Mit dem 9-Euro-Ticket hat die Bundesregierung den Deutschen ermöglicht, den diesjährigen wunderbaren Sommer in vollen Zügen zu genießen. 52 Mio. verkaufte Tickets in drei Monaten werden allseits als Riesenerfolg verbucht. Im Konzert der sich dafür selbst beweihräuchernden Politiker und ÖPNV-Lobbyisten argumentiert Bundesverkehrsminister Wissing sogar noch vergleichsweise gehaltvoll, wenn er die Überwindung des „Tarif-Dschungels“ als besonderen Erfolg dieser Aktion preist und einen einfacheren Zugang zum ÖPNV anmahnt.
Natürlich musste das 9-Euro-Ticket ein Publikumsliebling werden: Freibier macht ja bekanntlich durstig – und die Bundesdeutschen sind dafür bekannt, dass sie besonders eifrig zugreifen, wenn es billig ist oder wenn der Staat einem (vermeintlich) etwas schenkt. Es stellt sich allerdings die berechtigte Frage, nach welchem Maßstab beurteilt werden soll, ob es tatsächlich ein Erfolg war: Geht es um politische Fragen wie die Dokumentation von Handlungsfähigkeit in der Krise oder um harte ökonomische Kennzahlen im Sinne einer Abwägung von Nutzen und Kosten? Welche Ziele wurden eigentlich mit der bundesweiten ÖPNV-Flatrate verfolgt? Ist das 9-Euro-Ticket gar ein wesentliches Instrument für mehr Klimaschutz und muss daher unbedingt verlängert werden, wie es Greenpeace gefordert hat?
Von den Antworten auf diese Fragen sollte eigentlich auch die Entscheidung über eine Nachfolgeregelung abhängen. Diese ist aber mit der grundsätzlichen Einigung der Verkehrsminister von Bund und Ländern auf ein bundesweit nutzbares und monatlich kündbares Nahverkehrsticket zum Preis von 49 Euro bereits gefallen. Zwar wurden die ursprünglichen Erwartungen einer sofortigen und unbefristeten Weiterführung des 9-Euro-Angebots nicht erfüllt; die Bundesregierung hatte sich aber selbst unter erheblichen Zugzwang gesetzt, eine geeignete Nachfolgeregelung zu finden. Da die Verantwortung für den Nahverkehr laut Grundgesetz bei den Ländern liegt, mussten diese zuerst davon überzeugt werden. Dazu diente das Angebot eines zusätzlichen Finanzrahmens von 1,5 Mrd. Euro seitens des Bundes, wenn die Länder die gleiche Summe aufbringen würden.
In den jüngsten Verhandlungen der Verkehrsministerkonferenz haben die Länder diesem unsittlichen Angebot zugestimmt – unter der Bedingung, dass ihre Forderung nach einer deutlichen Erhöhung der sogenannten Regionalisierungsmittel erfüllt wird. Angesichts der Finanzierungsproblematik des ÖPNV im Nachgang von Corona und wegen der dramatischen Energiepreissteigerungen fordern sie schon länger Milliardenbeträge zum Ausgleich der anfallenden Verluste. Daher gibt es jetzt zwar eine Einigung über die Einführung des 49 Euro-Tickets ab 01.01.2023, aber noch kein abschließendes Go zur Finanzierung, was zu der kuriosen Formulierung im Beschlusspapier führt: „Die Verkehrsministerkonferenz hält in Übereinstimmung mit dem Bund einen Einführungspreis von 49 Euro pro Monat im monatlich kündbaren Abonnement für ein mögliches Angebot“.
Aber auch diesen finanzpolitischen Kuhhandel wird man noch zustande bringen. Es ist ja nur Geld. Geld des Steuerzahlers, von dem bereits jetzt rund 20 Mrd. jährlich in den ÖPNV fließen. Aufschluss über Details gibt ein Bericht der Bundesregierung aus dem Jahre 2021. So wurden bereits vor Corona im Durchschnitt aller ÖPNV-Unternehmen nur 41,5 Prozent der entstandenen Kosten durch Fahrscheinerlöse (Nutzerfinanzierung) gedeckt. Insgesamt beliefen sich die Leistungen aller Gebietskörperschaften für den ÖPNV im Bezugsjahr 2018 auf mindestens 18 Mrd. Euro [ https://dserver.bundestag.de/btd/19/321/1932131.pdf ]. Hinsichtlich der dem ÖPNV vom Bund zufließenden Haushaltsmittel (Größenordnung 13 Mrd. Euro) stellt der Bundesrechnungshof in einem Prüfbericht vom Februar 2022 zudem lapidar fest: „Der Bund weiß derzeit nicht, mit wie viel Mitteln er den ÖPNV insgesamt finanziert. Es ist nicht möglich, die Zielerreichung im Verkehr sowie im Klimaschutz ausreichend zu kontrollieren und Maßnahmen erforderlichenfalls anzupassen. Der wirtschaftliche Einsatz der Bundesmittel ist nicht sichergestellt, da die Finanzierungsbeiträge nicht aufeinander abgestimmt sind.“ [ https://dserver.bundestag.de/btd/20/005/2000599.pdf ].
Angesichts dieser Vollklatsche für die deutsche Verkehrspolitik kann man sich nur wundern, dass zusätzliche jährliche Subventionen in der Größenordnung von bis zu 5 Mrd. Euro für eine ÖPNV-Flatrate in das System gepumpt werden sollen, ohne eine ausreichende kritische Evaluierung des 9-Euro-Tickets vorzunehmen. Die genannten Gesamtsumme von 3 Mrd. Euro dürfte nämlich kaum ausreichen um ein 49-Euro-Ticket auf Dauer durchzufinanzieren.
Wie bereits festgestellt wurde, war das 9-Euro-Ticket selbstverständlich ein Erfolg, wenn man allein die Zahl der verkauften Tickets als Kriterium heranzieht. Jeder Fünfte der Ticket-Käufer war Neukunde, d.h. das verbilligte Ticket hat den ÖPNV zum ersten Mal in das Mindset vieler Menschen gerückt, was zunächst positiv zu bewerten ist. Andererseits ist im ländlichen Raum nach der Marktforschung des Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) der Anteil der Käufer nur halb so hoch wie in der Stadt; d.h. dort, wo man wegen schlechter ÖPNV-Anbindung eher auf das Auto angewiesen ist, hat das 9-Euro-Ticket nur wenig neue Fahrgäste gebracht.
Auf die schiere Zahl der verkauften Ticket zu schauen, ist zudem eine sehr vordergründige Betrachtung, die einer vertieften ökonomischen Analyse nicht standhält. Billigere Mobilität für mehr als 10 Mio. Zeitkartennutzer und 52 Mio. Ticketkäufer stellt zunächst reine Verteilungspolitik mit der Gießkanne dar: Im Durchschnitt wurde jeder Ticketkäufer und jeder Abo-Kunde monatlich mit 30 Euro bezuschusst – ob er es nötig hatte oder nicht. Das Mobilitätsangebot verbilligte sich für alle, und es wurde daher nach den Gesetzen der Ökonomie mehr nachgefragt. Das ist noch keine besondere verkehrspolitische Leistung.
Wie ist aber diese Nachfragesteigerung aus verkehrsökonomischer Sicht zu bewerten? Zunächst dürfte Konsens darüber bestehen, dass die Preisstrukturen des ÖPNV vor dem 9-Euro-Ticket nicht als markträumende Preise eines den üblichen Effizienzkriterien genügenden Marktregimes anzusehen sind. Sowohl Einzel- als auch Zeitfahrkartentarife sind letztliche politische Preise. Erinnert sei an die massiven Subventionen, aber auch an die Problematik der externen Kosten, insbesondere des Pkw-Verkehrs. Zusätzliche ÖPNV-Nachfrage sollte daher grundsätzlich positiv zu bewerten sein, solange sie eine Verlagerung vom Pkw darstellt, der höhere externe Kosten bzw. CO2-Emissionen mit sich bringt. Eine sogenannte induzierte Nachfrage – zusätzliche ÖPNV-Kunden allein aufgrund des niedrigeren Preises – ist ceteris paribus aber nur dann wünschenswert, wenn sie sich mit den gegebenen Kapazitäten ohne Überlastung des Systems bedienen lässt. Letzteres war offensichtlich nicht immer der Fall, was die Fahrgastzuwächse des induzierten Verkehrs von rund 15 Prozent (VDV) in ein kritisches Licht rückt. Der starke Ansturm von Fahrgästen hat insbesondere im Schienenpersonennahverkehr zu teilweise unhaltbaren Zuständen geführt. Kritik daran kommt auch von der Deutschen Bahn selbst; der Chef der Lokführergewerkschaft GDL, Claus Weselsky, spricht sogar von einem „noch nie da gewesenen Chaos“.
Dagegen ist es im Stadtverkehr und im regionalen Busverkehr kaum zu Überlastungssituationen durch das 9-Euro-Ticket gekommen. Diese Diskrepanz kann mit den Nutzungsgewohnheiten des Tickets erklärt werden. Wie eine Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes auf der Basis von Mobilfunkdaten ausweist, wurden insgesamt 44 Prozent mehr Bahnreisen über 30 km durchgeführt. Bei Distanzen zwischen 100 und 300 Kilometern betrug der Zuwachs sogar 57 Prozent, und am Wochenende war der Andrang besonders groß (+ 105 Prozent). Trotz dieser hohen Nutzungsintensität insbesondere des SPNV, der ja auch über längeren Fahrtstrecken eingesetzt werden kann, blieb die Zahl der Pkw-Reisen weitgehend konstant [ https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/09/PD22_377_12.html ]. Der Fernbusverkehr musste dagegen einen Rückgang der Auslastung auf manchen Relationen hinnehmen [ https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/9-euro-ticket-sorgt-fuer-leere-flixbusse-18157106.html ].
Hinsichtlich der Ticketnutzung weisen Erhebungen des DLR (Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft und Raumfahrt e.V.) darauf hin, dass der Freizeitverkehr stark im Vordergrund stand. 60 Prozent der Nutzer setzten das Ticket für Ausflüge und Fahrten am Wochenende ein, nur 18 Prozent legten damit den Weg zur Arbeit zurück [ https://www.dlr.de/content/de/artikel/news/2022/03/20220825_wie-hat-das-9-euro-ticket-unsere-mobilitaet-veraendert.html ]. Insgesamt scheint also der wesentliche Effekt des 9-Euro-Tickets in der Ermöglichung günstiger Freizeitmobilität auf für den Nahverkehr eher untypischen längeren Distanzen gelegen zu haben. Damit ist die zugespitzte Einschätzung von Flixbus-Chef André Schwämmlein, es handle sich um einen „Sommer-Freifahrt-Urlaubsgutschein“, nicht ganz von der Hand zu weisen. [ https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/9-euro-ticket-sorgt-fuer-leere-flixbusse-18157106.html ].
Da es beim 9-Euro-Ticket sicherlich nicht um die Alimentierung zusätzlicher Freizeitverkehre gegangen sein kann, die dann eine Überlastung des Bahnsystems bewirken, präsentiert sich die Bilanz aus verkehrsökonomischer Sicht zunächst durchwachsen. Bedeutsam sind aber auch die Verlagerungseffekte vom Pkw auf den ÖPNV, die z.B. zur Minderung von CO2-Emissionen beigetragen haben. Hier bleiben die Begleitstudien allerdings bis auf die des VDV eher im Ungewissen und verweisen nur darauf, dass tatsächlich Pkw-Fahrten vermieden wurden. Saubere Revealed Preference-Analysen hierfür liegen bisher nicht vor. Es wird in der Regel von den Studienautoren keine konkrete Größenordnung der Verlagerung genannt. Allein die Begleitforschung des VDV nennt einen Verlagerungsanteil von 17 Prozent, der zu 57 Prozent vom MIV gespeist wird. Damit waren im Ergebnis schätzungsweise 10 Prozent der Fahrten mit dem 9-Euro-Ticket frühere Pkw-Fahrten. Auch wenn man die Schätzung der Gesamtfahrtenzahl im Monat (1 Mrd.) und insbesondere die durchschnittliche Fahrtweite einer verlagerten Pkw-Fahrt (50km) kritisch hinterfragen muss, ergibt die Modellrechnung des VDV eine Idee der Größenordnung der verminderten Treibhausgasemissionen. Im gesamten Aktionszeitraum wird die Einsparung auf 1,8 Mio. t CO2 geschätzt und liegt damit in der Größenordnung von 1 Prozent der verkehrlichen Emissionen des Jahres 2021 in Deutschland.
Auch dieses zunächst erfreuliche Ergebnis hält einer ökonomischen Betrachtung hinsichtlich des Finanzmitteleinsatzes nicht stand. Bei Ausgaben von 2,5 Mrd. Euro für das ermäßigte Ticket errechnen sich Vermeidungskosten von rd. 1400 Euro je t CO2. Damit befindet sich das 9-Euro-Ticket hinsichtlich der Kostenwirksamkeit zwar in einer ähnlichen Liga wie die Förderung der Elektromobilität, bleibt aber nach wie vor klimapolitischer Unfug.
Was ist also von der Fortführung der Flatrate in Form des 49-Euro-Tickets zu halten? Die kurze Antwort lautet: Nichts. Für die längere Antwort sei zunächst darauf verwiesen, dass den zu erwartenden jährlichen Kosten von über 3 bis zu 5 Mrd. Euro bei einem Ticketpreis von 49 Euro nur begrenzte Verlagerungseffekte gegenüberstehen dürften. Da ein Preis in dieser Größenordnung nicht sehr weit von dem eines Monatstickets in einer Großstadt entfernt ist (durchschnittlicher Abopreis schätzungsweise 70 Euro laut VDV), kommt ein Umsteigen letztlich vor allem wegen der überregionalen Gültigkeit des Tickets zustande. Dies hat in der Fläche wenig Auswirkungen, macht aber z.B. die Speckgürtel der Großstädte zusätzlich attraktiv für Fernpendler. Es kann aber nicht Sinn eines subventionierten Tickets sein, die Zersiedlung von Ballungsräumen zu fördern, weil Menschen mit einer ÖPNV-Flatrate längere Pendeldistanzen auf sich nehmen. Auch für eine pauschale Entlastung aller bestehenden Abokunden zu Lasten des Steuerzahlers und die Subventionierung längerer Freizeitreisen mit dem SPNV gibt es keine wirklich gute Begründung.
Je günstiger das Ticket angeboten werden wird – es wird z.B. auch ein Preis von 29 Euro genannt bzw. gefordert – desto weniger Möglichkeiten haben zudem die ÖPNV-Anbieter, über ihre Preispolitik die Nachfrage zu steuern und so z.B. die Peak-Problematik im Berufsverkehr zu moderieren. Bei der Diskussion um ÖPNV-Tarife sollte es nicht um die Frage der Höhe einer Flatrate, sondern um die Tariflogik insgesamt gehen. Eine Vereinfachung und Harmonisierung der regionalen Tarifstrukturen einschließlich der Mechanismen der Anschluss- und Durchtarifierung dürfte angesichts der aktuellen Verfasstheit der Verkehrsverbünde aus polit-ökonomischer Sicht das Bohren dicker Bretter bedeuten. Hier besteht aber dringender Handlungsbedarf; dies auch hinsichtlich der Reform der institutionellen Regelungen der Einnahmenaufteilung, der mit einer Flatrate einfach übertüncht wird.
Noch wichtiger scheint allerdings die Grundsatzfrage: Soll ÖPNV einfach nur billig sein oder geht es um die Qualität des Angebots, um Kunden in Züge und Busse zu locken? Angesichts der begrenzten Verlagerungs- und der problematischen Verteilungswirkungen – von einer Flatrate profitieren sowohl Studenten wie auch Professoren – werden die zur Disposition stehenden Finanzmittel besser in die Infrastruktur, modernes Rollmaterial und eine verbesserte Anbindung der Menschen gesteckt, um die Leistungsfähigkeit des Systems zu sichern und zu erhöhen. Eine reine Verbilligung des Angebots für Bevölkerungsgruppen, die sich den ÖPNV heute nicht leisten können, ist dagegen über entsprechende monetäre Transfers im Sozialleistungssystem zu verankern, um selbstverständlich den Zugang für alle zu ermöglichen.
Aus ökonomischer und klimapolitischer Sicht spricht also wenig für eine Fortsetzung der bundesweiten ÖPNV-Flatrate. Angesichts der aktuellen Höhe der Subventionen für den ÖPNV sowie der Haushaltslage müssten die Politiker eigentlich jeden Euro zweimal umdrehen, bevor sie ihn an der falschen Stelle ausgeben. Effektivität und Effizienz des Mitteleinsatzes sind aber heute keine relevanten Kategorien mehr, denn auch die Verkehrspolitik muss in der Krise Handlungsfähigkeit beweisen. Außerdem möchte der Bundesverkehrsminister das Thema aus Angst vor Imageverlusten so schnell wie möglich abhaken. Es kostet am Ende ja nur „Peanuts“ im Vergleich zu den Entlastungspaketen und Abwehrschirmen. So wird eine Einigung über die Finanzierung nicht lange auf sich warten lassen und dem begeisterten Publikum als Meilenstein der Verkehrswende verkauft werden.
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Dem Beitrag von Prof. Eisenkopf ist uneingeschränkt zuzustimmen. Die Einführung des Deutschlandtickets wider aller ökonomischen (und letztlich auch ökologischen) Vernunft erscheint wie der Versuch, einem Ertrinkenden (hier die schlechte CO2-Bilanz des Verkehrssektors) statt eines Rettungsrings einen Anker zuzuwerfen, auf dass er noch schneller absäuft.