Pro & Contra
Hilfe, die GRV säuft ab: Reiche und Frauen an Bord!?
Ein Plädoyer für das Äquivalenzprinzip

Der demografische Wandel schreitet langsam, aber unbarmherzig voran und setzt die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) zunehmend unter Druck. Statt beherzt über Reformen nachzudenken, duckt sich die Politik ängstlich weg. Man möchte die Renten nicht kürzen, aber auch nicht die Beiträge und das Renteneintrittsalter erhöhen. Die Vorstellung, dass die Bundeszuschüsse zur GRV bald die Hälfte des Bundesetats ausmachen, behagt freilich auch niemandem. Immerhin schafft man es, einen Klassiker der Rentendebatte aus der Mottenkiste zu ziehen: Die Umverteilung von Renten und Pensionen von Menschen mit hohen Ruhestandsbezügen zu solchen mit geringen Bezügen. Dabei ist ausdrücklich auch die Einbeziehung von Beamten in die GRV angedacht. Neu ist hieran allenfalls die aktuell gewählte Begründung: die statistisch höhere Lebenserwartung von Gutverdienern im Vergleich zu Geringverdienern. Was ist von diesem Argument zu halten?

Die Versicherungsfunktion der GRV

Die Gesetzliche Rentenversicherung ist eine Versicherung gegen das Risiko der Langlebigkeit. Da der Zeitpunkt des eigenen Todes nicht vorhersagbar ist, kann eine präzise individuelle Planung der Altersvorsorge nicht gelingen, sofern nicht außerordentlich hohe Rücklagen für den Fall eines eventuell sehr langen Lebens gebildet werden (das dann aber in den meisten Fällen gar nicht eintreten wird und „ungeplante“ Vererbung verursacht). Auf gesellschaftlicher Ebene lässt sich mit dieser Herausforderung leichter umgehen, weil die durchschnittlichen Lebenserwartungen der Menschen bekannt sind. Dies ermöglicht eine Versicherungslösung, sei sie nun staatlich oder privat organisiert: wenn genügend Menschen einen Versicherungspool bilden, dann kann ein Ausgleich zwischen denjenigen, die früh versterben, und denen, die lange leben, erfolgen. Das ist für die früh Verstorbenen bedauerlich, aber entspricht dem Wesen einer Versicherung. In der Gesetzlichen Krankenversicherung zahlen nach einer ähnlichen Logik die Gesunden für die Kranken.

Die Teilhabeäquivalenz

Solidarisch im Sinne des „Solidarprinzips“ wird die GRV durch die Versicherungspflicht für alle Beschäftigten (zumindest innerhalb der Pflichtversicherungsgrenzen). Unterschiedliche individuelle Risiken aufgrund von u.a. Geschlecht, Herkunft oder Geburtsjahrgang führen nicht zu unterschiedlichen Beiträgen, d.h., es kommt nicht zu einer risikoäquivalenten Prämiendiskriminierung. Zugleich sorgt das in der GRV geltende Prinzip der „Teilhabeäquivalenz“ dafür, dass die Höhe des Versicherungsbeitrags das Ausmaß des Versicherungsschutzes bestimmt: Wer mehr einzahlt, bekommt eine höhere Rente als jemand, der weniger einzahlt. Präziser gesagt ist die GRV nach dem Ideal einer perfekten Teilhabeäquivalenz aufgebaut, bei der die Beitragszahlungen sich exakt proportional in den Rentenansprüchen widerspiegeln sollen. Eine 1,5-fach höhere Beitragszahlung eines GRV-Mitglieds gegenüber einem anderen würde zu 1,5-fach höheren Entgeltpunkten führen, die eine 1,5-fach höhere Rente nach sich zögen. Die Teilhabeäquivalenz bezieht sich dabei allerdings nur auf die (relative) Höhe der Renten, nicht auf die potenzielle Dauer der Bezugszeit.

Zur Umverteilung von Entgeltpunkten

Zurzeit wird nun vorgeschlagen, die Entgeltpunkte so zu modifizieren, dass Gutverdiener Geringverdiener quersubventionieren. Weil dies innerhalb einer Kohorte oder sogar Generation (und nicht zwischen Generationen) passiert, spricht man von „intragenerativer“ Umverteilung. Geht man vom so genannten „Eckrentner“ aus, der genau einen Entgeltpunkt erhält, weil er Beiträge leistet, die genau denjenigen eines Durchschnittsverdieners entsprechen, dann könnte bei dieser Art der Umverteilung beispielsweise der Bezieher eines Einkommens, das 25 Prozent oberhalb des Durchschnitts liegt, nur 20 Prozent mehr Entgeltpunkte erhalten (also 1,2 statt 1,25). Wer 25 Prozent unter dem Durchschnitt verdient, erhielte einen geringer als proportionalen Abschlag bei den Entgeltpunkten (z.B. 0,8 statt nur 0,75 Punkte). Was auf den ersten Blick wie eine geringfügige technische Anpassung innerhalb der GRV wirkt, ist in Wirklichkeit ein schwerwiegender Eingriff in die seit den Zeiten Otto von Bismarcks Ende des 19. Jahrhunderts historisch gewachsene Sozialgesetzgebung, der auch als solcher benannt werden sollte. Es handelt sich um einen Bruch mit dem Prinzip der Teilhabeäquivalenz und damit auch mit dem Grundsatz der Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung. Wie sehr die Teilhabeäquivalenz in der GRV verankert ist, zeigt Abbildung 1 anschaulich. Für die Neurentner im Jahr 2015 waren frühere Beitragszahlungen und erstmals bezogene Renten über alle Einkommensklassen hinweg nahezu perfekt proportional. Bei den Neurentnerinnen ist dieser Effekt nur vermeintlich schwächer; die etwas stärkere intragenerative Umverteilung wird bei ihnen weit überwiegend durch die anrechenbaren (einkommensunabhängigen) Kindererziehungszeiten getrieben.

Die Zielgenauigkeit fehlt

Die Teilhabeäquivalenz als einen grundlegenden Pfeiler des modernen Sozialstaats aufzugeben, ist aus mehreren Gründen problematisch. Zunächst einmal erscheint das Vorhaben, mit einer intragenerativen Umverteilung innerhalb der GRV die Altersarmut zu bekämpfen, wenig zielführend, weil es sich bei der GRV um ein beitragsfinanziertes System handelt. Armutsbekämpfung wird in Deutschland jedoch traditionell durch die steuerfinanzierte Sozialhilfe durchgeführt, da es sich hierbei um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt. Dadurch beteiligen sich nicht nur die Beitragszahler der GRV, sondern alle Steuerzahler in Deutschland an der Finanzierung der Sozialhilfe, also auch Beamte, Selbstständige, Unternehmen etc. Darüber hinaus erfolgt die Beteiligung durch das Einkommensteuersystem progressiv: Menschen mit hohem Einkommen tragen deutlich überproportional zur Finanzierung bei. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass derartige Sozialleistungen zahlungsmäßig über die GRV abgewickelt werden, aber u.a. die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie die Kindererziehungszeiten machen als gesamtstaatliche Leistungen (zumindest in der Fiktion) einen Teil des Bundeszuschusses an die GRV aus.

Im Hinblick auf die gesamtstaatlichen Sozialleistungen kommt ein wichtiger Gerechtigkeitsaspekt hinzu. Die Grundsicherung als letztes soziales Netz sollte für alle Menschen gleich sein, denn wer arm ist, ist arm. Das heißt, es gibt a priori keinen Grund, warum man arme alte Menschen gegenüber armen Kindern bevorzugt behandeln sollte. Durch den Ansatzpunkt der Armut bzw. Bedürftigkeit, die eine Bedürftigkeitsprüfung voraussetzt, wirkt die Grundsicherung deutlich zielgenauer als eine GRV-immanente Umverteilungskomponente, denn nur tatsächlich bedürftige Menschen haben einen gesetzlichen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen. Geringe Renten hingegen bedeuten nicht automatisch Bedürftigkeit. So erhält die Zahnarztgattin möglicherweise eine niedrige Rente, ist aber unter Berücksichtigung des Haushaltseinkommens vermutlich nicht bedürftig.

Hinzu kommt, dass eine Umverteilung innerhalb der GRV – selbst wenn sie zugunsten der Richtigen (in diesem Falle also der Armen) durchgeführt wird – nicht von den Richtigen finanziert wird, da die zusätzliche Belastung zur Finanzierung entsprechend der Rentenformel nur proportional und nicht progressiv steigt. Durch die Beitragsbemessungsgrenze, die beim doppelten Durchschnittseinkommen einsetzt, also zu einer Deckelung der Beiträge von Beziehern wirklich hoher Einkommen führt (diese müssen zur Lebensstandardsicherung im Alter dann zusätzlich privat vorsorgen), würde diese Umverteilung für Gutverdiener sogar regressiv wirken.

Erst die Reichen, dann…?

Zu beachten ist auch, dass die positive Korrelation zwischen Einkommen und Lebenserwartung bzw. Langlebigkeit zwar empirisch beobachtbar, jedoch nicht einfach zu erklären ist. So ist beispielsweise die Frage der Kausalrichtung zwischen den beiden Variablen Gegenstand jahrzehntelanger Forschung, die zwar tendenziell eine Wirkrichtung vom sozioökonomischen Status (insbesondere Einkommen) zur Gesundheit und Lebenserwartung andeutet, ohne dass dies aber zweifelsfrei nachzuweisen wäre. Dies hängt damit zusammen, dass die Lebenserwartung in modernen Gesellschaften nicht nur vom Einkommen, sondern von einer ganzen Reihe von Faktoren abhängt. Der Bildungsstand stellt sich hierbei als besonders relevant heraus, da der Gesundheitszustand und das gesundheitsrelevante Verhalten (Ernährung, Alkoholkonsum, Sport, Rauchen) deutlich von diesem abhängen. Nimmt man dies als Ausgangspunkt, dann ist es instruktiv, Personen mit geringem Bildungsgrad und hohem Einkommen sowie solche mit hohem Bildungsgrad und niedrigem Einkommen zu betrachten. Führt für die erste Gruppe der niedrige Bildungsstand zu einer geringeren Lebenserwartung, etwa, weil ein ungesunder Lebensstil gepflegt wird, und kann dies nicht durch das höhere Einkommen kompensiert werden (etwa durch umfangreiche privatärztliche Leistungen), dann werden diese Hocheinkommensbezieher in der GRV mit dem Argument, dass sie länger leben, stärker belastet, obwohl sie dies nicht tun. Umgekehrt lebt ein gesunder Asket sehr lange und erhält durch die intragenerative Umverteilung einen Rentenaufschlag. Man mag diese Beispiele konstruiert empfinden, sie zeigen aber das grundsätzliche Problem auf: Durch die Abschaffung einer vermeintlichen Ungleichbehandlung würde nur eine neue Ungleichbehandlung geschaffen werden.

Der tiefere Grund hierfür ist letztlich, dass in dem Moment, in dem man beginnt, multikausale Größen wie die Lebenserwartung risikoäquivalent zu versichern, Tür und Tor geöffnet werden, alle – tatsächlichen wie vermeintlichen – Einflüsse auf die Lebenserwartung zu berücksichtigen. Dann stellt sich zurecht die Frage, warum man beim Einkommen aufhören sollte. Wie soll man beispielsweise mit der Tatsache umgehen, dass Frauen eine höhere Lebenserwartung als Männer haben? Wendet man dieselbe Logik wie beim aktuellen Vorschlag, die Bezieher höherer Einkommen wegen ihrer höheren Lebenserwartung finanziell heranzuziehen, an, dann müsste konsequenterweise eine Umverteilung von Frauen zu Männern stattfinden, um den bestehenden Sterblichkeitsvorteil auszugleichen. Ein derartiger Vorschlag wirkt aus guten Gründen verstörend und falsch. Noch absurder wird es, wenn man dieselben Überlegungen auch auf die anderen Zweige der Sozialversicherung, die ebenfalls durch das Äquivalenzprinzip gekennzeichnet sind, anwendet. Menschen in Regionen oder Berufsfeldern mit hoher Arbeitslosigkeit beziehen im Durchschnitt länger und in der Summe mehr Arbeitslosengeld als andere Mitglieder der Arbeitslosenversicherung. Sollen sie deshalb höhere Beiträge zahlen?  

Fazit

Auf die wachsenden demographischen Herausforderungen für die GRV hat der deutsche Staat in den vergangenen Jahren keine überzeugenden Antworten gefunden; ganz im Gegenteil verheddert er sich regelmäßig mit Ad-hoc-Maßnahmen, deren vornehmliches Ziel die Beruhigung der Bevölkerung (und damit sicherlich auch die Stärkung der eigenen Wiederwahlchancen) ist. Gerade das Äquivalenzprinzip scheint es der Politik angetan zu haben. Immer wieder wird es herausgefordert oder umgangen, ausgesetzt oder sogar in Teilen aufgehoben, etwa bei der Grundrente oder der abschlagsfreien Rente mit 63. Nun gibt es also die Forderung, Entgeltpunkte direkt umzuverteilen. All dies zeigt letztlich vor allem eines: es fehlt der deutschen Sozialpolitik ein ordnungspolitisches Leitbild. Eine teilweise oder vollständige Abschaffung der Teilhabeäquivalenz, die – nebenbei bemerkt – ein Maßstab für die intra-, nicht die intergenerative Umverteilung ist, kann die (demographischen) Probleme der GRV nicht beheben. Ganz im Gegenteil: Aufgrund einer jahrelangen kurzsichtigen Haushaltspolitik kam es immer wieder zu einer Vermischung von Steuer- und Beitragsmitteln, die die Urprinzipien der deutschen Sozialversicherungen auf den Kopf stellten. Eine Verkomplizierung und Intransparenz der Umverteilungsmechanismen und -wirkungen sind die Folge. Dieses Vorgehen führt allzu oft dazu, dass die Bevölkerung ihre Rentenbeiträge als Steuer wahrnimmt, was wiederum Akzeptanzprobleme ganz eigener Art hervorruft. Wenn die Politik die sozialen Sicherungssysteme nachhaltig finanzieren möchte, wird sie um Strukturreformen, wie die Erhöhung der Lebensarbeitszeit, nicht herumkommen.

Literatur

Klos, J., Krieger, T., & Stöwhase, S. (2022). Measuring Intra-generational Redistribution in PAYG Pension Schemes. Public Choice 190(1-2), 53-73.

Krieger, T., Meemann, C., & Traub, S. (2022). Inequality, Life Expectancy, and the Intragenerational Redistribution Puzzle – Some Experimental Evidence. CESifo Working Paper Series, No. 9677.

Contra-Beitrag zum Äquivalenz-Prinzip:

Gert G. Wagner (2023): Alterssicherung sollte sich von der versicherungstechnischen Äquivalenz verabschieden

Tobias Kohlstruck und Tim Krieger

2 Antworten auf „Pro & Contra
Hilfe, die GRV säuft ab: Reiche und Frauen an Bord!?
Ein Plädoyer für das Äquivalenzprinzip

  1. Bei privaten (freiwilligen) Versicherungen sind Unisex-Tarife aufgrund der Rechtsprechung des EuGH aus dem letzten Jahrzehnt Pflicht. Unabhängig davon, wie die zu beurteilen ist, wäre es schon überaus bemerkenswert, wenn bei Pflichtversicherungen eine entsprechende Diskriminierung eigesetzt würde, die ihrerseits wieder logisch zwingend ist, wenn man mit dem Diskriminieren anfängt.

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