Gastbeitrag
Zeitgeist: Der unterschätzte Machtfaktor

In den hitzigen gesellschaftlichen Debatten unserer Zeit fällt regelmäßig der Begriff Zeitgeist. Was genau ist damit gemeint? Laut Duden steht der Zeitgeist für eine charakteristische allgemeine Gesinnung oder geistige Haltung einer bestimmten Epoche. Laut Wikipedia ist der Zeitgeist die Denk- und Fühlweise (Mentalität) eines Zeitalters. Doch so einfach ist es nicht. Gesellschaften sind zu heterogen, als dass man von einer „allgemeinen Gesinnung“ sprechen könnte. Allenfalls könnte diese „allgemeine Gesinnung“ so verstanden werden, dass der Zeitgeist von einer Bevölkerungsmehrheit getragen wird.

Aber auch das ist nicht zwingend der Fall. Der herrschende Zeitgeist kann auch von Bevölkerungsminderheiten geprägt und getragen sein, wie die aktuellen Debatten etwa um die sogenannte Gendersprache zeigen. Sicher spielen jüngere Generationen für das Entstehen des jeweils aktuellen Zeitgeists eine größere Rolle als ältere Generationen. Nicht selten dürfte eine intellektuelle Avantgarde besonderen Einfluss auf den Zeitgeist haben. Doch die Dominanz der „Spaßgesellschaft“ in den Dekaden um die Jahrtausendwende zeigt, dass der Zeitgeist nicht notwendigerweise durch intellektuelle Meinungshoheit geprägt sein muss. Eine präzise Definition oder allgemeingültige Beschreibung des Zeitgeists ist in jedem Fall nicht trivial.

Mir erscheint ein Charakteristikum zu sein, dass für Meinungen und Haltungen, die dem aktuellen Zeitgeist entsprechen, beim unverfänglichen Smalltalk im privaten oder beruflichen Umfeld kaum Widerspruch zu erwarten ist. In gewisser Weise ist der Zeitgeist so etwas wie ein verbreitetes „Narrativ“, das keiner weiteren Begründung mehr bedarf.[1] Wer hingegen vom Zeitgeist abweichende Meinungen und Haltungen vertritt, muss damit rechnen, hinterfragt zu werden und sorgfältig begründen zu müssen.

Deshalb ist es bequemer, sich dem Zeitgeist unterzuordnen und sich gängigen Erzählungen anzuschließen oder ihnen zumindest nicht zu widersprechen. Der Zeitgeist ist für manche Menschen auch deshalb attraktiv, weil er die Aura des Modernen versprüht. Wer modern und zeitgemäß wirken möchte, schließt sich gesellschaftlichen Trends an oder reitet auf den Wellen des Zeitgeistes mit. Leichter geht es kaum, nicht als unmodern oder „von gestern“ zu gelten. Problematisch wird dies, wenn gesellschaftliche Debatten dadurch einen undifferenzierten Charakter erhalten. Im schlimmsten Fall ersticken sie schon im Ansatz, wenn niemand Lust hat, sich gegen die herrschenden Erzählungen zu positionieren.

Leithammel und Herdentrieb

Bei der Entstehung des Zeitgeistes dürften ähnliche Mechanismen wirken wie beim „Herdentrieb“ an den Finanzmärkten, bei dem sich eine größere Masse gemeinsam in eine Richtung bewegt. Die meisten Finanzmarktakteure treffen ihre Entscheidungen nicht allein auf Basis einer tiefgreifenden eigenen Analyse. Sie orientieren sich auch an den Analysen und Einschätzungen anderer (renommierter) Marktteilnehmer, an gängigen Erzählungen und an bestehenden Trends. Ähnlich scheint es mit dem Zeitgeist zu sein. Menschen orientieren sich offenbar an gesellschaftlichen Strömungen – weil es bequem ist und weil es für viele Menschen angenehmer ist dazuzugehören, denn als Außenseiter oder Sonderling zu gelten.

Von Zeit zu Zeit ändert die Herde aber die Richtung und nimmt eine neue Haltung ein. Wie sehr der Zeitgeist vom Richtungswechsel betroffen sein kann, zeigt sich besonders deutlich an den aktuellen Aufreger-Themen rund um eine geschlechterneutrale Sprache und die „Regenbogen-Gesellschaft“. Beide Themen sind ganz und gar nicht neu. In den vergangenen Jahrzehnten fristeten sie allerdings weitgehend ein Schattendasein und galten eher als exotische Ideen randständiger Gruppen. In letzter Zeit sind die Themen stärker in die Mitte der Gesellschaft gerückt und dominieren nun in gewisser Weise den aktuellen Zeitgeist. Jetzt wirken zuweilen diejenigen wie randständige Exoten, die die geschlechterneutrale Sprache weiterhin für unnötig halten und deren gesellschaftliches Idealbild nicht aus Regenbogenfarben besteht. Zeiten ändern sich.

Generell kann ein neuer Zeitgeist das Ergebnis neuer Erkenntnisse oder Ereignisse sein und sollte deshalb nicht vorschnell pauschal als Modeerscheinung abgetan werden. So dürfte der Übergang von der „Spaßgesellschaft“ zur „Empathiegesellschaft“ mit markanten gesellschaftlichen Ereignissen wie der Corona-Pandemie zu tun haben. Ein neuer Zeitgeist kann aber auch entstehen, weil einflussreiche Personen oder Kleingruppen die Richtung vorgeben. Was in der Herde der Leithammel, ist im richtigen Leben immer öfter der Aktivist (oder die Aktivistengruppe).

Das Beispiel der genderneutralen Sprache zeigt auch, dass der Zeitgeist nicht unbedingt die Haltung bzw. Meinung der Mehrheit darstellen muss. Umfragen zufolge lehnt die Mehrheit der Deutschen die geschlechterneutrale Sprache ab.[2] Da in vielen Medien, Forschungsinstituten und staatlichen Institutionen inzwischen aber zunehmend „gegendert“ wird, kann der Eindruck entstehen, der Zeitgeist habe gedreht und die Gesellschaft begrüße (und verwende) heute mehrheitlich eine geschlechterneutrale Sprache. Tatsächlich laufen aber fast nur die Leithammel in diese Richtung, während ihnen ein großer Teil der Herde nicht folgt. Der Zeitgeist spiegelt also nicht unbedingt die vorherrschende Denkweise wider, sondern möglicherweise nur das, was öffentlichkeitswirksam inszeniert wird.[3] Beim Zeitgeist geht es zuweilen um Deutungshoheit und mit dieser Deutungshoheit geht auch Macht einher.

Wirtschaftspolitische Relevanz

Niemand kann sich von zeitgeistigen Einflüssen vollkommen frei machen. Konsumentscheidungen, Weltanschauungen und politische Präferenzen sind nie allein das Ergebnis einer intensiven eigenen Analyse. Die Orientierung an Vorbildern, Experten oder dem persönlichen Umfeld spielen eine mehr oder minder große Rolle. Für die Bereitstellung privater Güter ist das Phänomen des Zeitgeists kein Problem. Der Markt liefert, was den Verbraucherwünschen entspricht, denn die Unternehmen stellen sich auf deren Nachfrage und damit auch opportunistisch auf zeitgeistige Einflüsse ein. Dies zeigt ein Blick auf die Werbung: Noch vor wenigen Jahren war es bei Unternehmen en vogue, die Individualität und Einzigartigkeit der Menschen in den Vordergrund zu stellen. Das Maßgeschneiderte, die Personalisierung von Produkten und Dienstleistungen standen in der Werbung hoch im Kurs. In seinem Bestseller „Die Gesellschaft der Singularitäten“ beschrieb der Soziologe Andreas Reckwitz im Jahr 2017 die postmoderne Gesellschaft, die sich eben durch ein Höchstmaß an Individualität und Besonderheit des Individuums auszeichnet. Aktuell setzen Unternehmen in der Werbung nun wieder massiv auf das „Wir“ und auf die Bedeutung der Gemeinschaft. Die Unternehmen greifen den Zeitgeist auf und verstärken ihn damit.

Problematisch wird es allerdings bei der Bereitstellung von Kollektivgütern. Politische Entscheidungen werden bekanntlich nicht nur auf Basis von Sachargumenten getroffen. Um (wieder) gewählt zu werden, orientieren sich Politiker auch an gesellschaftlichen Stimmungen. Interessengruppen können durch geschicktes Vorgehen die Politik in ihrem Sinne beeinflussen. Im wirtschaftlichen Kontext spricht man von Lobbyismus. Dass Unternehmen und Wirtschaftsverbände versuchen, in der Politik Gehör zu finden und politische Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen, ist allseits bekannt. Doch auch andere Gruppen sind in der Lage, Gesellschaft und Politik im Sinne ihrer eigenen Anliegen zu steuern oder gar zu manipulieren. Dies gelingt im Zeitalter von Social Media besonders gut, weil sich Kampagnen mit geringen finanziellen Mitteln orchestrieren lassen. Wer es schafft, den Zeitgeist in seinem Sinne zu färben, gewinnt großen Einfluss auf die Politik. Auch Kleingruppen können dadurch für ihre Themen große Aufmerksamkeit bekommen.

Wenn Lobby- oder Aktivistengruppen so viel Einfluss erhalten, dass die öffentliche Debatte einseitig wird, wird es problematisch. Aktuell treten gut organisierte Kleingruppen insbesondere im Internet aggressiv auf und versuchen, ihre Anliegen rigoros durchzusetzen. Es findet kein ausgewogener, differenzierter Diskurs mehr statt, weil sich ein großer Teil der Gesellschaft aus den Verbalgefechten heraushält. Dadurch entsteht ein Zerrbild der öffentlichen Meinung und die Politik orientiert sich gegebenenfalls an einer vermeintlichen Mehrheitsmeinung, die es in der Realität gar nicht gibt.

Ökonomisch ist von herausragender Bedeutung, ob der Zeitgeist eher liberal oder kollektiv tickt. Seit einiger Zeit findet offenkundig eine gründliche Neuausrichtung statt. Die liberale Wirtschaftsordnung ist bereits seit der globalen Finanzkrise unter Druck. Die Übertreibungen im Finanzsektor haben ein schlechtes Bild auf unregulierte (bzw. schlecht regulierte) Märkte geworfen. Seitdem werden liberale wirtschaftspolitische Ansätze misstrauisch beäugt. Das Thema Staatsversagen findet hingegen keine entsprechende Aufmerksamkeit. In den letzten Jahren hat sich die Front gegen die Marktwirtschaft weiter verstärkt – auch durch Vertreter der jüngeren Generationen, die vom Wirtschaftsmagazin „The Economist“ als „Millenium-Sozialisten“ bezeichnet wurden und die meinungsstark und aktivistisch in sozialen Netzwerken unterwegs sind.

Die Akzeptanz der marktwirtschaftlichen Ordnung hängt u.a. auch vom Gerechtigkeitsempfinden der Menschen ab. Wenn sie die Ungleichheit der Einkommensverteilung hauptsächlich auf unterschiedliche Anstrengungen und Leistungen zurückführen („Jeder ist seines Glückes Schmied“), sind sie offener für Marktwirtschaft und marktwirtschaftliche Reformen. Wird die ungleiche Einkommensverteilung hingegen vor allem auf Diskriminierung und Ausbeutung zurückgeführt („Das System ist schuld“), ist der Weg geebnet für eine interventionistische Umverteilungspolitik inklusive Quotenregelungen aller Art. Welche der beiden Sichtweisen gesellschaftlich dominiert, hängt sicherlich teilweise auch von empirischen Befunden ab, aber zu einem guten Teil auch von zeitgeistigen Erzählungen.

Implikationen

Welche Möglichkeiten gibt es, den Einfluss des Zeitgeistes zu begrenzen? Relativ einfach wäre es, über eher weltanschauliche Fragen wie die genderneutrale Sprache per Referendum abstimmen zu lassen.[4] Damit würden Mehrheitsentscheidungen zu konkreten Themen herbeigeführt und der schweigende, nicht-zeitgeistorientierte Teil der Bevölkerung könnte seine Meinung geheim und unbeeinflusst zum Ausdruck bringen.[5] Der Bürgerwille bekäme mehr Gewicht.[6]

Eine zweite Möglichkeit wäre, die Ausschläge des Zeitgeists dadurch einzuebnen, dass inhaltliche Gegenpositionen öffentlich offensiver vertreten werden. Die zeitgemäße Form wäre sicher die Social Media-Kampagne. Allerdings eignet sich nicht jedes Thema für die oft emotional und unsachlich geführten Social Media-Gefechte – und nicht jeder Zeitgenosse mit ernsthaften Anliegen möchte sich an solchen Auseinandersetzungen beteiligen.

Für Ökonomen bleibt somit die Frage, wie sie dem Zeitgeist begegnen sollen, der sich derzeit unübersehbar gegen die marktwirtschaftliche Ordnung dreht. Wenn öffentlich überwiegend über Marktversagen gesprochen wird, ohne gleichzeitig das Staats- und Politikversagen sowie die vielen Errungenschaften marktwirtschaftlicher Prozesse zu erwähnen, wird die Wirtschaftspolitik Wege einschlagen, die zu Ineffizienzen und Wohlfahrtsverlusten führen. Sie müssen später korrigiert werden. Wie kann also das „Marketing“ für die soziale Marktwirtschaft verbessert werden, sodass das Pendel gar nicht erst in die falsche Richtung ausschlägt?

Der Versuch der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) im Juni dieses Jahres, mit plakativen Zuspitzungen gegen die Gegner der Sozialen Marktwirtschaft mobil zu machen, dürfte als gescheitert gelten. Nicht nur, dass die INSM nach öffentlichem Druck selbst zurückgerudert ist. Auch unter Ökonomen kam der Versuch der INSM nicht allseits gut an.[7]

Dennoch bleibt die Frage, wie größere Teile der Bevölkerung mit Argumenten für die Soziale Marktwirtschaft erreicht werden können. Mit dicken Studien und langen wissenschaftlichen Aufsätzen wird es kaum gelingen. Ökonomische Erkenntnisse und Zusammenhänge müssen auf einfachere, griffigere Formeln gebracht werden. Und als Multiplikatoren braucht man dann wohl auch prominente Fürsprecher oder Testimonials, die gelegentlich Partei ergreifen für marktwirtschaftliche Ansätze.

Wie es gehen könnte, hat der Kabarettist Dieter Nuhr in einem Interview mit der WELT gezeigt.[8] Auf die Frage „Woher kommt diese Wirklichkeitsverdrehung. Dass der Staat alles machen muss, dass der Kapitalismus und die Wirtschaft die Ursache allen Übels ist?“ antwortete er prägnant: „Es ist nicht alles gut in der Marktwirtschaft, aber da, wo es gut ist, ist Marktwirtschaft.“ Und weiter: „Um die Frage zu beantworten, wie Marktwirtschaft zum Hassobjekt werden konnte, muss man wahrscheinlich Psychologen fragen, das hat viel mit Neid und Status zu tun. Bei uns im marktwirtschaftlichen System sind, im Gegensatz zu den meisten anderen Regionen in der Welt, Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung, Bildung und ärztliche Versorgung garantiert. Da finde ich es erst mal bemerkenswert, dass so viele Leute glauben, wir lebten im falschen System. Ich hätte gerade in Corona-Zeiten nicht in einem anderen leben wollen. Viele glauben, in der Funktionärsherrschaft wäre alles besser.“

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[1] Vgl. auch Shiller, Robert (2020), Narrative Wirtschaft: Wie Geschichten die Wirtschaft beeinflussen – ein revolutionärer Erklärungsansatz.

[2] Vgl. infratest dimap (2021), Weiter Vorbehalte gegen genderneutrale Sprache und rtl.de (2021), RTL-Forsa-Umfrage: Mehrheit der Deutschen empfindet Gendern als störend.

[3] Vgl. Stadelmann, David (2020), Die öffentliche Meinung der schweigenden Mitte fehlt oder Podcast Wirtschaftliche Freiheit (2021), Die Ökonomie der öffentlichen Meinung.

[4] Abgestimmt werden könnte natürlich nur über die Verwendung der „Gender-Sprache“ in öffentlichen Institutionen. Ob jemand privat die genderneutrale Sprache bevorzugt oder nicht, bleibt jedem selbst überlassen und bedarf selbstverständlich keiner Regulierung.

[5] Vgl. Stadelmann, David (2020), Die öffentliche Meinung der schweigenden Mitte fehlt.

[6] In der repräsentativen Demokratie gehen viele Themen allein dadurch unter, dass Parteien einen bunten Themenstrauß en bloc zur Wahl stellen. Für den Wähler heißt dies, die Partei zu finden, deren Programmangebot für den Wähler den geringsten Kompromiss bedeutet. Elemente der direkten Demokratie könnten dazu beitragen, dass die Präferenzen der Wähler besser berücksichtigt und bedient werden.

[7] Vgl. Krieger, Tim (2021), Werbung für die Soziale Marktwirtschaft geht anders.

[8] Vgl. WELT Online (2021), Es gibt gute Gründe, als Kulturschaffender die Corona-Politik zu kritisieren. Interview vom 28.04.2021.

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