Was haben Annalena Baerbock, Gregor Gysi und Sigmar Gabriel gemeinsam? Sie alle waren bereits auf einer der vielen in den Medien regelmäßig veröffentlichten Listen der am häufigsten fehlenden Abgeordneten des Bundestags. Da das Debattieren und Abstimmen im Parlament als Hauptaufgaben von Abgeordneten gelten, stößt Abwesenheit in der Öffentlichkeit oft auf Unverständnis und Kritik.
Wer ein nüchternes Bild von Politik hat, dürfte von den mitunter bemerkenswerten Fehlzeiten einzelner Abgeordneter wenig überrascht sein. Ursächlich dafür ist, dass Politik eine Art Markt ist: der Markt für politische Dienstleistungen. Politiker und Parteien bieten politische Dienstleistungen an, Bürger, Interessengruppen und Lobbys fragen sie nach. Bezahlt wird mit Wählerstimmen, Information, Parteispenden oder Schlimmerem. Insofern ist es nur realistisch anzunehmen, dass Bundestagsabgeordnete bei Ihrer politischen Arbeit nicht ausschließlich die Interessen der Wähler vertreten und mitunter Eigeninteressen verfolgen. Abgeordnete reagieren aber auf Anreize, die im Markt für Politik gesetzt werden. Der zentrale Anreiz ist der politische Wettbewerb selbst. Er bringt die Politiker näher an ihre Kunden, die Bürger.
In einer kürzlich in der Fachzeitschrift Public Choice veröffentlichten Studie zeigen wir, wie politischer Wettbewerb dabei helfen kann, Bundestagsabgeordnete zu disziplinieren. Dabei untersuchen wir die Abwesenheit bei allen namentlichen Abstimmungen im Deutschen Bundestag von 1953 bis 2017. Abgeordnete fehlen seltener in namentlichen Abstimmungen, wenn sie mehr politischem Wettbewerb ausgesetzt sind und insbesondere dann, wenn es sich um Wettbewerb durch in den Bundestag gewählte Politiker aus demselben Wahlkreis handelt. Sobald Abgeordnete weitere Wettbewerber aus demselben Wahlkreise haben, reduziert sich ihre Abwesenheit in namentlichen Abstimmungen um durchschnittlich etwa sechs Prozentpunkte. Damit erklärt politischer Wettbewerb durch andere Bundestagsabgeordnete im selben Wahlkreis rund 50% der durchschnittlichen Abwesenheitsrate.
Wahlsystem und politischer Wettbewerb zwischen Bundestagsabgeordneten
Das deutsche Wahlsystem ist eine Kombination aus Mehrheits- und Verhältniswahl. Eine Hälfte des Bundestags setzt sich zusammen aus Abgeordneten, die durch eine relative Mehrheitswahl in den Wahlkreisen gewählt werden. Jeder Wahlkreis entsendet genau einen Direktkandidaten für den Bundestag. Die zweite Hälfte setzt sich aus über Verhältniswahl gewählten Abgeordneten von den Landesparteilisten zusammen. Kandidaten dürfen sowohl im Wahlkreis als auch auf den Parteilisten antreten. Wer als Direktkandidat im Wahlkreis unterlegen ist, hat immer noch eine Chance, über die Landesparteilisten in den Bundestag einzuziehen.
Diese Möglichkeit der Doppelkandidatur führt zu Unterschieden in der Anzahl der Bundestagsabgeordneten pro Wahlkreis: Falls ein unterlegener Wahlkreiskandidat mit Doppelkandidatur auf seiner Landesparteiliste hoch genug gesetzt ist, erhält der betroffene Wahlkreis einen zusätzlichen Abgeordneten neben dem bereits direkt gewählten Kandidaten. Während manche Wahlkreise so von bis zu vier zusätzlichen Abgeordneten von den Landesparteilisten profitieren, gehen andere Wahlkreise leer aus und haben nur ihren Direktkandidaten.
Die unterschiedliche Anzahl der Abgeordneten pro Wahlkreis bedeutet eine unterschiedliche Intensität des politischen Wettbewerbs im Wahlkreis, was wiederum Auswirkungen auf das Verhalten der Abgeordneten hat. Mehr Wettbewerb führt zu mehr Disziplin und bringt die Politiker den Bürgerpräferenzen näher. Vergleiche zwischen Abgeordneten sind im direkten Wettbewerb für die Wähler einfacher möglich und natürlich führt der Wettbewerb auch zu gegenseitiger Kontrolle der Abgeordneten. Politischer Wettbewerb macht es Abgeordneten dementsprechend schwerer, mal bei einer Debatte oder Abstimmung abwesend zu sein, denn sie müssen eher Konsequenzen fürchten.
Der kausale Effekt von politischem Wettbewerb auf Abwesenheit
Die Analyse eines kausalen Effekts politischen Wettbewerbs auf das Verhalten von Bundestagsabgeordneten bringt Herausforderungen mit sich. Es ist nur schwer möglich, alle potenziell relevanten Eigenschaften der Abgeordneten zu messen, wie etwa Charisma oder Kompetenz, die den politischen Wettbewerb und die Aktivität im Parlament beeinflussen könnten.
Um einen kausalen Effekt politischen Wettbewerbs genau zu bestimmen, machen wir uns eine Eigenheit des deutschen Wahlsystems zu Nutze. Während der Legislaturperiode gibt es regelmäßig Abgeordnete, die aus dem Bundestag austreten. Mit über 32,4% zählen Tod und Krankheit eines Abgeordneten zum häufigsten Austrittsgrund. Weitere Gründe, warum Abgeordnete austreten, sind politische Ämter (26,8%), der Eintritt in die Landes- oder Lokalpolitik (15,2%), Tätigkeiten im öffentlichen oder privaten Sektor (13,4%) oder andere Gründe wie die Verwicklung in Skandale (12,2%). Das frei gewordene Mandat wird dann vom ersten, noch nicht gewählten Kandidaten der Landesparteiliste eingenommen. Da Parteien nur einen Kandidaten pro Wahlkreis aufstellen dürfen, sind die Ersatzkandidaten immer aus einem anderen Wahlkreis als der ausgetretene Abgeordnete – vorausgesetzt, dass der Ersatzkandidat vorher in einem Wahlkreis angetreten und unterlegen ist. Austritte bewirken also genau zwei Änderungen in der Anzahl von Abgeordneten pro Wahlkreis, nämlich im eigenen Wahlkreis und im Wahlkreis des Ersatzkandidaten.
Sobald Abgeordnete aus dem Bundestag austreten und Ersatzkandidaten eintreten, ändert sich auch die Intensität des politischen Wettbewerbs für alle anderen Abgeordneten aus den jeweils betroffenen Wahlkreisen, und zwar unabhängig von deren Charisma oder deren Kompetenz. Dies erlaubt es uns, die durch aus- und eintretende Abgeordnete entstehenden Veränderungen des politischen Wettbewerbs zur Analyse des Effekts auf die Abwesenheit bei namentlich Abstimmungen im Bundestag zu nutzen.
Wettbewerb wirkt gegen Abwesenheit
Wir verwenden für unsere Analyse Daten aller Bundestagsabgeordneten für 17 Legislaturperioden von 1953 bis 2017. Insgesamt analysieren wir 8734 Beobachtungen von 3006 verschiedenen Abgeordneten. Davon waren 15,8% keinem zusätzlichen gewählten Wettbewerber aus demselben Wahlkreis ausgesetzt. Wir erklären die Abwesenheitsrate bei namentlichen Abstimmungen im Bundestag während einer Legislaturperiode. Üblicherweise wird im Bundestag nur per Handzeichen abgestimmt, aber für gewisse Abstimmungen kann eine namentliche Abstimmung, z.B. von den Fraktionen, beantragt werden. Die Veröffentlichung der Abstimmungsergebnisse und die tendenziell höhere Bedeutung von namentlichen Abstimmungen macht die Abwesenheitsrate in namentlichen Abstimmungen ein geeignetes – sogar eher konservatives Maß – um die allgemeine Abwesenheit von Abgeordneten zu messen.
Stärkerer politischer Wettbewerb reduziert die Fehlzeiten von Abgeordneten deutlich. Abgeordnete, die einem oder mehreren gewählten Wettbewerbern aus demselben Wahlkreis ausgesetzt sind, haben eine etwa sechs Prozentpunkte geringere Abwesenheitsrate als solche, die keinem Wettbewerbsdruck unterliegen. Damit wird fast die Hälfte der durchschnittlichen Fehlzeit von insgesamt 12,5% über den gesamten Analysezeitraum erklärt. Fehlender Wettbewerb ist also ein Haupterklärungsfaktor für Abwesenheit.
Unsere Analysen sind robust für große und kleine Parteien, zwischen direkt oder über die Landesliste gewählten Abgeordneten oder auch für die Knappheit des Ergebnisses der Direktwahl. Sie bestehen alle relevanten statistischen Tests.
Konsequenzen und Lehren
Gewählte Wettbewerber aus demselben Wahlkreis stellen einen Aspekt des politischen Wettbewerbs dar, der in der wissenschaftlichen Literatur wenig diskutiert wird. Doch gerade das wettbewerbliche Benchmarking von gewählten Abgeordneten, die im selben politischen Kontext aktiv sind, zwingt Politiker mehr auf die Präferenzen der Bürger einzugehen.
In der aktuellen Diskussion zum deutschen Wahlsystem steht hauptsächlich die hohe Zahl der Bundestagsabgeordneten im Mittelpunkt. Relevanter als die reine Größe des Bundestags dürfte jedoch der durch das Wahlsystem induzierte politische Wettbewerb sein. Denn Wettbewerb diszipliniert Politiker und bringt sie näher an ihre Kunden, die Bürger. Bundestagsabgeordnete reagieren auf wettbewerbliche Anreize. Für bürgernahe Politik dürfte es zielführend sein, wenn eine Reduktion der Größe des Bundestags auch mit einer Stärkung des politischen Wettbewerbs auf Wahlbezirksebene einhergeht.
Literatur
Frank, Marco & Stadelmann, David (2021, forthcoming): Political competition and legislative shirking in roll-call votes: Evidence from Germany for 1953–2017. Public Choice. https://doi.org/10.1007/s11127-021-00906-w