Vor wenigen Tagen, am 23.6., ist der nationale Bildungsbericht für das Jahr 2022 erschienen. Er verspricht, das deutsche Bildungswesen in Gänze von der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung bis zur Hochschulbildung und Weiterbildung im Erwachsenenalter in zweijährlicher Berichterstattung zu beleuchten. Die Studie wird von einer Autorengruppe unabhängiger Wissenschaftler, der Autorengruppe Bildungsberichterstattung, erstellt. Die Statistischen Ämter der Länder und des Bundes liefern die Daten.
Die gesammelte Datengrundlage ist, das ist anzuerkennen, sehr stark: 375 Seiten an Zahlen, Daten und Effekten, wie Frau Schmoll es in ihrem Blog-Artikel in der Frankfurter Allgemeinen zusammenfasst (hier nachzulesen: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/warum-der-bildungsbericht-ueberarbeitet-werden-muss-18123412.html?xing_share=news). Und doch ist der Bericht keineswegs – wie Frau Schmoll es ausdrückt, ein Datenfriedhof. Der Bericht ist aus meiner Sicht sehr leserfreundlich strukturiert, gut illustriert und sollte gerade für die Medien, aber auch für Blogautoren wie mich eine Fundgrube darstellen, um inhaltliche Beiträge zu bildungspolitischen Debatten datenbasiert begründen zu können. Es ist aus meiner Sicht auch nicht die Aufgabe der Autorengruppe, dies selbst zu übernehmen – vom Bericht sollten wir uns verlässliche Daten wünschen, die möglichst werturteilsfrei erhoben werden. Es ist am Leser, an den Medien und an den Politikern, Handlungserfordernisse hieraus abzuleiten und bildungspolitische Vorschläge zu erörtern.
Indes mangelt es dem Bericht nicht an kritischer Würdigung. So weist selbst die Homepage der Bundesregierung (https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/nationaler-bildungsbericht-2055540) konkrete Hinweise auf die vom Bildungsbericht aufgedeckten Missstände hin. Hier wird formuliert:
„Die Folgen der Corona-Pandemie und die sich durch die Flüchtlinge aus der Ukraine ergebenden Bedarfe stellen den Bildungsbereich vor große Aufgaben. Zudem zeichnen sich auch Herausforderungen vor dem Hintergrund steigender Geburtenraten, einer wachsenden Heterogenität von Kindern und Jugendlichen, sozialer Ungleichheit bei Bildungschancen sowie der Umsetzung von Inklusion in allen Bildungsbereichen ab. Auch die wachsende Digitalisierung der Gesellschaft und Arbeitswelt stellen das Bildungssystem und seine Fach- und Lehrkräfte vor neue Aufgaben.“
In der Tat sind viele Kritikpunkte im Bildungsbericht direkt oder indirekt enthalten. Dies betrifft auch die Analyse des Hochschulsektors. So thematisiert der Bildungsbericht (2022, S.221) im Hochschulkapitel durchaus die Probleme „bei Vorbereitung und Anspruchsniveau digitaler Lehrveranstaltungen“, auf die aufgrund der Pandemie-Situation kurzfristig umgestellt werden musste. Auch die „Probleme in Bezug auf die akademische und soziale Integration von Studierenden“ spricht er genauso wie die Lage der Studienanfänger und Studienanfängerinnen beim Übergang in die „wichtige neue Bildungsphase unter außergewöhnlichen Bedingungen“ an. Dabei verzichtet der Bildungsbericht hier trotz kritischer Äußerungen sogar auf Empirie, womit sich die Autorengruppe inhaltlich schon etwas weit aus dem Fenster lehnt. Es gebe, so formuliert es der Bericht als Begründung, „Hinweise“.
Andere, mittelfristige Probleme des Hochschulsektors werden nicht explizit im Bericht adressiert, lassen sich aber jetzt bereits klar an den Zahlen ablesen. Dies betrifft vor allem die Anpassungsprozesse des Hochschulsektors auf den demografischen Wandel. Denn auf stolze 423 Hochschulen ist der deutsche Hochschulsektor mittlerweile angewachsen, in einem Vierteljahrhundert ist das ein Plus von fast 30 Prozent (vgl. die aus dem Bildungsbericht entnommene Abbildung)! Insbesondere die Anzahl privater Fachhochschulen hat von 20 auf 83 stark zugenommen und erklärt mehr als die Hälfte des Anstiegs.
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Weil die Quote der Studienberechtigten von 36 Prozent auf zwischenzeitlich über 50 Prozent gestiegen ist, begannen auch immer mehr junge Menschen ein Hochschulstudium. Die Zahl der akademischen Erstabschlüsse stieg ebenfalls von 2002 bis 2015 von ca. 170.000 auf über 300.000 pro Jahr an – alle diese Zahlen präsentiert der Bildungsbericht (Bildungsbericht, 2022). Doch dieser „Mitte der 2000er-Jahre einsetzende Trend einer beschleunigten Akademisierung ist vorläufig zum Stillstand gekommen“, so fasst er es dann lapidar zusammen. Die Nachfrage nach hochschulischer Bildung habe sich „auf hohem Niveau stabilisiert“.
Bereits in den letzten Jahren ist indes in den Daten erkennbar, dass ein Rückgang der Übergangsquoten von der Schule ins Studium (seit 2013) wie auch bei den Zahlen der Hochschulabsolventinnen und -absolventen (seit 2016) zu erkennen ist. Der Wandel ist bereits absehbar. Davon ausgehend, dass die Kohortengröße der jeweils 19-jährigen (und damit der Gruppe junger Menschen, die frisch die Studienzugangsberechtigung erwirbt und einen großen Teil der Nachfrage nach Studienplätzen ausmacht) von 846 Tsd. Ende 2019 auf 754 Tsd. Personen Ende 2030 schrumpfen wird, wie es die Ergebnisse der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes in der moderaten Prognose voraussehen lässt, steht dem Hochschulsektor aufgrund des vom Bildungsbericht diagnostizierten Stillstandes ein dramatischer Einschnitt bevor. In vielen Hochschule, gerade in jenen in geografischer Randlage, ist das Wegbleiben von Studierenden heute schon ein Thema. Doch die Finanzierung an den öffentlichen Hochschulen ist zumindest teilweise an die Anzahl ihrer Studierenden geknüpft; die privaten Hochschulen sind in ihrer Existenz von der Studierendenanzahl abhängig. Auch wenn der Bericht auf die kommenden Probleme noch nicht explizit aufmerksam macht, so ist ein härterer Wettbewerb der Hochschulen um die Studierenden in den Daten schon abzusehen. Dies kann positiv und qualitätssteigernd sein, doch besteht bei einem Wettbewerb von Institutionen, die Zertifikate vergeben, immer auch die Gefahr, dass der Wert der vergebenen Zertifikate im Wettbewerbsprozess abnimmt: Es ist für eine Hochschule zum kurzfristigen Überleben allemal sinnvoll, Studierende mit sehr guten Noten trotz überschaubarer Leistung zu einem Abschluss zu führen, auch wenn langfristig das vergebene Zertifikat an Wert verliert. Doch zählt für die einzelne Hochschule zunächst das Überleben am Markt, und wenn klar ist, dass es durch die Demografie bedingt zu einem Schrumpfungsprozess kommen wird, dann ist es erste Pflicht, für eine gesunde Finanzierung Studierende anzulocken.
Es ist die Aufgabe der Bildungspolitik, frühzeitig dafür zu sorgen, dass dieser Wettbewerb nicht unlauter als Wettbewerb durch das Senken akademischer Mindeststandards geführt wird, sondern durch die inhaltliche Qualität der anbietenden Hochschulen, damit der akademische Stand und die deutsche Hochschullandschaft ihren guten Ruf behalten. Bisher ist in diese Richtung nichts geschehen. Der Bildungsbericht liefert alle Indizien dafür, bereits jetzt entsprechend vorzusorgen. Dazu sei die Politik hiermit aufgefordert!
Zentrale Quelle:
Bildungsbericht 2022, verfasst von der Autorengruppe Bildungsberichterstattung, online verfügbar unter https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2022/pdf-dateien-2022/bildungsbericht-2022.pdf.
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