Ostdeutschland und die Macht der Krise

1. Die Corona-Krise hat die Wirtschaft in Deutschland in einer labilen Phase getroffen. Schon im Jahr 2019 befand sich die Industrie in einer Rezession, und die Konjunkturprognosen im Winter gingen nur von einer schwachen Erholung im laufenden Jahr aus (arbeitstäglich bereinigt: +0,8%). Die Hoffnungen auf einen Konjunkturaufschwung wurden jedoch durch die Corona-Pandemie zunichte gemacht: Schon im ersten Vierteljahr 2020 schrumpfte die Wirtschaft leicht (-1,8% gegenüber Vorjahr), und im zweiten Quartal 2020 – also zur Zeit des weitgehenden Lockdown der Wirtschaft – lag das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland insgesamt sogar um 9,7% unter dem Niveau des Vorjahres. Da anders als in der Finanzkrise 2009 nicht allein die Industrie von dem Zusammenbruch von Lieferketten und den Restriktionen zur Eindämmung der Pandemie betroffen war, gerieten auch alle Bundesländer, in Ost und West, in ähnlicher Weise in den Strudel des konjunkturellen Abschwungs.

Frühindikatoren deuten jedoch darauf hin, dass die Konjunktur im dritten Quartal wieder Tritt gefasst hat, auch wenn die Unternehmen ihre aktuelle Geschäftslage noch immer deutlich schlechter einschätzen als im vergangenen Jahr. Nach heutigem Stand fallen die negativen wirtschaftlichen Effekte der Corona-Krise damit weitaus schwächer aus als anfänglich befürchtet: Auf das Gesamtjahr 2020 berechnet, dürfte das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland um etwa 5-6% sinken, in Ostdeutschland wegen des geringeren Industrieanteils sogar nur um 3-4 Prozent. Im kommenden Jahr ist dann unter der Annahme, dass es nicht zu einem neuerlichen Lockdown kommt, mit einem kräftigen Wachstum (um etwa 4-5%) zu rechnen. Aber alle Erfahrung lehrt, dass die Überwindung einer wirtschaftlichen Krise viel länger dauert als die Krise selber – auch nach der Wirtschafts- und Finanzkrise 2009 hat es mehr als 2 Jahre gedauert, bis sich die damals besonders betroffene Industrie von dem anfänglichen Schock wieder erholt hatte. Es wird daher wohl noch bis zum Jahresende 2021 dauern, bis das Vorkrisenniveau beim BIP wieder erreicht ist. Und fraglich ist, ob (und wenn ja: wann) die deutsche Wirtschaft wieder auf ihren mittelfristigen Wachstumspfad zurückkehren kann, denn viele Unternehmen haben Investitionen zurückgestellt, so dass das Produktionspotential für längere Zeit wohl schwächer zunehmen wird als vor der Corona-Krise. Überdies sehen viele Unternehmen die Folgen des Lockdowns weiterhin als existenzbedrohend an und könnten mittelfristig aus dem Markt ausscheiden, was ebenfalls zu schweren Verwerfungen in der Wirtschaft führen dürfte. Auch wenn geschlossene Betriebe zum Teil wieder – nachfragetrieben – neu öffnen dürften, können durch Unternehmensinsolvenzen bestehende Lieferbeziehungen durcheinander geraten und in langen Jahren aufgebautes Erfahrungswissen verloren gehen. Diese langfristigen Folgen der aktuellen Wirtschaftskrise finden in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion derzeit kaum Beachtung.

2. Die Wirtschaftspolitik hat schnell zu helfen versucht. Richtig und wichtig waren vor allem die Soforthilfen von Bund und Ländern sowie die erweiterten Kurzarbeiterregelungen, um temporäre Liquiditätsengpässe zu überrücken und größere Verwerfungen am Arbeitsmarkt zu vermeiden. Die Corona-Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen haben aber auch gezeigt, dass das Geld doch recht locker sitzt, wenn sich die Chance zu zusätzlichen Ausgaben ergibt. Dazu trägt auch bei, dass die Politik im Vorfeld der Landtags- und Bundestagswahlen im kommenden Jahr schlechte Nachrichten nicht gebrauchen kann und deswegen ohne große Not eine Reihe von corona-bedingten Hilfsmaßnahmen bis Jahresende 2021 verlängert hat.

Die öffentlichen Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden werden in diesem Jahr Schulden in einer Größenordnung von rund 215 Mrd. Euro aufnehmen (Quelle: DIW), um damit Steuerausfälle zu kompensieren, betroffene Unternehmen zu unterstützen und die Konjunktur anzukurbeln. Auch in den kommenden Jahren werden die Ausgaben höher sein als die öffentlichen Einnahmen – mit ausgeglichenen Haushalten ist frühestens ab dem Jahr 2023 wieder zu rechnen. Dass der Staat in einer für viele Unternehmen existenzgefährdenden Krise hilft und dass er konjunkturelle Mindereinnahmen durch Kreditaufnahme ausgleicht, ist nicht grundsätzlich zu kritisieren; ganz im Gegenteil. Jedoch haben viele Interessenvertreter innerhalb und außerhalb der Politik die Krise auch dafür genutzt, ihre schon lange erhobenen Forderungen nunmehr unter dem Vorwand einer starken Corona-Betroffenheit durchzusetzen. Zudem hat namentlich der Bund mit seinem „Zukunftspaket“ vom Juni 2020 die Gunst der Stunde genutzt, laut Koalitionsvertrag ohnehin geplante Maßnahmen vorzuziehen und diese mittels Schulden zu finanzieren – ein offenkundiger Verstoß gegen die erst in diesem Jahr in Kraft getretene Schuldenbremse, die gerade das verhindern sollte. Die konjunkturstabilisierenden Wirkungen dieser „transformativen“ Ausgaben werden wohl gering bleiben, die damit verbundenen Tilgungslasten uns jedoch noch auf Jahre begleiten: Der Bund plant beispielsweise mit einer Tilgungsdauer von 20 Jahren ab dem Jahr 2023, was bei zusätzlich aufgenommenen Schulden von rund 220 Mrd. Euro jedes Jahr Haushaltsüberschüsse von mehr als 10 Mrd. Euro erfordert; in einigen (ostdeutschen) Ländern sind noch kürzere Tilgungsperioden vorgesehen. Dies wird nur gehen, wenn disponible Ausgaben – und das sind vor allem Investitionen und Subventionen – gekürzt oder Steuern erhöht werden. Beides wäre mit Blick auf die weitere wirtschaftliche Entwicklung – gerade auch in Ostdeutschland – als problematisch anzusehen. Da die zusätzlichen Schulden aber nun einmal da sind, wird man in den kommenden Jahren sehr gut aufpassen müssen, wo denn die notwendigen Konsolidierungsbeiträge erbracht werden.

3. Die aktuelle Corona-Pandemie verstellt jedoch den Blick dafür, dass sich die ostdeutsche Wirtschaft ohnehin in einem tiefgreifenden Strukturwandel befindet, der nichts mit der Pandemie und den zu ihrer Eindämmung getroffenen Maßnahmen zu tun hat: In den Braunkohlerevieren ist der Ausstieg aus der Kohleverstromung eingeleitet, und es ist nicht sicher, ob hier tatsächlich ein wirtschaftlicher Neubeginn gelingen kann. In der Automobilindustrie muss der politisch gewollte Übergang zur Elektromobilität gemeistert werden, was das Geschäftsmodell vieler Zulieferfirmen in Frage stellt; dies hat dazu geführt, dass sich die Branche schon seit 2018 in einem Schrumpfungsprozess befindet. In fast allen Wirtschaftsbereichen wird zudem der demographische Wandel dazu führen, dass altersbedingt ausscheidende Arbeitskräfte nicht mehr vollständig ersetzt werden können – was nach Lage der Dinge nur durch verstärkte Produktivitätssteigerungen insbesondere durch Digitalisierung aufgefangen werden kann. Dies stellt Unternehmen und Arbeitnehmer vor zusätzliche Herausforderungen, insbesondere mit Blick auf den damit verbundenen Wettbewerbsdruck und zunehmende Qualifikationsanforderungen. Und schließlich wird die politisch erwünschte Umstellung auf eine weitgehend klimaneutrale Wirtschaft die gesamte Industrie auch in Ostdeutschland zu weiteren Anpassungen von Produktionsmethoden zwingen, was zusätzliche Investitionen erfordert – und das in einer Situation, in der die Unternehmen zunächst einmal die aktuellen Krisenfolgen abfedern müssen. Eine Krise hätte Ostdeutschland sicherlich gereicht; jetzt sind aber ganz viele Krisen auf einmal zu bewältigen.

4. Natürlich bietet der anstehende Strukturwandel auch Chancen – für neue, innovative Unternehmen, für Arbeitnehmer mit den „richtigen“ Qualifikationen, für Regionen, die derzeit vielleicht noch im Schatten der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung stehen. Aber man darf sich eben auch nichts vormachen und darauf vertrauen, dass der weitere „Aufbau Ost“ ein Selbstläufer wird. Ähnliche Herausforderungen gibt es auch anderswo (in Westdeutschland wie im Ausland), und heute weiß niemand, wer die anstehenden Aufgaben schneller (oder auch besser) lösen kann. Ich sehe jedenfalls keinen besonderen Vorteil für den Osten: Das Gerede von den „Transformationserfahrungen“ der Ostdeutschen, die einen Wettbewerbsvorteil darstellen sollen, darf man so ernst nicht nehmen, denn die heutigen Akteure sind ja andere als jene, die den Wiederaufbau nach der deutschen Vereinigung bewältigt haben. Zudem haben die Erfahrungen der letzten 30 Jahre vor allem eins bewirkt, nämlich dass viele Menschen in Ostdeutschland das Risiko scheuen. „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“ (Friedrich August von Hayek) funktioniert aber nur, wenn man Risiken einzugehen bereit ist. Insoweit kann diese „zweite Transformation“ leicht auch zu einer Überforderung der ohnehin schwächeren Unternehmen in Ostdeutschland führen, was der weiteren Entwicklung hierzulande einen weiteren Dämpfer verpassen könnte.

5. Zwei Grundsätze sollte die Wirtschaftspolitik nicht nur, aber gerade auch in Ostdeutschland künftig beherzigen: Zum einen dürfen Eingriffe nicht dazu führen, dass der notwendige und zum Teil auch politisch gewollte Strukturwandel behindert wird. Auch wenn irgendwo Arbeitsplätze verloren gehen, ist den Beschäftigten am ehesten geholfen, wenn sie anderswo neue Arbeit finden, nicht damit, dass Unternehmen mit nicht mehr funktionierendem Geschäftsmodell erhalten werden. Das gelingt am ehesten dadurch, dass die Anpassungsfähigkeit von Unternehmen und Arbeitnehmern erhöht wird, so durch die Schaffung von Freiräumen für regional angepasste Lösungen, durch Investitionen in die Qualifikation der Beschäftigten und die Stärkung der Innovationsfähigkeit der Unternehmen, was gerade in den ostdeutschen Ländern besonders bedeutsam ist. Industriepolitische Interventionen – wie die Ansiedlung neuer Unternehmen und Branchen oder die Unterstützung als besonders zukunftsträchtig angesehener Technologieentwicklungen – können diesen Strukturwandel unterstützen, dürfen aber auch in ihrer Wirkung nicht überschätzt werden: Die Erfahrungen mit einer „gestaltenden“ Strukturpolitik sind jedenfalls überwiegend negativ. Und zum anderen ist die Bereitstellung von (Förder-)Geld bestenfalls eine notwendige, aber keineswegs eine hinreichende Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg. Gerade die von den ostdeutschen Ländern mit gutem Recht eingeforderten Kompensationszahlungen für ihre Braunkohleregionen zeigen, dass es dort eher an guten Ideen zur Gestaltung des Strukturwandels als an finanziellen Mitteln fehlt; die „Wunschzettel“, die die regionalen Akteure nunmehr mit den Mitteln des Bundes abarbeiten wollen, zeigen eine erschreckende Einfallslosigkeit, denn weder neue Radwege noch hübsch sanierte Museen werden dazu beitragen, Unternehmen in die Region zu locken – und Modellregionen für 5G-Anwendungen sind gut und schön, aber bringen nichts, wenn sie nur dazu genutzt werden, Katzenvideos auch „an jeder Milchkanne“ ruckelfrei anschauen zu können ?.

6. Schließlich muss die Politik Verantwortung für ihr Tun übernehmen: Dort wo Schwierigkeiten der Unternehmen auf politische Entscheidungen zurückzuführen sind, hat die Politik zumindest eine moralische Verpflichtung, diese Folgen auch auszugleichen, zumindest aber dafür zu sorgen, dass die Auswirkungen für die betroffenen Arbeitnehmer bzw. Regionen abgefedert werden. Aktuell gilt dies beispielsweise für gezielte Hilfen an Branchen und Unternehmen, die durch das faktische Betätigungsverbot aufgrund des coronainduzierten Lockdowns der Wirtschaft betroffen sind, perspektivisch gilt das aber auch für Auswirkungen, die sich beispielsweise aus der Vorgabe ambitionierter Klimaschutzvorgaben in Deutschland ergeben. Unternehmer (und Arbeitnehmer) müssen zwar die Risiken tragen, die sich aus gesamtwirtschaftlichen oder technologischen Entwicklungen ergeben; sie können jedoch nicht für Risiken in Haftung genommen werden, die ihnen die Politik auferlegt. Dieser ordnungspolitische Kompass, von Walter Eucken (1952) unter der Bezeichnung „Konstanz der Wirtschaftspolitik“ als eines der konstituierenden Prinzipien marktwirtschaftlicher Ordnungen herausgearbeitet, wird leider aktuell kaum noch beachtet.

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