Trotz des langjährigen Ausbaus der erneuerbaren Energien ist Deutschland – wie die meisten anderen Industrieländer der Welt – immer noch auf fossile Energieträger angewiesen. Deutschland importiert fast 70% seiner Energieressourcen, wobei Russland derzeit der größte Lieferant von fossilen Energien ist. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat zu einem historischen Wendepunkt in der deutschen Energieversorgung geführt. Deutschland ist bestrebt, seine Abhängigkeit von Energieeinfuhren aus Russland so schnell wie möglich zu verringern. Die jahrzehntelange energiepolitische Verbindung zwischen Deutschland und Russland, die auch in den heißesten Zeiten des Kalten Krieges Bestand hatte, soll in den kommenden Jahren gelockert werden. Eine Renaissance dieser Energiebeziehungen ist unter dem derzeitigen politischen Regime in Russland kaum vorstellbar.
Deutschland plant einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien, wird aber auch in LNG-Infrastrukturen zur Diversifizierung der Gasversorgung, neue Gaskraftwerke, Stromnetze, Energieeffizienz von Gebäuden, Industrieprozessen und Mobilitätsdienstleistungen, kohlenstoffarme Heiztechnologien wie elektrische Wärmepumpen, Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge, Stromspeichertechnologien und Infrastrukturen zur Herstellung, zum Transport und zur Nutzung von (grünem) Wasserstoff in energieintensiven Industrien investieren. All diesen Zielen sind viele Grenzen gesetzt. Dazu zählen Kapazitäts- und Fachkräftemangel im Handwerk, im Baugewerbe und bei den Herstellern von Investitionsgütern, begrenzte finanzielle Mittel auf der Ebene der Verbraucher, der Unternehmen und des Staates, der Zeitaufwand für Planungs- und Genehmigungsverfahren oder lokale Widerstände gegen Windparks, neue Kraftwerke und/oder den Netzausbau.
Das kurzfristige Risiko, von den russischen Gas- und Öllieferungen abgeschnitten zu werden, ist im (industriellen) Wärmemarkt ausgeprägter und weniger schwerwiegend im Stromsektor. Während es sehr wahrscheinlich ist, dass die Gasversorgung bis Herbst 2022 gesichert ist, sind Engpässe für den Winter 2022/23 nicht auszuschließen. Die großen (politischen) Aufgaben auf kurze Sicht sind die Erhöhung der LNG-Importe auf europäischer Ebene, das Auffüllen der Gasspeicherkapazitäten über die Sommermonate und die Sicherung der Steinkohleversorgung. Wenn es im nächsten Winter zu physischen Engpässen bei Gas kommen sollte, könnten nachfrageseitige Maßnahmen ins Spiel kommen. Dazu gehört die planmäßige und geordnete Abschaltung von Industrieanlagen mit hohem Gasverbrauch. Der Verbrauch von Erdgas für Heizzwecke in privaten Haushalten würde gegenüber industriellen Anwendungen bevorzugt behandelt werden. Ein schnellerer Ausbau der erneuerbaren Energien ist eine Konsequenz aus der aktuellen Energiekrise, aber keine kurzfristige Lösung angesichts der begrenzten Möglichkeiten auf der Angebotsseite.
Die deutsche Energiestatistik in Kürze
Um die historische Dimension der beabsichtigten Änderungen in der deutschen Energiepolitik zu verstehen, ist es wichtig, ein Verständnis von der deutschen Energieversorgung und der Energienachfrage zu kennen. Daher erörtern wir die wichtigsten Daten und Fakten zum deutschen Energiemarkt.
Primärenergieverbrauch weiterhin von fossilen Energieträgern dominiert
Der Primärenergieverbrauch in Deutschland lag im Jahr 2021 bei knapp 12.200 Petajoule. Dieser Wert liegt 7,7% unter dem Durchschnitt der letzten zehn Jahre. Die Folgen der COVID-19-Pandemie (verringerte Mobilität und gesamtwirtschaftliche Aktivität) wirkten sich auch 2021 noch dämpfend aus, wenngleich der Primärenergieverbrauch gegenüber dem Tiefstand im Jahr 2020 um 2,5% anstieg. Im vergangenen Jahr basierten 76,4% des gesamten Primärenergieverbrauchs in Deutschland auf fossilen Energieträgern. Mineralöl ist nach wie vor die wichtigste Energiequelle (Anteil 2021: 31,8%), gefolgt von Erdgas (26,7%), Braunkohle (9,3%) und Steinkohle (8,6%). Alle erneuerbaren Energieträger zusammen hatten einen Anteil von 16,1% am gesamten Primärenergieverbrauch, wobei die Bio-energien (z.B. Holz für Heizzwecke und Biokraftstoffe für Mobilität) mehr als 50% des Gesamtbeitrags der erneuerbaren Energien ausmachten, gefolgt von der Windenergie. Die Kernenergie hatte im Jahr 2021 einen Anteil von 6,2% an der gesamten Primärenergienachfrage. Es ist klar, dass fossile Brennstoffe immer noch den Löwenanteil der deutschen Energieversorgung ausmachen.
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Struktureller Rückgang der Primärenergienachfrage erwartet
Ungeachtet des Rebound-Effekts nach der COVID-19-Krise erwarten wir, dass der Primärenergieverbrauch in Deutschland in den kommenden Jahren weiter rückläufig sein wird. Dafür sprechen weitere Fortschritte bei der Energieeffizienz und die Tatsache, dass Industriesektoren mit hohem Energiebedarf (z.B. Metalle, Chemie, Baustoffe) in Deutschland an Bedeutung verlieren dürften. Auch durchschnittlich mildere Winter aufgrund des Klimawandels könnten dazu beitragen, den Primärenergiebedarf zu dämpfen. Darüber hinaus soll der Primärenergieverbrauch durch die Verringerung von Wandlungsverlusten (Abwärme) gesenkt werden, die bei der Nutzung fossiler Energieträger in thermischen Kraftwerken, im Mobilitätssektor oder bei älteren Heizungsanlagen in Privat-haushalten entstehen, wenn die Wärme nicht anderweitig genutzt werden kann (z.B. Fernwärme). Mit einem höheren Anteil erneuerbarer Energien und einer stärkeren Elektrifizierung des Strom-, Mobilitäts- und Wärmesektors werden sich diese Wärmeverluste nämlich verringern. Dennoch gibt es auch bei der Nutzung erneuerbarer Energien Wandlungsverluste. Ein Beispiel ist die Herstellung von grünem Wasserstoff und anderen synthetischen Kraftstoffen auf der Basis erneuerbarer Energien (Power-to-X, P2X).
Endenergieverbrauch: Flüssige fossile Brennstoffe und Erdgas tragen die Hauptlast
Der gesamte Endenergieverbrauch lag im Jahr 2020 bei 8.340 Petajoule (für 2021 liegen noch keine Daten vor). Das war der niedrigste Wert seit der Wieder-vereinigung. Ausschlaggebend für den Rückgang des Endenergieverbrauchs war vor allem der pandemiebedingt niedrige Energieverbrauch des Verkehrssektors. Bei den Energieträgern hatten flüssige fossile Brennstoffe (Benzin und Diesel für Mobilität, Heizöl) den höchsten Anteil am gesamten Endenergieverbrauch (34%), gefolgt von Erdgas (Heizung, industrielle Prozesse) mit einem Anteil von 26,4%. Elektrizität, die ebenfalls eine Form von Endenergie ist, machte weitere 20,9% aus; Kohle, Gas und andere Energieträger, die zur Stromerzeugung verwendet werden, sind in dieser Zahl enthalten.
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Bezüglich des Energieverbrauchs nach Sektoren oder Verwendungszwecken hatten die privaten Haushalte im Jahr 2020 den größten Anteil am gesamten Endenergieverbrauch (28,9%), gefolgt von der Industrie (28,3%) und der Mobilität (27,5%). Auf Handel und Dienstleistungen entfielen die restlichen 15,3%. Vor der Coronavirus-Pandemie waren die Anteile des Mobilitätssektors und der Industrie höher. Es ist eine wichtige Botschaft, dass sowohl auf Raumheizung und Warmwasserbereitung (Anteil von 33%, dominiert von privaten Haushalten) als auch auf Mobilität jeweils ein höherer Anteil des Endenergieverbrauchs entfällt als auf den gesamten Stromverbrauch.
Der Energiemix des Endenergieverbrauchs ist von Sektor zu Sektor unterschiedlich:
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- Im Wärmemarkt basieren 69,6% des Endenergieverbrauchs auf Erdgas und Öl. Andere wichtige Energiequellen im Wärmemarkt sind erneuerbare Energien (hauptsächlich Holz und andere feste Bioenergien) und Fernwärme. Nahezu 50% des aktuellen Wohnungsbestands in Deutschland werden mit Erdgas beheizt, weitere 25% mit Heizöl. Angesichts der Langlebigkeit der Gebäude, des Fachkräftemangels (Handwerk), der technischen Hürden bei älteren Häusern und der finanziellen Restriktionen der Hausbesitzer ist ein schneller Übergang von Erdgas und Öl zu alternativen Heizquellen (elektrische Wärmepumpen) für den Gebäudebestand unwahrscheinlich. Gas wird auf dem Wärmemarkt noch viele Jahre lang wichtig bleiben. Bei Neubauten ist die Elektrowärmepumpe inzwischen die wichtigste Heiztechnik (Anteil von 43,9% in den ersten acht Monaten von 2021). Ziel der Bundesregierung ist es, den Umstieg von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energien im Wohnungsmarkt zu beschleunigen (65% Anteil für neue Heizungsanlagen ab 2025, keine Heizungsanlagen auf Basis fossiler Brennstoffe in Neubauten) und die energetische Sanierungsrate zu erhöhen. Alle Maßnahmen im Wohnungsmarkt sind politisch hochsensibel. Subventionen sind notwendig.
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- Der Mobilitätssektor ist nach wie vor vom Mineralöl abhängig. Nahezu 92% des Endenergieverbrauchs basieren auf flüssigen fossilen Brennstoffen (Benzin und Diesel). Biokraftstoffe (6%) und Strom, der hauptsächlich im Schienenverkehr verwendet wird (1,8%), decken den Rest. Wie auf dem Wärmemarkt ist eine schnelle Umstellung auf alternative Energiequellen nicht möglich. Das Durchschnittsalter des Pkw-Bestands in Deutschland beträgt 10 Jahre. Eine vollständige Erneuerung der derzeitigen Flotte wird mehr als 15 Jahre dauern. Die Marktanteile ändern sich jedoch. Strengere CO2-Grenzwerte für Neuwagen in der EU, direkte Subventionen für den Kauf von Elektroautos und die finanzielle Unterstützung für den Ausbau der Ladeinfrastruktur lassen den Marktanteil von Elektrofahrzeugen steigen. Im Jahr 2021 waren fast 14% der Pkw-Neuzulassungen in Deutschland batterieelektrische Fahrzeuge. Plug-in-Hybrid-Elektrofahrzeuge hatten einen Anteil von 12,4%, aber diese Technologie verliert an politischer Unterstützung. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Autokäufer bereit und in der Lage sind, auf Elektroautos umzusteigen, wenn die Subventionen auslaufen. Das politische Ziel ist es, bis 2030 mindestens 14 Millionen Elektroautos auf die Straße zu bringen (mehr als 1 Million im Jahr 2021). Die öffentliche und private Ladeinfrastruktur muss ausgebaut werden. Auch hier ist eine gewisse öffentliche Unterstützung notwendig. Letztendlich werden Elektroautos noch viele Jahre lang keine emissionsfreien Fahrzeuge sein. In anderen Bereichen des Mobilitätssektors (wie dem Schwerlastverkehr oder der Luftfahrt) ist eine Elektrifizierung nicht möglich oder sehr teuer. Die Abkehr vom Öl im Mobilitätssektor ist also eine Aufgabe, die Mühe und Geduld erfordert.
- In der Stromerzeugung waren die erneuerbaren Energien auch 2021 die wichtigste Energiequelle (Anteil von 40,5% an der Bruttostromerzeugung). Die Windkraft (On- und Offshore zusammen) lag mit einem Anteil von 20% auf Platz 1. Erdgas (Anteil 2021: 15,2%) und Steinkohle (9,3%) – mit einem hohen Importanteil Russlands (siehe unten) – sind weiterhin wichtige Energieträger. Erdgas soll die Zeit überbrücken, bis die erneuerbaren Energien den Löwenanteil der deutschen Energieversorgung übernehmen können. Mit der weiteren Elektrifizierung der Wirtschaft wird der jährliche Strom- und Gasbedarf in Deutschland steigen. Zudem wird die Spitzen-last im Stromsektor in den Wintermonaten zunehmen, wenn mehr Häuser mit Elektrowärmepumpen ausgestattet werden, mehr Industrieprozesse elektrifiziert werden und mehr Elektroautos unterwegs sind. Die Ampelkoalition er-kennt an, dass neue Gaskraftwerke, die auf den Betrieb mit Wasserstoff umgestellt werden können, notwendig sind. Unsere Kollegen aus dem Equity Research schätzen, dass bis 2030 mindestens 25 GW (Bestand 2020: rund 30 GW) neue Gaskraftwerkskapazität und 20 GW Batteriespeicherkapazität (2021: weniger als 1 GW) notwendig sind. Dies ist erforderlich, um die Herausforderungen zu bewältigen, die daraus resultieren, dass Erneuerbare kurzfristig schwankungsanfällig sind und auch im Jahresverlauf einer Saisonalität unterliegen. Die Schätzung geht davon aus, dass die Spitzenlast in Deutschland bis 2030 in den Wintermonaten 70 GW erreichen könnte, was unter der derzeitigen Spitzenlast von etwa 80 GW liegt. Sollte die Spitzenlast durch den verstärkten Einsatz von Elektrowärmepumpen, elektrifizierten Industrieprozessen, E-Mobilität und anderen Anwendungen deutlich ansteigen, würde der zusätzliche Kapazitätsbedarf bei Gaskraftwerken noch weiter zunehmen. Die Bundesregierung strebt an, dass der Anteil der erneuerbaren Energien im Stromsektor im Jahr 2035 100% erreicht (80% im Jahr 2030). Zur Erinnerung: Im Jahr 2020 hatten alle erneuerbaren Energien zusammen einen Anteil an der Bruttostromerzeugung von 40,5%. Um dieses Ziel zu erreichen, ist ein massiver Ausbau der installierten Leistung erforderlich: mehr als 100 GW Onshore-Windkraft bis 2030 (Bestand 2020: 54 GW), 30 GW Offshore-Windkraft bis 2030 (2020: rund 8 GW) und mehr als 200 GW Photovoltaik (2020: 54 GW). Die Botschaft ist klar: Die erneuerbaren Energien sollen massiv ausgebaut werden. Diesem Ziel sind jedoch viele Grenzen gesetzt. Dazu zählen z. B. Kapazitäts- und Fachkräftemangel im Handwerk, im Baugewerbe und bei den Investitionsgüterherstellern, finanzielle Restriktionen, der Zeitaufwand für Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie lokale Widerstände gegen Windparks.
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- Der Endenergieverbrauch in der deutschen Industrie basiert hauptsächlich auf Erdgas (2020: 35%), Strom (31%) und Steinkohle (13%). Der industrielle Erdgasverbrauch wird von der chemischen Industrie, der Metallindustrie, der Baustoffindustrie, der Papier- und Zellstoffindustrie sowie der Lebensmittel-industrie dominiert. Der Anteil des industriellen Gasverbrauchs am gesamten deutschen Endenergieverbrauch beträgt etwa 10%. Die großen deutschen Investitionsgüterhersteller (Automobil-, Maschinenbau- und Elektroindustrie) sind weniger energieintensiv und stärker auf eine stabile Stromversorgung angewiesen. Die Abhängigkeit vom Erdöl hat sich in der deutschen Industrie insgesamt verringert. In einigen Industriesektoren wurde Erdöl von Erdgas verdrängt. So ist der Ölverbrauch der chemischen Industrie in den letzten 20 Jahren um mehr als 90% gesunken. Im gleichen Zeitraum stieg der Erdgasverbrauch um mehr als 10%.
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Deutschland ist von Energieeinfuhren abhängig
Deutschland ist in hohem Maße von Energieeinfuhren abhängig. Etwa 70% aller Energieträger werden importiert. Dieser Anteil ist in den letzten 25 Jahren recht stabil geblieben. Deutschland importiert mehr als 90% seines Mineralöls und Erdgases und 100% seiner Kernbrennstäbe. Steinkohle wird in Deutschland nicht mehr gefördert. Braunkohle hingegen ist ein vollständig heimischer Energieträger, der hauptsächlich zur (Grundlast-)Stromerzeugung genutzt wird (mit dem Nachteil hoher CO2-Emissionen pro kWh). Erneuerbare Energien können als heimische Energiequelle betrachtet werden, sobald die Anlagen in Betrieb sind. Allerdings wird Deutschland beim Ausbau der PV-Kapazitäten weiterhin auf Importe angewiesen sein, da China der größte Lieferant von PV-Anlagen und entsprechender Ausrüstung ist.
Russland ist die mit Abstand wichtigste Quelle für deutsche Energieimporte. Deutschland importiert mehr als 50% seines Erdgases, rd. ein Drittel seines Mineralöls (2021) und 57% seiner Steinkohle (2021) aus Russland. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat zu einer historischen Wende in der deutschen Energieversorgung geführt. Deutschland ist bestrebt, seine Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland so schnell wie möglich zu verringern. Die jahrzehntelange Energieverflechtung zwischen Deutschland und Russland, die auch in den heißesten Zeiten des Kalten Krieges gehalten hat, soll in den kommen-den Jahren gelockert werden. Eine Renaissance dieser Energiebeziehungen ist unter dem derzeitigen politischen Regime in Russland kaum vorstellbar.
LNG gewinnt an Bedeutung – Kapazitätsmärkte im Aufwind?
Deutschland ist bestrebt, den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen (Zahlen siehe oben). Darüber hinaus wird das Land in Stromnetze, die Energieeffizienz von Gebäuden, Industrieprozessen und Mobilitätsdienstleistungen, kohlenstoffarme Heiztechnologien wie elektrische Wärmepumpen, Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge, Stromspeichertechnologien und Infrastruktur für die Produktion, den Transport und die Nutzung von (grünem) Wasserstoff in energieintensiven Industrien investieren.
All diese Maßnahmen standen bereits vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine auf der energie- und klimapolitischen Agenda Deutschlands. Ein neuer Schwerpunkt liegt nun auf dem Ausbau der Infrastruktur für Flüssigerdgas (LNG). Die Bundesregierung plant den Bau von zwei LNG-Terminals an deutschen Küsten, die an das Gasnetz angeschlossen werden können; dies wird mindestens drei Jahre dauern. Außerdem hat Deutschland mit Katar vereinbart, in den kommenden Jahren LNG zu kaufen. Derzeit bezieht Deutschland den größten Teil seines Erdgases über Pipelines (aus Russland, den Niederlanden und Norwegen). Daher ist LNG für Deutschland weniger wichtig. LNG hat jedoch sowohl in Europa als auch weltweit an Bedeutung gewonnen und könnte sich zur am schnellsten wachsenden Energieform nach den erneuerbaren Energien entwickeln. Nach Angaben von BP machte LNG im Jahr 2020 35% der gesamten europäischen Gasimporte aus. Ein Ausbau der LNG-Infrastruktur in Deutschland und anderen EU-Ländern wird auch zu einer Diversifizierung der Versorgung führen und würde die Gasimporte aus anderen Ländern als Russland stärken. Dieser Prozess wird natürlich Zeit brauchen, aber LNG gewinnt künftig an Bedeutung. Länder mit reichen Gasvorkommen werden in die Infrastruktur für den LNG-Export investieren, da Gas die Kohle im Stromsektor ersetzen kann; die Reduzierung des Kohleverbrauchs ist in vielen Ländern ein politisches Ziel. Australien, Katar und die USA sind derzeit die größten Produzenten und Exporteure von LNG. Auf globaler Ebene wird die Nachfrage nach LNG wahrscheinlich schneller wachsen als das Angebot. Daher wird LNG wahrscheinlich teurer bleiben als Pipelinegas. Wenn es Europa gelingt, seine Gaseinfuhren aus Russland in den kommenden Jahren zu verringern, dürfte auch Russland seine LNG-Exporte erhöhen. China könnte ein wichtiger Abnehmer werden. Chinas LNG-Importe sind zwischen 2010 und 2020 um mehr als 600% gestiegen und werden weiter zunehmen.
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Zurück zu Deutschland: Das politische Ziel, neue Gaskraftwerke zu bauen, braucht wahrscheinlich eine Form der öffentlichen Unterstützung. Mit dem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien wird deren Marktanteil an der Stromer-zeugung weiter zunehmen. Da die Grenzkosten von Windkraft und Photovoltaik nahe null liegen, werden diese wetterabhängigen erneuerbaren Energien bevorzugt ins Netz eingespeist. Daher wird einerseits die durchschnittliche jährliche Auslastung der Reservekraftwerke (in Deutschland künftig meist Erdgas) weiter sinken. Die deutschen Gaskraftwerke kamen bereits im Jahr 2021 auf eine durchschnittliche Auslastung von nur 32%. Andererseits braucht Deutschland diese Reservekapazitäten, um die Stromversorgung in Zeiten der Dunkelflaute sicherzustellen oder etwa wenn die Nachfrage in kalten Wintern nicht allein mit erneuerbaren Energien gedeckt werden kann. Eine unzureichende Kapazitätsauslastung macht es für Investoren jedoch schwierig, neue Gaskraftwerke wirtschaftlich zu betreiben, wenn die Einnahmen nur durch den Stromverkauf erzielt werden können. Daher könnte die Regierung die notwendigen Investitionen durch die Schaffung eines Kapazitätsmechanismus unterstützen, bei dem die Betreiber von Kraftwerken für die Bereitstellung gesicherter Kapazitäten entlohnt werden. Ohne Anreize für Investitionen in Gaskraftwerke wäre der angestrebte Ausstieg aus der Kohleverstromung bis (idealerweise) 2030 wohl nicht zu erreichen. Angesichts der derzeitigen Störungen der Lieferketten halten wir den an-gestrebten Aufbau neuer Kapazitäten auf dem Strommarkt bereits für sehr ambitioniert.
Wie Unterbrechungen der russischen Energielieferungen kompensiert werden können
Der Krieg in der Ukraine heizt die Diskussion darüber an, ob Deutschland seine Energieeinfuhren aus Russland verbieten oder aussetzen sollte. Es besteht auch die Gefahr, dass Russland die Exporte nach Deutschland einstellt, obwohl das Land die Einnahmen aus dem Energieverkauf zur Finanzierung seiner öffentlichen Ausgaben benötigt. Es gibt verschiedene Einschätzungen, wie und in welchem Umfang ein Stopp der Energieimporte aus Russland kompensiert werden könnte. Da die Märkte für Öl und Kohle auf der Angebotsseite recht diversifiziert sind, geben mögliche physische Engpässe bei der Gasversorgung am meisten Anlass zur Sorge.
Im Stromsektor könnte als temporäre Maßnahme eine Substitution von Erdgas durch Kohle diskutiert werden. Steinkohlekraftwerke hatten im Jahr 2021 eine Kapazitätsauslastung von rund 31%. Unter der Annahme, dass die Versorgung mit Steinkohle am Weltmarkt gesichert werden kann, könnte die Stromerzeugung auf Basis von Steinkohle erhöht werden, um einen Verlust von Strom aus Gaskraftwerken auszugleichen; die CO2-Preise im EU-Emissionshandelssystem würden (bei ansonsten gleichen Bedingungen) steigen, da Steinkohle eine höhere CO2-Intensität als Gas hat. Eine höhere Stromerzeugung durch Fotovoltaik vor allem in den Sommermonaten könnte ebenfalls zur Stromversorgung und zur Entlastung beim Gasverbrauch beitragen. Das Frühjahr und der Sommer sollten genutzt werden, um die LNG-Importe über EU-Drittländer zu erhöhen und die Gasspeicherkapazitäten in Deutschland so weit wie möglich zu füllen. Während die Auslastung der LNG-Importinfrastruktur in der EU derzeit kein limitierender Faktor sein dürfte, könnten die Export- und Transportkapazitäten einen schnellen Anstieg der europäischen LNG-Importe behindern. In der Öffentlichkeit und den Medien wird auch darüber diskutiert, ob die drei verbliebenen Kernkraftwerke in Deutschland länger in Betrieb bleiben sollen. Diese wären eine weitere Quelle der (grundlastfähigen) Stromerzeugung und könnten dazu beitragen, den Gaseinsatz im Stromsektor im Winter 2022/23 zu reduzieren.
Die Bundesregierung will ein Gesetz einführen, das zu Beginn des Winters höhere Füllstände der nationalen Gasspeicherkapazitäten festlegt. Deutschland verfügt über Gasspeicherkapazitäten von rund 24 Mrd. m³, die von privaten Unter-nehmen betrieben werden. Das entspricht etwa 950 Petajoule Gasspeicherkapazität oder 25 bis 30% des gesamten jährlichen Erdgasverbrauchs. Deutschland könnte also mit seinen Speicherkapazitäten die Gasversorgung für mehrere Monate sicherstellen, wenn sie vollständig gefüllt wären. Der tatsächliche Füllungsgrad war zu Beginn der Heizperiode 2021/22 ungewöhnlich niedrig und ist nach wie vor gering (zuletzt etwa 25%). Darüber hinaus scheuen die privaten Betreiber bei den aktuellen Preisen vor einer Befüllung zurück, da dies bei einem erneuten Preisverfall zu hohen Verlusten führen könnte. Höhere Gaspreise könnten die privaten Haushalte dazu veranlassen, Energie zu sparen, indem sie ihre Wohnraumtemperaturen senken. Dies ist ein nicht zu vernachlässigender Faktor, da eine Senkung der Raumtemperatur um 1°C eine Energieeinsparung von etwa 6% bedeutet.
Zwar scheint die Gasversorgung bis Herbst 2022 gesichert zu sein, doch sind Engpässe für den Winter 2022/23 nicht auszuschließen. Diese Engpässe würden wahrscheinlich den (industriellen) Wärmemarkt stärker betreffen als den Strommarkt. Die großen (politischen) Aufgaben sind kurzfristig die Erhöhung der LNG-Importe auf europäischer Ebene, das Auffüllen der Gasspeicherkapazitäten über die Sommermonate und die Sicherung der Steinkohleversorgung. Der staatliche Einfluss auf den Energiesektor wird wahrscheinlich (weiter) zunehmen. Wenn es im nächsten Winter zu physischen Engpässen bei der Gas-versorgung kommen sollte, dürften weitere nachfrageseitige Maßnahmen (über freiwillige Gaseinsparungen in privaten Haushalten hinaus) zum Tragen kommen. Dazu gehört die planmäßige und geordnete Abschaltung von Industrieanlagen mit hohem Gasverbrauch. Der Gasverbrauch für Heizungsanlagen in privaten Haushalten dürfte im Vergleich zu industriellen Anwendungen Vorrang haben. Eine Rationierung der Gasversorgung für energieintensive Industrien würde zu einem Rückgang der Industrieproduktion führen. Die betroffenen Sektoren würden wahrscheinlich (teilweise) kompensiert werden. Es besteht auch die Gefahr, dass sich der seit 20 Jahren zu verzeichnende strukturelle Rückgang des Kapitalstocks in den energieintensiven Industrien (Chemie, Metall, Baustoffe, Papier) beschleunigt, wenn zu den hohen Energiepreisen und den Unsicherheiten in der deutschen Klima- und Energiepolitik auch noch physische Energieengpässe hinzukommen.
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Weitere Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien – eine Konsequenz, aber keine kurzfristige Lösung
Die politische Unterstützung für den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien hat angesichts der aktuellen Energiekrise zugenommen. Der FDP-Finanzminister Lindner bezeichnete die erneuerbaren Energien als „Freiheitsenergien“. In der Tat wird der Krieg in der Ukraine ein zusätzlicher politischer Motor für einen schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien sein. Die oben genannten Ziele zeigen den hohen Ehrgeiz. Der Beitrag von „mehr und schnelleren erneuerbaren Energien“ zur Lösung des aktuellen Problems wird jedoch kurzfristig begrenzt sein, da größere Engpässe bei der Gasversorgung wahrscheinlich industrielle Prozesse und Wärmemärkte betreffen werden, in denen erneuerbare Energien noch keinen Ersatz darstellen. Im Stromsektor, wo zusätzliche Wind- und Solarkapazitäten die Angebotsseite erweitern werden, sind die Probleme, die durch mögliche Unterbrechungen der russischen Gasversorgung verursacht würden, geringer. Die erheblichen Hindernisse auf der Angebotsseite (Vorleistungsgüter und qualifizierte Arbeitskräfte) werden jedoch kurzfristig einen schnellen Ausbau der Erneuerbaren behindern und könnten in den kommenden Jahren sogar zu einem dauerhaften Engpass werden.
Schlussbemerkung
Erdgas soll die Zeit überbrücken, bis die erneuerbaren Energien die Hauptlast der deutschen Energieversorgung tragen können. Diese Brücke könnte länger sein, als viele Beobachter derzeit erwarten. Das gilt für den Wärmemarkt, für industrielle Prozesse und für den Stromsektor. Es wird Jahrzehnte dauern, bis in all diesen Bereichen erneuerbare Energien und synthetische Kraftstoffe auf Basis erneuerbarer Energien die Energieversorgung vollständig übernommen haben. Wenn Deutschland die Gasimporte aus Russland reduzieren will, ist der Aufbau einer leistungsfähigen LNG-Infrastruktur gemeinsam mit europäischen Partnern und zuverlässigen globalen Lieferanten eine wichtige Aufgabe, die politisch unterstützt werden muss. Idealerweise wird diese Infrastruktur so ausgelegt, dass sie künftig auch für Wasserstoff genutzt werden kann.
Die aktuelle Krise zeigt, dass eine ausreichende Energieversorgung nicht als selbstverständlich angesehen werden sollte. Eine langanhaltende Ära physischer Energieknappheit wäre sowohl wirtschaftlich als auch sozialpolitisch fatal. Die LNG-Infrastruktur ist Teil der Energiewende, ersetzt aber nicht den Ausbau der erneuerbaren Energien, den technologischen Fortschritt bei Energieeffizienz, Speichertechnologien, kohlenstoffarmen Mobilitätssystemen und anderen Handlungsfeldern. Der staatliche Einfluss im Energiesektor wird wahrscheinlich ebenso zunehmen wie die öffentliche Unterstützung für den geplanten Übergang. Da die wetterabhängigen erneuerbaren Energien nicht in der Lage sein werden, die Energieversorgung einer wachsenden Weltbevölkerung (+80 Mio. pro Jahr) zu sichern, sind mehr F&E-Ausgaben für kohlenstoffarme Technologien, aber auch für die Anpassung an den Klimawandel notwendig.
Hinweis: Der Beitrag erschien am 30. März 2022 in veränderter Form im Deutschland-Monitor der Deutsche Bank Research.
- Gastbeitrag
Deutsche Industrie
Strukturwandel im Gange - 27. November 2023 - GastbeitragStrukturelle Angebotsengpässe
Hemmschuh für Wachstum und Energiewende - 5. November 2023 - Gastbeitrag
Kosten der Stromerzeugung
Auf die Systemkosten kommt es an - 8. Juni 2023
Interessant wäre es wenn man zur Abwechselung auf eine marktwirtschaftliche Energielösung setzen würde. Meinetwegen unter Einbeziehung der CO2-Abgabe und der Sanktion russischer Energielieferungen. Ob dann immer noch Gaskraftwerke und Wärmepumpen die Lösung wären? In Dänemark setzt man bsw auf Fernwärmenetze, die im Winter Windstrom mitnutzen. Auffällig ist auch, dass zur Stromproduktion eigentlich viel weniger Erdgas eingesetzt werden müsste. Mit Batteriekraftwerken käme man sogar ohne aus. Wenn man dann noch auf Braunkohlekraftwerke verzichten würde (weniger CO2-Abgabe), wäre man bei einem reinen Steinkohlensystem als Ergänzung zu den Erneuerbaren. Es wurde mal versucht Steinkohlekraftwerke so umzubauen, dass sie flexibler als heute werden. Dazu wurden kleinere Kessel genommen (einzeln abschaltbar) und statt Kohlebrocken wurde Kohlenstaub verfeuert. Man müsste durchrechnen, wie teuer ein solches System im Vergleich zu dem politisch erwünschten System wäre. Wichtig wäre auch zu sehen wie schnell Anpassungen machbar wären. Bei aller Freude über Habeck, so offen für Alternativen scheint er mir dann doch nicht zu sein. Fracking in Deutschland will er nicht, genau wie eine Verlängerung der Laufzeit der Atomkraftwerke. Und was passiert mit der üblichen zusätzlichen Stromnachfrage im Winter aus Frankreich? Genauso bräuchte man mehr Stom-Verbindungen ins Ausland, um mehr Strom ex- und importieren zu können. Ich schätze, die Inflation ist noch nicht am Maximum angekommen. Nach den Fehlentscheidungen der Merkel-Jahre werden die von Habeck und Scholz dazu kommen und die Inflation weiter anheizen. Immerhin fließt das russische Gas noch, wenn es jetzt auch teuer ist als vor dem Krieg (obwohl der Importeur wahrscheinlich immer noch den selben Preis an Gazprom zahlt). Panik kostet halt, man frage die Griechen dazu.