Die Ukraine hat, wie es scheint, die erwartete militärische Gegenoffensive begonnen, mit der sie die russischen Angreifer aus ihrem Territorium zurückdrängen will. Auch wenn der Erfolg der Gegenschläge derzeit noch unsicher ist, gilt es doch, sich bereits jetzt mit den möglichen Ergebnissen zu beschäftigen, die die Offensive zeitigen könnte. Gelänge es den Ukrainern, die Invasoren erfolgreich aus ihrem Land zu verdrängen, so könnten die Kriegshandlungen enden, auch wenn der Zustand, der sich dann einstellen würde, kaum mehr als ein „kalter“ Frieden sein würde. Damit stellte sich die Frage, wie es politisch, ökonomisch und gesellschaftlich in der derart befriedeten Ukraine weitergehen soll. Angesichts des 75. Jubiläums des Marshallplans, das in diesem Jahr vielerorts in Europa gefeiert wird, hört man gelegentlich den Vorschlag eines „neuen Marshallplans für die Ukraine“. Ist das Konzept des Marshallplans, so wie es damals umgesetzt wurde, hierfür geeignet? Oder bedarf es einer anderen Herangehensweise?
Leiden für die Verteidigung der Werte der freien Welt
In vielerlei Hinsicht und erkennbar leidet die Bevölkerung der Ukraine unter den massiven Kriegsfolgen, die der Angriff Russlands auf das Land und dessen territoriale Integrität verursacht hat. Menschen wurden vertrieben, verwundet oder getötet, Angehörige und Freunde psychisch belastet, bestehende soziale Strukturen zerstört, die Infrastruktur erheblich in Mitleidenschaft gezogen und die wirtschaftliche Aktivität eingeschränkt.
Auch wenn Vergleiche mit früheren großen Kriegen stets schwierig sind, so lässt sich doch sagen, dass die heutige Ukraine vor ähnlichen Herausforderungen stehen wird wie viele Länder Europas nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In unterschiedlichsten Dimensionen des persönlichen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebens wird es einer riesigen Aufbauleistung bedürfen.
Das Land mag dazu in der langen Frist durchaus selbst in der Lage sein, aber es stünde dem Westen allein schon aus moralischen Gründen gut an, die Ukraine, die tapfer und unter schmerzhaften Verlusten stellvertretend für die rechtstaatlichen Demokratien des Westens die Werte der freien Welt verteidigt hat, umfassend und großherzig zu unterstützen.
Nachkriegsdeutschland und der Marshallplan
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die USA mit dem European Recovery Program (ERP), üblicherweise Marshallplan genannt, auf die schwierige Lage der vormaligen Kriegsparteien in Europa reagiert. Das Programm zielte auf eine Linderung größter wirtschaftlicher Not ebenso wie auf die Erreichung politischer Ziele, darunter das geostrategische Ziel, einen kontinentaleuropäischen bzw. transatlantischen Block gegen die Sowjetunion zu etablieren (Unterstützungsangebote in Richtung des sich bildenden Ostblocks waren – weil mit kaum annehmbaren Bedingungen verknüpft – eher symbolischer Natur).
Obwohl andere Länder wie Frankreich und Italien in Relation zur Wirtschaftsleistung finanziell stärker gestützt wurden, hinterließ der Marshallplan vor allem in Deutschland einen bleibenden Eindruck (und wird daher auch vornehmlich hier und weniger im Rest Europas gefeiert). Dies lag daran, dass er – dank geschickter Öffentlichkeitsarbeit stets gut sichtbar – dem frühen deutschen Wirtschaftswunder vorausging bzw. teilweise auch noch mit ihm parallel verlief. Inwieweit Deutschland sein Wirtschaftswunder tatsächlich dem Marshallplan zu verdanken hatte, war allerdings lange Zeit unter Wirtschaftshistorikern durchaus strittig. Heutzutage werden die unterschiedlichen Positionen der damaligen Debatte zumeist in einen gemeinsamen Erklärungsansatz zusammengeführt.
Eher Strukturanpassungs- als Investitionsprogramm
In einer – nicht nur ökonomischen – Gesamtschau lässt sich der Erfolg des Marshallplans in Deutschland und anderswo in Europa wohl nur begrenzt mit den ökonomischen Stellschrauben erklären, die seinerzeit direkt beeinflusst wurden. Gemessen an der Größe der unterstützten Volkswirtschaften war der Marshallplan zu klein und kam zu spät, um private Investitionen substanziell anzufeuern, die Infrastruktur deutlich zu verbessern und den Import von dringend benötigten Rohstoffen zu beschleunigen. Zwar gab es solche Effekte, aber sie traten eher kurzzeitig auf und waren ökonomisch von begrenzter Bedeutung.
Wirksam war der Plan vor allem auf eine indirekte Weise, indem er wirtschafts- und strukturpolitische Maßnahmen beförderte, die interessanterweise in Teilen Ähnlichkeiten mit den ordnungspolitischen Vorstellungen der Freiburger Schule aufwiesen. Nicht nur unterstützte der Plan die Wiederherstellung der finanziellen Stabilität Europas, sondern er ermöglichte – ja fast: erzwang – Strukturreformen, die zur Voraussetzung für die Gewährung der Hilfen gemacht wurden. Schließlich erweiterten die Mittel aus dem Marshallplan den Handlungsspielraum der klammen Regierungen, um die negativen Folgen eben dieser Strukturreformen, wie steigende Preise und Arbeitslosigkeit, abzufedern. Auf diese Weise sorgten die Amerikaner dafür, dass die zuvor kontrollierten Preise freigegeben wurden, die Haushaltsdefizite der Staaten nicht ausuferten und zugleich das Vertrauen ausländischer Investoren stieg, die in Sorge waren, dass die erstarkten kommunistischen Parteien in den Ländern Westeuropas politische Erfolge erzielten, die es ihnen erlaubt hätten, die Wirtschaftspolitik wesentlich mitzubestimmen.
Die Frage der Übertragbarkeit auf die Ukraine
Versucht man, diese Herangehensweise auf die heutige Ukraine zu übertragen, dann wird schnell deutlich, dass ein „neuer Marshallplan“ für das Land nur eine geringe Ähnlichkeit mit dem ursprünglichen Marshallplan haben sollte oder – falls man den alten Rezepten folgte – wenig erreichen wird.
Anders als die Nachkriegswirtschaften Europas in den 1940er und 1950er Jahren hat die Ukraine eine Volkswirtschaft, die sich schon vor Jahren langsam, aber stetig dem globalen Wettbewerb geöffnet hat. Auch wenn dieser Prozess noch längst nicht in allen Sektoren weit fortgeschritten oder sogar abgeschlossen ist, so weist das Land doch insgesamt durchaus moderne wirtschaftliche Strukturen auf und war bis zum Beginn des Kriegs auch für ausländische Investoren ein interessantes Analageziel. Von einer hochmodernen Getreidewirtschaft über eine wachsende Automobilzulieferung bis hin zu einem dynamischen IT-Sektor haben sich Kerne für einen erfolgreichen wirtschaftlichen Aufholprozess etabliert, die dann durch den Angriffskrieg erheblich ausgebremst wurden.
Der Krieg selbst dürfte darüber hinaus weiten Teilen der ukrainischen Bevölkerung klargemacht haben, dass eine friedliche und wirtschaftlich erfolgreiche Zukunft nur in dem Westen zugewandten, marktwirtschaftlichen Strukturen liegen kann. Das russische Modell einer vermachteten, stark vom Staat beeinflussten Wirtschaft dürfte spätestens nach dem Angriff jede Attraktivität verloren haben – wenn es sie überhaupt jemals hatte. Die Notwendigkeit von Strukturreformen, die von außen in das Land getragen werden, dürfte daher ebenso begrenzt sein wie ein Wachstumseffekt, der sich aus diesen Reformen speisen könnte.
Das heißt nicht, dass es gar keinen Effekt von derartigen Reformen (in einem weitgefassten Sinne) geben könnte. Noch bis in die jüngste Zeit hatten die ukrainische Wirtschaft und Politik beispielsweise unter einem erheblichen Korruptionsproblem zu leiden. Gelänge es – mit Unterstützung der etablierten westlichen Marktwirtschaften – dieses Problem einzuhegen, so dürften durchaus auch positive Wohlfahrtseffekte entstehen.
Private und öffentliche Investitionen für die ukrainisch-russische Grenzregion
Wie beim damaligen Marshallplan dürfte die Unterstützung der öffentlichen Finanzierung des Wiederaufbaus zerstörter Infrastruktur eine relevante, wenn auch nur temporäre Wirkung entfalten. Im Vergleich höher zu bewerten wäre in diesem Zusammenhang der Effekt, den das vorherige Ende der Kampfhandlungen, die glaubhafte und langfristige Sicherung der territorialen Integrität der Ukraine und damit die Schaffung eines stabilen Umfelds für wirtschaftliche Aktivität auslöst. Denn hiermit werden überhaupt erst die Voraussetzungen für private Investitionen – insbesondere aus dem Ausland – geschaffen.
Diese Feststellung sollte allerdings nicht als Vorwand missbraucht werden, die Ukraine nicht großzügig zu unterstützen – ganz im Gegenteil. Höchst relevant ist nämlich auch und gerade die Frage, wie die Ukraine dabei unterstützt werden kann, die militärisch heikle Grenzregion zu Russland, der ein wirtschaftlicher Niedergang und die Abwanderung von jungen Menschen wie einst im deutschen Zonenrandgebiet droht, attraktiv zu halten. Öffentliche Investitionen, die von den westlichen Partnern großzügig unterstützt werden, könnten die dortige Lebensqualität hochhalten und ein Ausgangspunkt für private Investitionen sein (Lehren aus der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte und -geographie können hierbei instruktiv sein – und sei es nur, um zu wissen, was man mit den Investitionsmitteln besser nicht tun sollte).
Die wirklich wichtige Komponente eines Marshallplans für die Ukraine
Letztlich wird ein Marshallplan für die Ukraine jedoch nicht in erster Linie wirtschaftlicher Natur sein müssen, sondern vor allem die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Komponenten des Plans übernehmen, die vor 75 Jahren auch in Deutschland besondere Wirkung gezeigt haben und bis heute positiv nachwirken.
Es wird darum gehen, die Ukrainer mit zahlreichen kleineren und größeren Projekten – von beispielswiese Kulturinstituten und Wissenschaftskooperationen bis hin zu einem belastbaren Fahrplan für eine EU-Mitgliedschaft – darin zu bestärken, dass ihr Weg in Richtung Rechtsstaat und Demokratie richtig und ihr Land ein integraler Bestandteil der freien Welt ist.
Letztlich dürfte die Ukraine damit zu dem werden, was Wladimir Putin am meisten fürchtet und ein wesentlicher Kriegsgrund für ihn war: ein attraktives, weil freies, demokratisches und wirtschaftlich erfolgreiches, Rollenmodell direkt an der Grenze Russlands. Ein Land mit einem Brudervolk, das eine stete Verlockung für die russische Bevölkerung darstellt und das Putin neben einer militärischen Niederlage auch noch eine schmerzliche Niederlage in der Abstimmung mit den Füßen androht.
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