- Die globalen industriellen Wertschöpfungsketten werden seit einigen Jahren durch externe Schocks gestört, die zu Versorgungsengpässen und höheren Preisen für Rohstoffe, Zwischen- und Fertigprodukte führen. Diese Ungleichgewichte haben sich in den letzten Monaten zwar allmählich abgeschwächt, was auf die wirtschaftliche Abkühlung in vielen Ländern und eine Stabilisierung der Transport- und Logistikdienstleistungen sowie der Lieferketten insgesamt zurückzuführen ist.
- Dennoch könnten Megatrends wie Dekarbonisierung, Digitalisierung und Demografie sowie Anzeichen einer Deglobalisierung in den 2020er Jahren und darüber hinaus zu strukturellen Angebotsengpässen führen. Diese dürften dazu beitragen, dass das Potenzialwachstum in Deutschland in den kommenden Jahren näher an der 0,5%-Marke als an der 1%-Marke und die Inflationsrate eher über als unter dem 2%-Ziel liegen wird.
- Externe Schocks wie die Corona-Pandemie oder der Krieg in der Ukraine haben in den letzten Jahren zu Unterbrechungen der Lieferketten und zu Materialengpässen in historischem Ausmaß geführt. Die Schocks waren weltweit und in vielen Sektoren gleichzeitig zu spüren und sind bis heute nicht vollständig abgeklungen. Während die negativen Auswirkungen dieser Schocks auf die Lieferketten allmählich nachlassen, könnten die Megatrends Dekarbonisierung (Klimaschutz), Digitalisierung und Demografie sowie Trends zur Deglobalisierung in den 2020er Jahren (und darüber hinaus) zu strukturellen Angebotsengpässen führen. Sie werden wahrscheinlich mit relativen Wachstumseinbußen und höheren Preisen einhergehen.
Megatrends werden wahrscheinlich zu strukturellen Angebotsengpässen führen
Dekarbonisierung: Um den Klimawandel einzudämmen, verfolgen viele Industrieländer das Ziel, bis zur Mitte dieses Jahrhunderts aus der Nutzung fossiler Brennstoffe auszusteigen. Diese Entwicklung soll durch verschiedene klima- und energiepolitische Instrumente erreicht werden. Dazu gehören die Bepreisung von CO2 (über Steuern oder den Emissionshandel) oder das Ordnungsrecht (z.B. Verbote bestimmter Technologien, Gebote, Quoten). Eine solche Politik dürfte – unter sonst gleichen Bedingungen – zu einer Verringerung des Energie-angebots und zu höheren Preisen für fossile Energieträger führen. Da private Haushalte und Unternehmen in vielen Fällen nicht kurzfristig von fossilen Energieträgern auf CO2-ärmere oder CO2-freie Technologien umsteigen können, wer-den sie für eine Übergangszeit höhere Energiekosten tragen oder weniger Energie verbrauchen müssen. Zugleich investieren nicht nur die Industrieländer, sondern auch die Entwicklungs- und Schwellenländer verstärkt in den Ausbau der erneuerbaren Energien und anderer klimafreundlicher Technologien. In der Folge wird die weltweite Nachfrage nach metallischen und anderen Rohstoffen steigen, die für solche klimafreundlichen Technologien benötigt werden. Die höhere Nachfrage dürfte dabei kurz- bis mittelfristig oft auf ein eher starres Angebot treffen, da die Erschließung neuer Minen Zeit braucht und viele ertragreiche Rohstoffvorkommen bereits erschlossen sind. Darüber hinaus dürften strengere ESG-Anforderungen (Arbeitsschutzmaßnahmen, Energieverbrauch, Umwelt-schutz usw.) zu höheren Kosten führen. Ein weiteres Risiko besteht darin, dass die Vorkommen solcher Rohstoffe oder Industrieanlagen zur Weiterverarbeitung von Erzen oft regional konzentriert sind. China ist weltweit führend in der ersten Verarbeitungsstufe von Metallen.
Digitalisierung: Die Digitalisierung ist der zweite technologische Megatrend unserer Zeit. Die meisten Länder der Welt wollen die Leistungsfähigkeit ihrer digitalen Infrastruktur ausbauen. Privathaushalte fragen mehr digitale Dienste nach, von Streaming über digitales Arbeiten von zu Hause bis hin zu Smart Homes. Unternehmen nutzen Online-Konferenzen und entwickeln ständig neue digitale Technologien für private Endkunden oder kommerzielle Anwendungen. Dies erfordert fortlaufende Investitionen in die notwendige Hardware (Rechenzentren, Netzwerke, Router usw.). Die steigende Nachfrage nach mobilen Endgeräten geht einher mit einem erhöhten Bedarf an Batterierohstoffen.
Demografie: Die demografische Entwicklung wird in vielen Ländern wahrscheinlich zu einem Mangel an Arbeitskräften führen. Das Statistische Bundesamt hat in seiner 15. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung von Ende 2022 er-rechnet, dass bis 2035 rd. 4 Mio. Menschen mehr in Deutschland leben werden, die 67 Jahre oder älter sind. Gleichzeitig wird die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter bis dahin je nach Nettozuwanderung um 1,6 bis 4,8 Mio. schrumpfen. Das sinkende Erwerbspersonenpotenzial bedeutet eine große Herausforderung für den Arbeitsmarkt, die nicht allein durch mehr Automatisierung, den Einsatz von künstlicher Intelligenz oder eine höhere Erwerbsbeteiligung zu bewältigen sein wird. Der Fachkräftemangel wird in vielen Branchen zunehmen. Auch andere EU-Länder sehen sich mit einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung konfrontiert. Zudem werden sich in China in den kommenden Jahren die demografischen Strukturen verschieben. Die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter nimmt dort bereits seit einigen Jahren ab. Die langjährige Ein-Kind-Politik Chinas wird noch einige Zeit ihre Spuren auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen. UN-Prognosen zufolge könnte die Zahl der Menschen im Alter von 65 Jahren und mehr in China bis 2035 um mehr als 130 Mio. steigen (im Vergleich zu 2020). Gleichzeitig könnte die Zahl der Menschen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren um mehr als 50 Mio. sinken.
Deglobalisierung: Das letzte Jahrzehnt war geprägt von geringen Fortschritten beim globalen Freihandel auf WTO-Ebene, von politischen Ansätzen nach dem Motto „My Nation First“, vom Brexit und von einer Zunahme bilateraler Handels-konflikte. Dies wirkte sich auf den Welthandel und damit auf die Globalisierung aus. Während die durchschnittliche Wachstumsrate des Welthandels von 1990 bis 2011 mehr als doppelt so hoch war wie jene des globalen BIP (6,5% gegen-über 2,9% laut IWF-Daten), liegt die durchschnittliche Wachstumsrate des Welt-handels seit 2012 bei 2,8% und damit nur knapp über dem Wachstum des globalen BIP (+2,5%). Für eine exportorientierte und offene Volkswirtschaft wie Deutschland sind Zeiten einer Deglobalisierung besonders herausfordernd.
Mineralien und Metalle für saubere Energie: Die Nachfrage wird wahrscheinlich schneller wachsen als das Angebot
Im Folgenden werden einige Metalle näher betrachtet, bei denen mit Angebots-engpässen zu rechnen ist.
Kupfer: Die Energiewende und die Transformation des Verkehrssektors sowie die Digitalisierung werden die Nachfrage nach Kupfer in den kommenden Jahren ankurbeln. Die Internationale Energieagentur (IEA) gibt an, dass für ein Elektroauto mehr als doppelt so viel Kupfer benötigt wird wie für ein konventionelles Fahrzeug. Auch Windturbinen oder Fotovoltaik benötigen pro Megawatt-stunde installierter Leistung ein Vielfaches an Kupfer im Vergleich zu Kohle- oder Gaskraftwerken. Die IEA rechnet damit, dass sich die Lücke zwischen der weltweiten Kupfernachfrage und der erwarteten Produktion aus bestehenden und geplanten neuen Bergbauprojekten ab der zweiten Hälfte der 2020er Jahre vergrößern wird. Bis 2030 könnte die Lücke 5 Mio. Tonnen betragen (d.h. ein knappes Viertel der heutigen weltweiten Primärproduktion). Die weltweite Verarbeitung von Kupfererzen (Raffination) ist regional stark konzentriert. Hier dominiert China mit einem Anteil von 42% vor Chile mit 8%.
Kobalt: Mit dem Trend zur Elektromobilität in den großen Automobilmärkten oder allgemeiner mit dem zunehmenden Einsatz von Batterien als Stromspeicher wird die Nachfrage nach Kobalt in den kommenden Jahren deutlich stei-gen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die künftige Nachfrage die Kobaltproduktion in den nächsten Jahren übersteigen wird. Nach Angaben der IEA wird es in der zweiten Hälfte der 2020er Jahre selbst bei einem weniger ehrgeizigen Klimaschutzpfad zu einem Defizit bei der Kobaltversorgung kommen. Dieses wird umso größer sein, je mehr Batterien für Elektroautos, Unterhaltungselektronik oder als stationäre Stromspeicher benötigt werden. Das Marktangebot von Kobalt ist durch eine besonders hohe Konzentration auf der Angebotsseite gekennzeichnet. Nicht nur die Minenproduktion (fast 70% entfallen auf die DR Kongo) wird von nur einem Land dominiert, sondern auch die Raffination. Hier ist China mit einem Anteil von etwa 65% führend, gefolgt von Finnland (etwa 10%) und Belgien (5%). China ist der größte Hersteller von Batterien für Elektro-autos und auch von Elektroautos selbst. Nach Angaben des USGS verbraucht China etwa 80% des Kobalts für die Batterieproduktion.
Nickel: In den kommenden Jahren dürfte die Produktion von rostfreiem Stahl mengenmäßig der wichtigste Treiber der Nickelnachfrage bleiben. Ein Großteil der neuen Kapazitäten in Indonesien ist hierauf ausgerichtet. Dennoch wird die Verwendung von Nickel für die Batterieproduktion (insbesondere in der Elektromobilität) in den kommenden Jahren wahrscheinlich viel schneller zunehmen. Nach Angaben von Fitch Ratings benötigt ein Elektroauto etwa 30-mal so viel Nickel wie ein Auto mit Verbrennungsmotor. Für die kommenden Jahre rechnen die IEA und Fitch trotz steigender Nachfrage nicht mit einer physischen Unter-versorgung mit Nickel weltweit. Mögliche Nickelknappheiten könnten vielmehr die gewünschten Nickelprodukte und -qualitäten betreffen. Die regionale Konzentration des Abbaus (Indonesien) und der Verarbeitung (China und Indonesien) stellt ebenfalls ein erhebliches Risiko für die Nickelversorgung dar. Für Deutschland ergibt sich aus der großen Bedeutung der Importe aus Russland ein Risiko für die Nickelversorgung, da die Lieferbeziehungen durch die gegen-seitigen Sanktionen infolge des Krieges in der Ukraine gestört werden könnten. Wenn die Batterieproduktion in Deutschland und Europa ausgebaut werden soll, muss die Versorgung mit Nickel gewährleistet sein.
Lithium: Die Nachfrage nach Lithium wird in den kommenden Jahren vor allem durch den Trend zur Elektromobilität getrieben werden. Die IEA geht sogar da-von aus, dass die Nachfrage nach Lithium unter allen wichtigen Rohstoffen für „saubere Energietechnologien“ bis 2040 am schnellsten wachsen wird. Selbst bei einem moderaten Anstieg der Elektromobilität würde die Lithiumnachfrage bis 2040 um den Faktor 13 gegenüber 2020 steigen. Ab der zweiten Hälfte der 2020er Jahre könnte es jedoch zu einer Angebotslücke kommen, wenn die Nachfrage nach Elektroautos rasch ansteigen sollte. Letztlich würde der Markthochlauf durch die mangelnde Verfügbarkeit von Lithium gebremst. Ein Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage würde auch zu Preisrisiken für Lithium und Lithium-Ionen-Batterien führen. Derzeit stellt die hohe Konzentration der Lithiumproduktion und -verarbeitung (letztere hauptsächlich in China) ein Risiko dar.
Arbeitskräfte- und Qualifikationsdefizite: Kurz- und mittelfristig keine umfassenden Lösungen in Sicht
Strukturelle Angebotsengpässe sind nicht nur auf den Gütermärkten zu erwarten, sondern werden auch den Arbeitsmarkt betreffen. Der Fachkräftemangel in Deutschland ist seit vielen Jahren ein limitierender Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung. Er ist in vielen Branchen spürbar. Er spiegelt sich in der Zahl der offenen Stellen in Deutschland wider, die im September 2023 bei knapp über 730.000 (saisonbereinigt) lag (Bundesagentur für Arbeit, BA). Das ist zwar ein Rückgang um 108.000 gegenüber September 2022 – bedingt durch die schwächere wirtschaftliche Entwicklung. Im langfristigen Vergleich ist es aber immer noch eine hohe Zahl. Während die BA nur offiziell gemeldete offene Stellen ausweist, beruhen die Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) auf repräsentativen Befragungen von Betrieben. Das bedeutet, dass auch offene Stellen, die nicht bei der BA gemeldet werden, hier enthalten sind. Nach Angaben des IAB lag die Zahl der offenen Stellen in Deutschland im 2. Quartal 2023 bei knapp 1,74 Mio., – ein Rückgang gegenüber dem Höchststand von 1,98 Mio. im 4. Quartal 2023.
Die demografische Entwicklung in Deutschland wird in den kommenden Jahren auch bei relativ hoher Nettozuwanderung zu einem sinkenden Erwerbspersonen-potenzial führen. Der demografische Faktor wird daher den Fachkräftemangel verschärfen. Zuwanderung ist notwendig, um die demografischen Belastungen des Arbeitsmarktes in den kommenden Jahren abzufedern. Allerdings betrifft der Fachkräftemangel häufig Berufsbilder mit speziellen Qualifikationen. Ein systematischer Überschuss im Ausland ist nicht zu erwarten. Zudem konkurriert Deutschland mit anderen Ländern um globale Talente. Sprachbarrieren (Deutsch als weniger internationale Sprache im Vergleich zu Englisch) und bürokratische Hürden bei der Zuwanderung von Hochqualifizierten zeigen, dass der Zuzug von Menschen mit den gewünschten Qualifikationen nach Deutschland alles andere als ein Selbstläufer ist. Eher unqualifizierte Zuwanderer nach Deutschland (ein-schließlich Flüchtlinge) müssen in der Regel Sprachkurse und andere Bildungsmaßnahmen absolvieren, bevor sie in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Dies dauert oft mehrere Jahre und ist mit Kosten verbunden. Damit die Zuwanderung besser zur Linderung von Arbeitsmarktengpässen beitragen kann, müsste sie gezielter gesteuert werden.
Gefahr der Verzerrung des Status quo, aber negative Auswirkungen auf Wachstum und Inflation
Die letzten Jahre waren geprägt von Unterbrechungen der Lieferketten in historischem Ausmaß. Diese Prägung birgt die Gefahr, dass die Beurteilung der künftigen Entwicklung durch einen Status-quo-Bias verzerrt wird. So kann es sein, dass wir die Gefahr von strukturellen Angebotsengpässen überschätzen, weil wir die Lenkungswirkung von Preissignalen oder die Innovationskraft der Menschen unterschätzen oder der „Politik“ nicht genug zutrauen, die Rahmenbedingungen z.B. für eine sichere Rohstoffversorgung schnell genug zu verbessern. Dabei können gerade Krisenzeiten der Nährboden für Innovationen sein. Als der Club of Rome vor gut 50 Jahren die „Grenzen des Wachstums“ proklamierte, prägte ein solcher Status-quo-Bias den Blick auf die Zukunft. Letztlich wurde der technische Fortschritt, der die Grenzen des Wachstums verschob, damals falsch eingeschätzt. Dem Status-quo-Bias steht jedoch ein gewisser Verfügbarkeits-Bias gegenüber, der sich auf mögliche zukünftige Knappheiten bezieht, die wir heute nicht erkennen (können).
Alles in allem bleibt der technische Fortschritt die größte Hoffnung für die kommenden Jahre, um ein klimafreundliches und sozial ausgewogenes Wirtschaftswachstum zu ermöglichen. Angesichts der in diesem Bericht beschriebenen (potenziellen) strukturellen Angebotsengpässe müsste sich der technische Fortschritt allerdings auf breiter Front beschleunigen und wahrscheinlich viel stärker als bisher von der Politik gefördert werden.
Angesichts der vielen Unbekannten ist es schwierig, die Auswirkungen der strukturellen Angebotsengpässe auf das Trendwachstum und die Inflation zu quantifizieren. Unserer Ansicht nach dürften sie jedoch dazu beitragen, dass das Potenzialwachstum in Deutschland in den kommenden Jahren näher an der 0,5%- als an der 1%-Marke und die Inflation eher über als unter dem 2%-Ziel liegen wird.
Hinweis: Dies ist eine Kurzfassung unseres Deutschland-Monitor: Strukturelle Angebotsengpässe: Hemmschuh für Wachstum und Energiewende, veröffentlicht am 18. September 2023.
- Gastbeitrag
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Strukturwandel im Gange - 27. November 2023 - GastbeitragStrukturelle Angebotsengpässe
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