1. Auf der einsamen Insel
Wer das Wesen seines eigenen wissenschaftlichen Fachs besser kennenlernen will, tut manchmal gut daran, sich die Witze anzuschauen, die Wissenschaftler anderer Fächer über ihn machen. Hier ein typisches Exemplar von Witzen über uns Ökonomen:
Ein Physiker, ein Chemiker und ein Ökonom stranden auf einer einsamen Insel. Sie haben als einzige Nahrung eine Dose Corned Beef (ohne Ringpull) und beratschlagen, wie sie die Dose öffnen können. Der Physiker bastelt aus Ästen und Steinen, die am Strand liegen, eine Hebelkonstruktion, aber die Dose bleibt verschlossen. Der Chemiker setzt die Dose im Meereswasser der Korrosion aus, wobei er die Sonnenstrahlen nutzt, um die Korrosion zu beschleunigen, aber die Dose bleibt verschlossen. Mit wenig Hoffnung sehen sie jetzt den Ökonomen an. Der strahlt vor Zuversicht und sagt: „Nehmen wir an, wir hätten einen Dosenöffner.“
Der Insel-Ökonom hat offenbar eine Modellwelt vor Augen, in der das benötigte Werkzeug zur Verfügung steht. Unter dieser Annahme wäre sein Modell zweifelsohne nützlich – für die Situation auf der Insel war es aber leider nicht zu gebrauchen.
2. Das Meer der Tatsachen ist stumm.
Nicht nur in Witzen wird uns Ökonomen gerne vorgeworfen, in einer Modellwelt zu leben, anstatt sich mit dem realen Leben zu befassen. Unsere Analysen seien wirklichkeitsfremd und für die Praxis nicht zu gebrauchen. Auch die Ausbildung an den Hochschulen solle praxisnäher sein, um im Berufslaben besser verwertet werden zu können. Von Ökonomen wird zuallererst erwartet, dass sie sich mit Wirtschaftsstatistiken auskennen, um auf dieser Grundlage ihre Analysen und Prognosen zu erstellen. Ob wir dafür Modelle verwenden oder nicht, ist der Öffentlichkeit dabei herzlich egal.
Doch geht es wirklich ohne Modelle? Wenn wir uns als Ökonomen darauf beschränken wollten, nur Daten zu sammeln, müssten wir ja zunächst einmal entscheiden, welche Daten denn gesammelt werden sollen. Angesichts der unendlichen Masse an Daten in unserer Welt ist eine Beschränkung beim Sammeln unerlässlich. Die Entscheidung darüber, wie diese Beschränkung konkret ausfallen soll, setzt gewisse modelltheoretische Vorstellungen darüber voraus, welche Daten für welche Fragestellung relevant sind und welche nicht.
Auch nach erfolgter Datensammlung brauchen Ökonomen ein Modell, um die Daten interpretieren zu können. Bei diesen Interpretationen geht es in aller Regel um die Identifizierung kausaler Zusammenhänge. Dafür ist es notwendig, die Daten zu kategorisieren, um nach stabilen Zusammenhängen zwischen diesen Kategorien suchen zu können. Indem wir Kategorien bilden und Aussagen über die Beziehungen zwischen diesen Kategorien bilden, haben wir bereits ein Modell konstruiert. Dieses Modell können wir dann anhand der gesammelten Daten überprüfen. Wenn sich dabei die modelltheoretischen Aussagen über die Zusammenhänge zwischen den Kategorien nicht als stabil erweisen, haben wir offenbar ein ungeeignetes Modell gewählt.
Datensammlung und Modellbildung gehen also notwendig Hand in Hand. Auch wenn es historisch nicht belegt ist, wird dem österreichischen Ökonomen Joseph A. Schumpeter (1883 – 1950) das Zitat zugeschrieben: „Das Meer der Tatsachen ist stumm.“ Wir können hinzufügen, dass dieses Meer auch stumm bleiben wird, wenn wir über keinerlei Modelle zur Interpretation der Tatsachen verfügen. Modelle sind unerlässlich dafür, an die Tatsachen geeignete Fragen zu stellen. Und die Überprüfung dieser Fragen anhand der Tatsachen wiederum bietet die Möglichkeit, zwischen geeigneten und ungeeigneten Modellen zu unterscheiden.
Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass ökonomische Analysen ohne Modelle unmöglich sind. Doch geht es auch nur mit Modellen, d.h. ohne Tatsachen? In der Ökonomie sicherlich nicht. Aber vielleicht in anderen Disziplinen wie der Philosophie. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 -1831) wurde bei der Verteidigung seiner Philosophischen Dissertation über die Planetenbahnen an der Universität Jena mit der Tatsache der Entdeckung eines achten Planeten unseres Sonnensystems konfrontiert, den es nach seinen Modellen nicht hätte geben dürfen. Hegel soll darauf (auch dieses Zitat ist historisch leider nicht belegt) geantwortet haben: „Umso schlimmer – für die Tatsachen.“ Ich möchte mir hier als Fachfremder kein endgültiges Urteil erlauben, vermute aber, dass auch die Philosophie nicht ganz ohne Tatsachen auskommt.
3. Landkarten statt Landschaftsgemälde
Eine weitere populäre Kritik an Ökonomen lautet, dass die von uns verwendeten Modelle nicht realitätsgetreu genug seien. Dabei wird die Realitätsnähe oftmals als ultimative Anforderung formuliert, die selbst keiner Begründung bedürfe. Aus dem Blick gerät dabei allzu leicht, dass Modelle auch zu realitätsnah sein können. Die britische Ökonomin Joan Robinson (1903 – 1983) erläuterte dies mit einer Analogie, nach der ein völlig realitätsgetreues Modell so nützlich sei wie eine Landkarte im Maßstab 1:1. Quelle: Essays in the Theory of Economic Growth, London: Macmillan, (1962) S. 33.
Die Analogie zur Landkarte macht darüber hinaus deutlich, dass es nicht nur ein einziges Modell geben kann, das alles erklärt. Es gibt Straßenkarten, Seekarten, Wanderkarten, … . Welche Art von Landkarte (bzw. welches ökonomische Modell) angemessen ist, hängt von der jeweiligen Fragestellung ab. Gute Modelle konzentrieren sich auf die Dinge, die für die jeweilige Fragestellung relevant sind, und lassen die irrelevanten Details weg. Schlechte Modelle (und die gibt es zuhauf) blenden die relevanten Dinge aus und verschwenden Zeit und Raum mit der Darstellung irrelevanter Dinge.
Diese Überlegungen mögen trivial erscheinen, aber sie spielen in den Wirtschaftswissenschaften eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Karrierechancen junger Wissenschaftler hängen entscheidend davon ab, ob sie ausreichend Publikationen in renommierten Fachzeitschriften vorweisen können (und das ist auch gut so). Dabei sind die Chancen, die eigene Arbeit vom Herausgeber der Fachzeitschrift akzeptiert zu bekommen, in aller Regel besser, wenn sie ein formales, mathematisch ausformuliertes Modell enthält (und das ist nicht gut so). Ob dieses Modell relevant für die Fragestellung ist, erscheint gelegentlich weniger wichtig als die Frage, ob überhaupt ein hinreichend komplexes Modell präsentiert wird.
Eine solche Verengung birgt die Gefahr, dass sich die Ökonomie im gesellschaftlichen Diskurs selbst marginalisiert. Das wäre schade, denn die höchste Dynamik in den Wirtschaftswissenschaften steckt gerade in den Grenzgebieten gegenüber anderen wissenschaftlichen Disziplinen. An vorderster Stelle ist dabei die Sozialpsychologie zu nennen, von der die Wirtschaftswissenschaften vielfältige neue Anregungen und Horizonterweiterungen erhalten (behavioral economics). Aber auch gegenüber dem Staatsrecht und der Geschichtswissenschaft ergeben sich immer mehr äußerst fruchtbare Überlappungen (institutional economics). In diesen angrenzenden Wissenschaften spielt die Mathematisierung eine vergleichsweise kleine Rolle, so dass sich die Ökonomie beträchtlicher Entwicklungschancen berauben könnte, wenn sie allzu sehr darauf beharrt, dass wirtschaftswissenschaftliche Argumentationen auf formalen Modellen beruhen sollten.
4. Die Rolle der Mathematik in ökonomischen Modellen
Damit sind wir bei der Frage angelangt, wodurch sich Modelle in der Ökonomie auszeichnen. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Erwägungen sind ökonomische Modelle vereinfachte, reduzierte Abbildungen der Wirklichkeit. Dabei geht es natürlich nicht um alle möglichen Kategorien von Wirklichkeit, sondern um die Wirklichkeiten des ökonomischen Handelns von Menschen – seien es Konsumenten, Produzenten, Politiker, NGOs, Staaten und Staatenbünde oder auch alle anderen Typen von wirtschaftlichen Akteuren.
Modelle können in unterschiedlichen Sprachen kommuniziert werden. Die Mathematik ist dabei nur eine Sprache unter mehreren. Sie hat ohne Zweifel den Vorteil, dass sie besonders geeignet ist, logische Inkonsistenzen in der Argumentation aufzudecken, aber sie ist keineswegs die einzig valide Sprache. Und sie hat den unverkennbaren Nachteil, dass sie die Kommunikation mit anderen Sozialwissenschaften oftmals unnötig erschwert. Auch hier gilt: Es gibt kein generelles richtig oder falsch, sondern es kommt auf die jeweilige Zielsetzung an.
In den vergangenen Jahrzehnten hatte es den Anschein, dass der Trend in der Ökonomie eindeutig hin zu formalen, mathematisch formulierten Modellen geht. Diese Entwicklung begann schon in den 1930er und 1940er Jahren, als die Ökonomie mehr und mehr von der stark mathematisierten angelsächsischen Wissenschaft geprägt wurde und die einstmals dominierende deutschsprachige Ökonomie immer mehr in den Hintergrund geriet. Wenn künftig allerdings die Kooperation mit anderen Sozialwissenschaften an Bedeutung gewinnen sollte (wovon ich ausgehe), dann könnte es vorteilhaft sein, wenn ökonomische Modelle sich etwas zurückhaltender bei der Sprache der Mathematik bedienen würden und stattdessen etwas näher an die Kommunikationsweisen benachbarter Sozialwissenschaften heranrücken würden.
5. Im Heißluftballon
Dieser Beitrag begann mit einem Ökonomenwitz. Nun soll er auch mit einem solchen enden.
Zwei Ballonfahrerinnen haben sich verflogen. Sie gehen über einem Acker, auf dem sie eine Frau sehen, auf niedrige Höhe herunter und rufen ihr zu: „Wo sind wir?“ Die Frau ruft zurück: „Sie sind in einem Heißluftballon, der in zwanzig Metern Höhe über einem Acker schwebt.“ Sagt die eine Ballonfahrerin zur anderen: „Das muss eine Ökonomin sein. Ihr Analysemodell ist korrekt und präzise, aber zu nichts nutze.“
Die Moral dahinter: Ökonomische Wissenschaft ohne Modelle ist nicht möglich. Aber nicht alle Modelle bringen uns voran, auch wenn sie formal richtig sein mögen – so wie das Modell der Frau auf dem Acker. Die Suche nach dem adäquaten Modell, das zu der jeweiligen Fragestellung passt, wird stets eine zentrale Aufgabe des Wirtschaftswissenschaftlers bleiben.
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Sehr schöner Beitrag! Allerdings liegt das Problem der ökonomischen Modellierung in der Gegenwart insbesondere darin, was unter 2. beschrieben ist, wobei ein wesentlicher Aspekt meines Erachtens zu kurz kommt: Auf theoretische Modelle, die diesen Namen verdienen, wird heute kaum mehr geachtet. Der Fokus liegt ganz klar auf empirischen Auswertungen, die neben einer entsprechenden Datenbasis vor allem ausgefeilter ökonometrischer Techniken bedürfen. Wer in die angesprochenen „renommierten“ Zeitschriften kommen will, muss selbst oder vorzugsweise mittels Koautoren über beides verfügen, während theoretische Modelle weitgehend überflüssig sind – kein Witz!