Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wird immer mehr zu einem Krieg gegen die Menschheit insgesamt und gegen die Menschlichkeit. Die russische Armee vernichtet die Getreidebestände in der Ukraine gezielt oder stiehlt sie. Zusätzlich wird der Export von Getreide aus der Ukraine verunmöglicht, weil ukrainische Häfen entweder besetzt oder vermint worden sind. Insgesamt droht damit der Exportausfall von bis zu 40 Millionen Tonnen Getreide aus der Ukraine. Als Konsequenz steigen die Lebensmittelpreise, und das schon seit einer ganzen Weile.
Dadurch droht den Menschen in einigen afrikanischen und asiatischen Entwicklungsländern eine Hungerkatastrophe. Millionen Menschen werden von Nahrungsmitteln abgeschnitten. Schon durch die Corona-Krise nahm die Armut weltweit wieder zu; das erste Mal seit Jahren übrigens. Der jahrelange Trend der Verbesserung der Lebensumstände weltweit ist damit erst einmal zum Erliegen gekommen. Dieses Jahr dürfte sich die Lage noch einmal drastisch verschlechtern.
Diese drohende Katastrophe wird in der Weltöffentlichkeit recht unterschiedlich bewertet. Ich selbst hatte vor kurzem ein Gespräch mit einer indischen Kollegin, die mit Vehemenz den westlichen Sanktionen die Schuld an der drohenden Hungersnot gab. Die Begründung war einigermaßen absurd: Wir würden im Westen die Aggressionen Chinas und Pakistans gegen Indien nicht sehen und deshalb die russischen Aggressionen überbewerten. Der Zusammenhang erschloss sich mir bislang nicht.
Leider ist diese Wahrnehmung kein Einzelfall. Gerade in Afrika haben viele Regierungen ihre Position zur russischen Aggression sehr vage – bis hin zur Zustimmung – gehalten. Das hat auch mit der stark gewachsenen russischen Präsenz auf dem afrikanischen Kontinent zu tun. Obwohl russische Truppen auch dort deutlich sichtbar massiv Menschenrechtsverletzungen begehen, sehen manche Regierungen einen Nutzen in der russischen Präsenz. Oft besteht der Nutzen in persönlichen Zuwendungen an die Nomenklatura, auch zulasten der eigenen Bevölkerung.
Im indischen Fall kommt hinzu, dass die dortige Regierung den Export von Getreide verboten hat – was einerseits angesichts der humanitären Lage vor Ort und gestiegener Getreidepreise nachvollziehbar ist. Andererseits bedeutet es eine Verschärfung der Lage für die Ärmsten. Die Geschichte zeigt, dass Exportverbote von Nahrungsmitteln die Lebensmittelkrisen immer nur angeheizt haben.
Die westlichen Sanktionen sind im Übrigen nicht verantwortlich für die drohende Hungerkatastrophe. Selbstverständlich unterstützen die Regierungen der Sanktionsgeber den Handel von russischem Getreide mit Ländern des globalen Südens; die Sanktionen zielen gegen andere Güter. Auch versuchen sie, die Ukraine im Export ihres eigenen Getreides zu unterstützen – das muss auch so sein, denn wenn die Lager nicht bald geräumt werden, kann die neue Ernte nicht eingebracht werden.
Stellt sich die Frage nach den Motiven der russischen Führung, die Ärmsten auszuhungern. Es ist plausibel, dahinter eine „Geiselnahme‘ zu vermuten. Denn mit dem Hunger der Ärmsten wird sowohl Druck auf den Westen erzeugt, die Sanktionen gegen Russland zu reduzieren oder gar zu beenden, als auch das Bild der westlichen Länder in Entwicklungsländern verzerrt, wenigstens so lange die Menschen an Narrative wie meine indische Kollegin glauben. Drittens kann sich Putin als Retter aufspielen, wenn er schließlich doch Teile des geraubten Getreides in Entwicklungsländer liefert.
Die westlichen Sanktionsgeber stehen somit vor einem Dilemma. Einerseits können sie dem russischen Terror nicht nachgeben, ohne die politische Situation im Osten Europas weiter zu destabilisieren und die Ukraine sowie andere ehemalige Sowjetrepubliken, darunter auch die baltischen Staaten, ernsthaft zu gefährden. Andererseits steht das Image des Westens in den Entwicklungsländern auf dem Spiel, sofern gegen die tödliche Kombination von Aushungern und anderslautender Propaganda nichts unternommen wird.
Die Chance, die Handlungsfähigkeit zu behalten, ist noch nicht vertan. Wenn es wirklich gelingt, Transportinfrastruktur für den Verkauf ukrainischen Getreides auf dem Landweg nach Westen bereitzustellen und gleichzeitig selbst mehr Getreide zu exportieren, kann man selbst als Helfer auftreten und der russischen Propaganda etwas entgegensetzen.
Dazu sollten die kleinteiligen Debatten um die Auslastung der Anbauflächen unterbleiben und zügig Sondergenehmigungen für die Landwirt ausgestellt werden. Außerdem sollten die G7-Staaten das Thema prioritär behandeln und großzügige Unterstützung anbieten. Sie sollten sich dabei die Unterstützung anderer Demokratien sichern; nur mit einer konzertierten und kräftigen Aktion kann die Vorteilhaftigkeit einer demokratisch-freiheitlichen Governance-Stuktur gezeigt werden.
Diese Unterstützung der Entwicklungsländer kann durchaus konditioniert in dem Sinne geschehen, dass mit den Regierungen Absprachen über andere Themen getroffen werden, so dass deren Beziehung zu Russland sich mittelfristig ändert. Dazu müssten die G7-Staaten, allen voran Deutschland, aber einen weiten Blick einnehmen, die bislang unverbundenen Politikfelder als zusammengehörig interpretieren und ihre Stereotypen über Entwicklungszusammenarbeit opfern. Die Unterstützung der Ärmsten und die Schwächung des Aggressors sollten es doch wert sein.
Hinweis: Der Beitrag erschien am 17. Juni 2022 in der Online-Ausgabe der Wirtschaftswoche.
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