Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine jugendliche Person ein Universitätsstudium absolviert? Ist diese Wahrscheinlichkeit höher für den Sohn eines Professors als für den Sohn eines Metzgers? Und wie wahrscheinlich ist es, dass die Tochter einer Millionärin ebenfalls das obere Ende der Einkommensverteilung erklimmt? Solche Fragen zielen auf die intergenerationelle soziale Mobilität. Diese drückt aus, ob und inwiefern der soziale Status der Kinder von jenem ihrer Eltern abhängt. Mit ihr lässt sich also prüfen, ob und inwiefern die Redewendung „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“ ihre Berechtigung hat.
Die soziale Mobilität ist ein Schlüsselelement einer liberalen, meritokratischen Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft garantiert, dass sich jede Person einen hohen sozialen Status erarbeiten kann, unabhängig von Privilegien qua Geburt wie Vermögen, Beziehungen etc. Die Analyse der intergenerationellen sozialen Mobilität erlaubt somit zu prüfen, ob das meritokratische Prinzip in einer Gesellschaft eingehalten wird.
Wir bieten in unserem neusten Artikel[i]einen Überblick über den Forschungsstand zur intergenerationellen sozialen Mobilität. Darin zeigen wir, dass die gesellschaftliche Durchlässigkeit sowohl zwischen Ländern als auch zwischen Statusindikatoren variiert. Schliesslich hat auch die jeweilige Messmethode einen Einfluss auf die gemessene Chancengerechtigkeit. Wie die Abbildung zeigt, weisen die skandinavischen Länder eine besonders hohe Einkommensmobilität auf, während sich die USA und das Vereinigte Königreich durch eine höhere Persistenz auszeichnen. Die Abbildung stellt die sogenannten Persistenzraten dar. Eine Persistenz von 0.5 bedeutet, dass der soziale Status der aktuellen Generation zu 50 Prozent durch jenen der elterlichen Generation bestimmt wird.
– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –
Der Forschungsstand zur sozialen Mobilität in der Schweiz ist bisher noch sehr lückenhaft. Einige Studien schätzen für die Schweiz eine durchschnittliche Einkommenselastizität von 0,455.[ii] Das bedeutet, der Status der aktuellen Generation hat sich zu 45 Prozent des Status der Vorgängergeneration vererbt. Miles Corak von der Universität in Ottawa hat diesen Wert für seine «Great-Gatsby Kurve» verwendet.[iii] Damit liegt die Schweiz deutlich über der geschätzten Regressionsgerade. Das heisst, dass in der Schweiz – obwohl die Einkommensungleichheit nicht allzu stark ausgeprägt ist – die intergenerationelle Persistenz relativ hoch scheint. Eine neue vorläufige Schätzung von St.Galler Forschern misst demgegenüber einen deutlich tieferen Koeffizienten von nur 0.153 für die Einkommensmobilität.[iv] Damit wäre die Schweiz sogar gesellschaftlich noch durchlässiger als die skandinavischen Länder.
Bei der Bestimmung der sozialen Mobilität sollten allerdings nicht nur die aktuellen beiden Generationen miteinander verglichen werden. Soziale Veränderungen wie die Durchlässigkeit sollten mit einem langen Horizont beurteilt werden. In einer anderen Studie[v] untersuchen wir die langfristige intergenerationelle soziale Mobilität in der Schweiz am Beispiel der Universität Basel. Wir messen in erster Linie die Bildungsmobilität, überprüfen unsere Resultate jedoch auch mit anderen Datenquellen, wie etwa Erbschaftssteuerregistern und Zunftmeisterregistern. Dabei verfolgen wir 15 Generationen. Dieser Verlauf zeigt, dass die heutige Mobilität in etwa im langfristigen Mittel liegt. Vor allem Kriegsgenerationen sind immobile Gesellschaften, namentlich während des Dreissigjährige Krieges, dem Franzoseneinfall und den Weltkriegen. Besonders augenfällig ist dabei, dass der Einfluss der Grosseltern auf den Erfolg der aktuellen Generation bereits um die Hälfte verwässert, während für die Ur-Grosseltern gar keine statistisch zuverlässige Abhängigkeit mehr besteht. Dies erinnert etwas an Thomas Manns Nobelpreis geehrten Gesellschaftsroman «Buddenbrooks», der den Aufstieg und Niedergang einer Lübecker Kaufmannsfamilie beschreibt. Man könnte es gar als Buddenbrooks-Effekt bezeichnen.
In der zukünftigen Forschung zur sozialen Mobilität gilt es folglich drei Dinge zu berücksichtigen: Erstens sollten mehrere Statusindikatoren miteinander verglichen werden, da in einem Land beispielsweise die Einkommen deutlich mobiler sein können als der Bildungsstand. Zweitens sollten verschiedenen Messmethoden verwendet werden, da auch diese das Ergebnis wesentlich zu beeinflussen vermögen. Last but not least sollten nicht nur zwei aufeinanderfolgende Generationen berücksichtigt werden: Intakte Chancengerechtigkeit zeigt sich insbesondere dann, wenn sich der Einfluss der Familienbande nach wenigen Generationen verwässert.
— — —
[i] Häner, M. & Schaltegger, C.A. (2021). Fällt der Apfel weit vom Stamm? Ein Überblick über den Forschungsstand zur intergenerationellen sozialen Mobilität. Perspektiven der Wirtschaftspolitik. Ahead-of-Print.
[ii] Bauer, P. (2006), The intergenerational transmission of income in Switzerland – A comparison between natives and immigrants, Universität Basel Working Paper 2006/01, S. 1–37.
[iii] Corak, M. (2016), Inequality from generation to generation: The United States in comparison, Discussion Paper 9929, S. 1–14.
[iv] Chuard, P. & Grassi, V. (2020). Switzer-Land of Opportunity: Intergenerational Income Mobility in the Land of Vocational Education. Economics Working Paper Series 2011, University of St. Gallen, School of Economics and Political Science.
[v] Häner, M. & Schaltegger, C.A. (2020). The Name Says It All. Multigenerational Social Mobility in Switzerland, 1550-2019. IFF-HSG Working Papers. Working Paper No. 2020-1.
Blog-Beiträge zur sozialen Mobilität
Norbert Berthold: Die “Great Gatsby”-Kurve. Mehr als politische Propaganda?
Norbert Berthold und Klaus Gründler: Soziale Mobilität in der ganz langen Frist. Der Einfluss von Dynastien
- Die Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems richtig messen - 20. August 2021
- Von gesellschaftlichen Auf- und Absteigern - 9. März 2021