Die kalte Progression der Einkommensteuer schien in der Phase mäßiger Inflation vernachlässigbar zu sein. Sie wurde aber auch von denjenigen klein geredet, denen der Steuertarif nicht progressiv genug war. Der aktuelle Anstieg der Inflationsrate hat die Reformdebatte wiederbelebt. Ist ein „Tarif auf Rädern” geeignet, die kalte Progression grundlegend zu beseitigen?
Dieser Beitrag erläutert zunächst die Rolle der Einkommensteuer bei der Herstellung einer als gerecht angesehenen Verteilung der Steuerlasten. Darauf aufbauend stellt sich die Frage, inwieweit die Steuergerechtigkeit durch die kalte Progression beeinträchtigt wird. Schließlich ist zu prüfen, ob der Vorschlag einer automatischen Inflationsanpassung des Lohn- und Einkommensteuertarifs geeignet erscheint, die unerwünschten Effekte konsequent zu unterbinden.
Einkommensteuer und Steuergerechtigkeit
Die Einkommensteuer bildet den wesentlichen Ansatzpunkt für eine „gerechte” Verteilung der Steuerlasten. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, eine Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip zu realisieren. Ergänzend dient die Einkommensteuer dazu, die Markteinkommensdifferenzen in gewissem Umfang zu reduzieren.
Das Gesamteinkommen einer steuerpflichtigen Person bzw. Personengemeinschaft (Ehegatten, Familien) ist der beste Indikator zur Bestimmung ihres wirtschaftlichen Potentials und ihrer davon abhängigen steuerlichen Leistungsfähigkeit. Das Ziel der gerechten Besteuerung des Einkommens hat zwei Dimensionen. (1) Horizontale Gerechtigkeit verlangt, dass Steuerpflichtige mit gleichem Einkommen gleich viel Steuern zahlen. (2) Vertikale Gerechtigkeit ist dagegen auf eine Differenzierung der Steuerlasten nach der Höhe des persönlichen Einkommens gerichtet.
Zur Gewährleistung der horizontalen Gerechtigkeit werden idealerweise alle Einkommensteile zum Gesamteinkommen aggregiert und einheitlich belastet (synthetische Einkommensteuer). In der Praxis existieren jedoch bedeutende Abweichungen, vor allem durch die Besteuerung der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen mit der Abgeltungsteuer und/oder Körperschaftsteuer. Dadurch variiert die Steuerlast mit der Einkommensstruktur, so dass die horizontale Steuergerechtigkeit zwischen Steuerpflichtigen mit gleichem Gesamteinkommen verletzt wird.
Solange keine horizontale Gerechtigkeit besteht, ist auch die vertikale Differenzierung der Steuerlasten nach dem Gesamteinkommen notgedrungen verzerrt. Im Allgemeinen wird vertikale Gerechtigkeit so verstanden, dass die Steuerlast mit wachsendem Einkommen prozentual steigen soll, was auf einen progressiven Steuertarif hinausläuft.
Für die Steuerprogression wird zum einen das Leistungsfähigkeitsprinzip angeführt. Der Nutzenverlust, den eine proportionale Einkommensteuer verursacht, sei bei niedrigem Einkommen größer als bei hohem Einkommen. Daher erscheint es naheliegend, niedrige Einkommen geringer zu belasten. Diese Argumentation ist freilich angreifbar, da sie auf nicht beobachtbaren persönlichen Einkommens-Nutzen-Funktionen basiert.
Dagegen kann man die Steuerprogression verteilungspolitisch mit dem Anliegen rechtfertigen, die Einkommensverteilung nach Steuern gleichmäßiger zu gestalten als die Verteilung der Markteinkommen. Dieses Prinzip dürfte verteilungspolitisch konsensfähig sein, wenngleich die Vorstellungen über das anzustrebende Ausmaß der Einkommensnivellierung weit auseinandergehen.
Das Problem der kalten Progression
Im Rahmen der persönlichen Einkommensteuer bewirkt jede Erhöhung des Einkommens infolge des progressiven Tarifs einen überproportional steigenden Steuerbetrag. Dieser Effekt ist nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip nicht zu beanstanden, wenn es sich um einen realen Einkommenszuwachs handelt. Soweit das Einkommen jedoch nur nominal aufgrund der Inflation gestiegen ist, kommt es zu einer automatischen Erhöhung der Steuerbelastung bei unverändertem Realeinkommen.
Der Einkommensteuertarif konkretisiert zum Zeitpunkt seiner Einführung die verteilungspolitischen Vorstellungen einer Regierung. Ein progressiver Tarif verliert jedoch im Zeitablauf seine ursprünglich intendierten Verteilungswirkungen, wenn die Einkommen durch Inflation nominal, aber nicht real steigen. Ohne Tarifanpassungen werden real konstante Einkommen einer stetig steigenden Belastung unterworfen. Infolge der kalten Progression entfernt sich das Steuersystem zunehmend von der einmal beschlossenen Verteilungsnorm. Da eine Verschärfung der Steuerprogression hier ohne aktiven staatlichen Eingriff zustande kommt, spricht man auch von einer heimlichen Steuererhöhung.
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass ein realer Belastungsanstieg, der auf einen realen Einkommensanstieg zurückgeht, nicht mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip kollidiert. Allerdings kommt es auch hier zu einer Erhöhung der durchschnittlichen Steuerquote. Dieser Effekt, der als kalte Progression im weiteren Sinne bezeichnet wird, fördert ein überproportionales Wachstum der Staatsausgaben. Soll die Staatsquote stabil bleiben, dann müssen die Einkommensteuersätze auch bei rein realem Wachstum regelmäßig gesenkt werden.
Verteilungspolitisch stellt die inflationsbedingte kalte Progression im engeren Sinne das größere Problem dar. Bei unverändertem Tarif ergeben sich ungünstige Verteilungswirkungen. (1) Der Grundfreibetrag verliert durch Inflation real an Wert. Er reicht nicht mehr aus, um das reale Existenzminimum steuerfrei zu stellen. Eine Besteuerung des Existenzminimums verstößt jedoch gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip und ist verfassungsrechtlich untersagt. (2) Relativ zum Einkommen trifft die kalte Progression des deutschen Einkommensteuertarifs besonders die unteren und mittleren Einkommensklassen. Für Spitzeneinkommen spielt sie dagegen eine verhältnismäßig geringere Rolle. Diese Verteilungseffekte der kalten Progression widersprechen dem Umverteilungsziel.
Erweiterte Indexierung als Lösungsansatz
Die Besteuerung des Existenzminimums wird faktisch durch die jährliche Anpassung des Grundfreibetrags unterbunden, so dass die kalte Progression erst oberhalb des Existenzminimums eintreten kann. Das geschieht, wenn die übrigen Eckwerte, die den Einkommensteuertarif in verschiedene Progressionszonen zerlegen, nicht mit derselben Wachstumsrate erhöht werden wie der Grundfreibetrag. Eine durchgehende Indexierung aller Eckwerte des Tarifs ist geeignet, auch die sonst verbleibende kalte Progression zu vermeiden. Nur in diesem Fall bleiben die ursprünglichen Verteilungswirkungen des Tarifs vollständig erhalten.
In Deutschland hat eine solche automatische und umfassende Inflationsanpassung bislang nicht stattgefunden. Dies zeigt bereits ein kurzer Vergleich zwischen den Einkommensteuertarifen 2015 und 2022. Der Grundfreibetrag liegt 2015 bei 8.472 Euro und 2022 bei 10.347 Euro. Unterstellt wird, dass die Erhöhung des Grundfreibetrags um 22,1% den Realwert des steuerfreien Existenzminimums stabilisiert hat. Somit entspricht der Nominalwert von 10.347 Euro im Jahr 2022 dem Realwert von 8.472 Euro im Basisjahr 2015.
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Wären auch alle anderen Eckwerte des Tarifs mit derselben Wachstumsrate erhöht worden, dann hätte sich die Steuerbelastung gleicher Realeinkommen nicht verändert. Tatsächlich erfolgte aber nur eine unterproportionale Anpassung, was zur Mehrbelastung der Realeinkommen oberhalb des Grundfreibetrags geführt hat. Relativ zum Einkommen fiel die Zusatzlast im unteren und mittleren Einkommensbereich größer aus als im oberen Einkommensbereich.
Die kalte Progression im engeren Sinne ließe sich durch automatische Anpassung aller Eckwerte des Steuertarifs an die Inflationsrate beseitigen. Ein solcher „Tarif auf Rädern” würde einen erheblichen Beitrag zur Umsetzung des Leistungsfähigkeitsprinzips und des Ziels der vertikalen Umverteilung leisten. Wenn der Gesetzgeber die Einkommensteuerlasten anders als bisher verteilen will, müsste er in Zukunft transparent vorgehen und einen neuen, vom automatisch indexierten Tarif abweichenden Einkommensteuertarif beschließen. Heimliche Steuererhöhungen wären dann weitgehend ausgeschlossen. Ein automatischer Anstieg der Steuer- und Staatsausgabenquote im Wachstumsprozeß wäre allerdings nur durch eine weiter reichende Indexierung mit der Wachstumsrate der Nominaleinkommen anstelle der Inflationsrate zu vermeiden.
Zudem wirkt die kalte Progression nicht nur über den Steuertarif, sondern auch über nominal konstante Freibeträge, Abzugsbeträge und Einkommensgrenzen. Deren Realwert verringert sich ebenfalls durch Inflation, so dass die mit den Regelungen beabsichtigten Modifikationen der individuellen Steuerlast im Zeitablauf real an Gewicht verlieren. Mittels Indexierung der Nominalwerte ließe sich auch dieser Inflationseffekt neutralisieren. Allerdings sollte die prinzipielle Berechtigung der betreffenden Regelungen zuvor sorgfältig überprüft werden.
Fazit
Die kalte Progression verstößt gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip und das Ziel einer gleichmäßigeren Einkommensverteilung nach Steuern. Eine alleinige Anpassung des Grundfreibetrags mit der Inflationsrate sichert nur die verfassungsrechtlich gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums. Die Beseitigung der kalten Progression oberhalb des Grundfreibetrags erfordert darüber hinaus eine vollständige Indexierung aller Eckwerte des Einkommensteuertarifs. Das Konzept eines Tarifs auf Rädern lässt sich durch Indexierung mit der nominalen Wachstumsrate anstelle der Inflationsrate sinnvoll erweitern. Darüber hinaus sollte regelmäßig eine Überprüfung der Freibeträge, Abzugsbeträge und Einkommensgrenzen erfolgen.
Hinweis: Der Beitrag basiert auf einer Stellungnahme zum Antrag der Fraktion der FDP im Schleswig-Holsteinischen Landtag, Drucksache 20/253.
Blog-Beiträge zum Thema:
Alfred Boss (2015): Die „kalte Progression“. Was ist zu tun?
Jens Boysen-Hogrefe: Kalte Progression (1). Inflationsanpassung bei der Einkommensteuer. Automatik oder lieber Halbautomatik?
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Mir ist nicht ganz klar, warum man ständig am Tarif herumfummeln und Eckpunke ändern will. Hat man den Tarif zu einem Basisjahr 0 einmal festgelegt, bleibt die einfachste Lösung, die nominale Bemessungsgrundlage eines Jahres t auf das Jahr 0 mit einem festgelegten Index zu deflationieren, die resultieren Steuer zu ermitteln und diese dann auf das Jahr t zu inflationieren. Das geht ohne weitere Anpassungen prinzipiell auf beliebige Zeit. Ob ein Index die Preisentwicklung perfekt wiedergibt, bleibt dahingestellt, aber das Problem der perfekten Inflationsmessung hat man immer!