Bei ihrer Strategieüberprüfung steht die EZB noch am Anfang, aber in jedem Fall soll ihr Inflationsziel symmetrisch und leicht verständlich sein. Kann dann die neue Fed-Strategie noch ein Vorbild sein, die erklärtermaßen asymmetrisch ist, und deren Begründung alles andere als leicht verständlich wirkt? Wir bringen Licht ins Dunkel der Begrifflichkeiten und erläutern, wie die EZB eine Strategie formulieren könnte, die ihr für lange Zeit Spielraum für eine expansive Politik gibt.
Das neue EZB-Inflationsziel: symmetrisch und verständlich …
In ihrer Rede zur EZB-Strategieüberprüfung Ende September wollte EZB-Präsidentin Lagarde eigentlich keinerlei Ergebnisse präsentieren. Denn die EZB habe die wegen der Corona-Pandemie unterbrochene Überprüfung ihrer Strategie gerade erst wieder aufgenommen . Jetzt sei vielmehr „die Zeit des Zuhörens und Nachdenkens“. Sie werde lediglich auf die wichtigsten Themen und Fragen im Zusammenhang mit der Strategie eingehen. Mit Blick auf das künftige Inflationsziel machte sie aber eine Ausnahme, indem sie betonte, das EZB-Ziel solle von der Öffentlichkeit als „symmetrisch“ empfunden werden und es sollte für die Öffentlichkeit „leicht verständlich“ sein.
Nur was bedeutet dies? Der Begriff der Symmetrie wird von der EZB zwar ständig verwendet, dabei aber offensichtlich unterschiedlich interpretiert. So hatte der finnische Notenbankpräsident Rehn in einer Rede Mitte September seine Sympathie für die neue Fed-Strategie bekundet und betont, das neue Inflationsziel der US-Notenbank sei „eindeutig symmetrischer“ als das bisherige. Die Fed selber hat jedoch den Begriff des symmetrischen Inflationsziels nur in ihrer alten Strategie verwendet, ihn aber aus ihrer neuen Strategie bewusst herausgestrichen, weil sie ihre neue Vorgehensweise ausdrücklich als „asymmetrisch“ beschreibt.
Es scheint uns deswegen an der Zeit, Licht ins Dunkel der Begrifflichkeiten zu bringen. Unser vorweggenommenes Fazit: Im Gegensatz zur Fed wird die EZB wohl aus einer Reihe von Gründen bei der Formulierung ihrer Strategie weniger ins Detail gehen. In der Praxis dürfte sie aber einen Rahmen schaffen, der ihr genau wie der Fed die Möglichkeit schafft, ähnlich lange an einer sehr expansiven Geldpolitik festzuhalten.
… während Fed Asymmetrie betont
In einer Ende August gehaltenen Rede hat der stellvertretende Vorsitzende der US-Notenbank, Richard Clarida, im Detail begründet, warum die Fed ihre Strategie geändert hat. Leicht verständlich, wie von EZB-Präsidentin Lagarde für die Strategieprüfung der EZB gefordert, ist diese Begründung sicherlich nicht, denn sie benötigt recht viel Hintergrundwissen.
Clarida begann seine Ausführungen mit der Feststellung, dass aus Sicht der Fed eine Inflationsrate von 2 Prozent auf längere Sicht am besten mit ihrem Auftrag vereinbar ist, sowohl maximale Beschäftigung als auch Preisstabilität zu gewährleisten. Mit anderen Worten hat die Fed ihr eigentliches Inflationsziel nicht geändert. Revisionsbedürftig war aus ihrer Sicht lediglich der Weg, um dieses Ziel zu erreichen.
Die laut Clarida aus Sicht der Fed „bedeutendste Veränderung“ seit der letzten Strategieüberprüfung 2012 ist der Rückgang des sogenannten neutralen Zinses. Dieser Zins ist definiert als der Realzins, der mit Preisstabilität konsistent ist und bei dem das Bruttoinlandsprodukt sich auf mittlere Sicht im Einklang mit dem Produktionspotenzial entwickelt. Da Geldpolitik nur expansiv wirkt, wenn der (reale) Leitzins unterhalb des neutralen liegt, sei der gesamte Zinssenkungspielraum geringer geworden, sodass es wahrscheinlicher geworden ist, dass die Fed die Zinsuntergrenze immer wieder erreicht.
Wenn nun unter solchen Rahmenbedingungen die Geldpolitik lediglich darauf abzielen würde, nach einem Abschwung die Inflationsrate wieder auf 2% zu bringen, würde sich die Erwartung durchsetzen, dass die Notenbank ihr Ziel im Durchschnitt nach unten verfehlt, eben weil sie wegen der Zinsuntergrenze in einem Abschwung nur begrenzte Impulse geben kann. In jedem Konjunkturzyklus würden die Inflationserwartungen weiter unterhalb des Inflationsziels verankert. Dadurch steigt der reale Leitzins, was die Schlagkraft der Politik weiter beschränken würde.
Um eine solche Abwärtsspirale zu durchbrechen, habe die Fed beschlossen, dass die Geldpolitik während Phasen wirtschaftlicher Expansion „darauf abzielen muss, für einige Zeit eine Inflation von mäßig über 2 Prozent zu erreichen“. Mit anderen Worten, argumentiert Clarida, das Ziel, auf lange Sicht 2% zu erreichen, erfordert in einer Welt mit niedrigem neutralen Zins und folglich wahrscheinlichem wiederholten Erreichen der Zinsuntergrenze in wirtschaftlichen Abschwungphasen eine asymmetrische geldpolitische Reaktionsfunktion.
EZB dürfte inhaltlich zustimmen …
Wir gehen davon aus, dass die EZB inhaltlich die Analyse der Fed teilt und deswegen in der Praxis eine ähnliche Politik verfolgen dürfte wie die US-Notenbank. Schließlich haben EZB-Vertreter immer wieder auf die Folgen eines auch im Euroraum sinkenden neutralen Zinses hingewiesen. Auch betonte Lagarde Ende September, dass es immer wichtiger werde sicherzustellen, dass die konventionelle Geldpolitik (=Zinspolitik) über ausreichend Spielraum verfüge.
… aber viele Wege führen nach Rom
Allerdings dürfte die EZB der Fed aus verschiedenen Gründen im Wortlaut kaum folgen:
- Obwohl die EZB der Fed-Analyse inhaltlich zustimmen dürfte, ist deren Begründung eines sicherlich nicht: leicht verständlich. Übernähme die EZB die Fed-Strategie, würde die EZB vermutlich gegen den zentralen Leitstern verstoßen, den EZB-Präsidentin auch in ihrer letzten Rede zur Strategie hervorgehoben hat: „Geldpolitik kann nur dann glaubwürdig sein, wenn wir sicherstellen, dass unsere Ziele von den Menschen, denen wir dienen, wirklich verstanden und geteilt werden.“1
- Die Fed hat explizit betont, dass sie nach einem Unterschießen der Inflation über dem Inflationszielwert liegende Raten akzeptieren will, schweigt aber zum umgekehrten Fall. Hier könnte leicht der falsche Eindruck entstehen, dass sich die Notenbank mehr um Disinflation sorgt als um Inflation. In der neuen EZB-Strategie soll aber nach vielen Aussagen von EZB-Vertretern gerade hervorgehoben werden, dass die EZB gegen beide Entwicklungen mit gleicher Härte vorgeht.
- In der Vergangenheit haben EZB-Vertreter betont, dass die Geldpolitik durch vorübergehende Abweichungen vom Inflationsziel, etwa bei einem starken Ölpreisanstieg oder -rückgang, hindurchschauen sollte. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn diese die Inflationserwartungen nachhaltig verändern und somit zu Zweitrundeneffekten führen können, wenn diese Erwartungen zum Beispiel in Lohnverhandlungen einfließen. Eine explizite Orientierung an einem durchschnittlichen Inflationsziel könnte aus Sicht der EZB den falschen Eindruck vermitteln, dass die EZB ein solches Hindurchschauen nicht länger als sinnvoll erachtet.
Darum haben sich einige Direktoriumsmitglieder gegenüber einer Übernahme der Fed-Strategie auch deutlich reservierter gezeigt als Rehn oder sein irischer Kollege Makhlouf. So wies EZB-Vizepräsident de Guindos darauf hin, dass die EZB ein anderes Mandat hat als die Fed. Zudem ist aus seiner Sicht die Analyse der geldpolitischen Instrumente ohnehin wichtiger. Isabel Schnabel warnte wiederholt vor zu hohen Erwartungen bezüglich des Ausmaßes der Änderungen. Schließlich habe die bisherige Strategie gut funktioniert. EZB-Präsidentin Lagarde wies in ihrer Rede zur Strategieüberprüfung sinngemäß darauf hin, dass eine Strategie wie die der Fed nur dann überlegen sei, wenn die Menschen alle zur Verfügung stehenden Informationen optimal nutzen würden, was nicht realistisch sei.
Ein anderer Weg zum gleichen Ziel, …
Wie könnte die EZB-Strategie konkret aussehen? Wir bleiben bei unserer Prognose, dass der EZB-Rat sich zunächst einmal darauf verständigen wird, dass Preisstabilität nicht mehr bei „nahe, aber unter 2%“ gegeben ist, sondern schlicht bei 2%. Der Druck, die Geldpolitik weniger expansiv zu gestalten, wenn sich die Inflationsrate oberhalb von 1½% festsetzt, wäre dann geringer. Außerdem ist ein 2%-Ziel sehr einfach zu kommunizieren. Zudem ist es mit ihm dem Bürger leichter verständlich zu machen, dass die Geldpolitik symmetrisch ist, also nicht stärker reagiert, wenn die EZB ihr Ziel über- statt unterschreitet.. Außerdem würde die EZB mit einem schlichten 2%-Ziel dem Eindruck entgegentreten, sie könnte die Inflationsrate bis in die Nachkommastelle steuern.
Ansonsten gehen wir davon aus, dass die EZB an einigen wesentlichen Elementen ihrer bisherigen Strategie festhält, aber konkretisiert, was das für die praktische Umsetzung der Geldpolitik bedeutet. Einen möglichen Weg hat der französische Notenbankpräsident Villeroy in mehreren Reden aufgezeigt.2 Er betonte, seiner Ansicht nach würde das EZB-Inflationsziel, das „symmetrisch und mittelfristig“ ist, wahrscheinlich zu ähnlichen Resultaten führen wie die neue Fed-Strategie:
- Mittelfristig bedeute, dass die EZB die Inflationsentwicklung über einen ausreichend langen Zeitraum beurteilen sollte. Das mittelfristige Ziel müsse in zweierlei Hinsicht betrachtet werden: Es müsse zukunftsorientiert sein, um die Inflationserwartungen zu steuern, „aber es darf auch die Vergangenheit nicht ignorieren. All dies ist kein explizites durchschnittliches Inflationsziel, das ex ante festgelegt wird, würde aber ex post zu sehr ähnlichen Ergebnissen führen.“
- Symmetrisch bedeute, dass das numerische Ziel der EZB „ein Ziel und keine Obergrenze ist. Infolgedessen könnten wir bereit sein, für einige Zeit eine Inflation von mehr als 2% zu akzeptieren, ohne mechanisch eine Straffung unseres geldpolitischen Kurses auszulösen.“
…nämlich einer noch lange sehr expansiven Geldpolitik
Mit dem oben beschriebenen Rahmen versetzt sich die EZB in die Lage, noch viel länger als bisher, also auf Jahre hinaus, an ihrer sehr expansiven Politik festzuhalten. Schon in der Vergangenheit hat sie betont, dass sie an der extrem lockeren Politik festhält, bis sie feststellt, dass sich die Inflation substanziell der Zielrate von dann 2% annähert und sich dies auch „durchgängig“ in der Kernrate widerspiegelt. Innerhalb der neuen Strategie kann sie zusätzlich die Zielverfehlung nach unten berücksichtigen und deswegen den Fuß auch dann für geraume Zeit auf dem Gaspedal belassen, wenn die Inflation über den 2%-Zielwert klettert.
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2 Reden vom 25.5.2020 und vom 25.9.2020.
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