ln-hb_hk-li-ne-or-&utm_medium=Social&utm_source=LinkedIn#Echobox=1582094385