Herr Professor Breyer, ist Gesundheit ein Gut wie jedes andere auch?
Breyer: Gesundheit ist überhaupt kein Gut, denn es kann nicht gehandelt werden. Wenn man von „Gesundheit“ als einem Gut spricht, meint man meistens Gesundheitsleistungen, und diese sind Güter wie andere auch. Sie haben zwar gewisse Besonderheiten, diese aber auch nicht exklusiv.
Ökonomen erkennen in unserem Gesundheitssystem die Ölflecktheorie wieder, wonach eine staatliche Intervention die nächste nach sich zieht…
Breyer: Bei der Krankenversicherung ist das sicher der Fall: Das Verbot, Prämien nach dem Risiko zu erheben, macht den Risikostrukturausgleich notwendig. Sonst würde der Kassenwettbewerb nicht funktionieren. Die Ölflecktheorie ist also kein Grund, die Regulierung ganz abzuschaffen, denn viele Regeln sind sinnvoll.
Was würde passieren, wenn sich der Staat vollkommen aus dem Gesundheitssektor zurückzieht?
Breyer: Dann würde sich vor allem die Verteilung stark verändern: wer das Pech hat, mit Krankheit oder Behinderung geboren zu werden, wäre gezwungen, das ganze Leben in Armut zu leben. Das kann niemand wollen.
Davon sind wir in Deutschland weit entfernt. Hierzulande ist man entweder gesetzlich oder privat relativ gut versorgt. Warum steht unsere medizinische Absicherung so sehr in Verruf?
Breyer: Zum einen ist es die Zweiklassen-Medizin, die es in dieser Schärfe in kaum einem anderen Land gibt: Privatversicherte warten viel kürzer auf einen Termin und werden großzügiger versorgt, weil für sie keine festen Budgets gelten. Zum anderen ist es aber der Eindruck, dass die Ausgaben ständig steigen, ohne dass die Qualität besser wird. Dies ist teilweise ein Trugschluss, weil nicht die Ausgaben relativ zum Bruttoinlandsprodukt steigen, sondern die Basis der Finanzierung der Krankenkassenbeiträge kleiner wird, weil die Lohnquote sinkt und die Lohnspreizung zunimmt.
In der Gesetzlichen Krankenversicherung wird zur Finanzierung lediglich das Arbeitseinkommen herangezogen. Ist das gerechtfertigt?
Breyer: Das ist ein historischer Zufall, weil der Sinn der Krankenversicherung in der Bismarck-Zeit die Finanzierung des Krankengelds war, also eines Lohnersatzes. Diese Begründung trifft nicht mehr zu. Jetzt ist es eine reine Umverteilung, aber auf einer Basis, die sich gerechtigkeitstheoretisch nicht halten lässt. Noch dazu schwindet diese Basis ständig, und wir erhalten den falschen Eindruck einer Ausgabenexplosion.
Ein weiteres Merkmal ist die annähernd paritätische Aufteilung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Hat sich dieses Modell überholt?
Breyer: Auch dieses Modell hat gravierende Nachteile, weil dem Versicherten die wahren Kosten des Versicherungsschutzes nicht bewusst werden. Ein kleiner Fortschritt ist darin zu sehen, dass seit 2009 die Zusatzbeiträge vom Versicherten allein aufzubringen sind. Damit sind wenigstens die Beitragsunterschiede zwischen den Kassen nicht künstlich verkleinert.
In Deutschland werden derzeit zwei Reformvorschläge auf der Finanzierungsseite diskutiert: Die Kopfpauschale und die Bürgerversicherung. Welches Modell präferieren Sie?
Breyer: Ich versuche seit 2003 zu vermitteln, dass beide Reformen durchaus miteinander kompatibel sind und dass es gute Gründe gibt, beide zu verwirklichen. Allerdings wird sich die Trennung zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung nicht von heute auf morgen überwinden lassen, weil die bestehenden Verträge in der privaten Krankenversicherung honoriert werden müssen, und zwar bis ans Lebensende der heutigen Versicherten. Das sind viele Jahrzehnte. Andererseits ist die kassenspezifische Kopfpauschale dringend notwendig, weil sie dem Versicherten Transparenz darüber verschafft, wie viel sein Versicherungsschutz bei den verschiedenen Kassen in Euro und Cent kostet. Das erleichtert den Preisvergleich und kurbelt den Kassenwettbewerb an. Die Bürgerversicherung mit einkommensbezogenen Beiträgen halte ich dagegen für viel zu bürokratisch, weil wir dazu bei jeder Krankenkasse ein kleines Finanzamt installieren müssten. Nur wenn man sie mit der Kopfpauschale kombiniert und die Einkommensumverteilung ins Steuersystem auslagert, macht sie Sinn.
Oftmals wird behauptet, die Einführung einer Kopfpauschale würde die privaten Versicherungen stärken.
Breyer: Paradoxerweise ist das Gegenteil der Fall: Mit Einführung der Kopfpauschale würde die private Krankenversicherung ganz schnell unattraktiv, weil die Kopfpauschale niedriger wäre als die meisten PKV-Tarife. Bisher leben die Privaten zum einen von den Beamten, zum anderen von gut verdienenden Angestellten, die sich auf diese Weise der Umverteilung in der gesetzlichen Krankenversicherung entziehen wollen. Dieser Anreiz entfiele mit der Kopfpauschale völlig.
Ist eine Umverteilung über Steuern effizienter als Transfers innerhalb des Gesundheitssystems?
Breyer: Es ist vermutlich effizienter, ein einziges System der Einkommensumverteilung zu haben und nicht mehrere parallele. Vor allem aber ist es gerechter, weil das Steuersystem alle Indikatoren der Leistungsfähigkeit berücksichtigen kann und nicht nur das Arbeitseinkommen. Es erfasst alle Bürger und kennt keine willkürlichen Bemessungsgrenzen.
Steuern zahlt jeder Leistungsträger. Wären die Privatversicherten die Gelackmeierten beim Modell der Kopfpauschale?
Breyer: So ist es. Mein Mitleid hält sich jedoch in Grenzen, obwohl ich selbst als Beamter dazu gehöre, denn das geltende Privileg, nicht zur Umverteilung in der gesetzlichen Krankenversicherung beitragen zu müssen, ist unverdient und ungerechtfertigt.
Verbessern sich die Arbeitsanreize der Besserverdienenden bei einer Umstellung auf die Kopfpauschale im Vergleich zum derzeit praktizierten System?
Breyer: Angenommen, nur der Arbeitnehmerbeitrag wird in eine Kopfpauschale umgewandelt. Dann sinkt die Grenzbelastung mit Abgaben im Einkommensbereich zwischen dem Durchschnittseinkommen und der Beitragsbemessungsgrenze von derzeit 3750 Euro im Monat zunächst einmal um 7,9 Prozent. Um den Sozialausgleich zu finanzieren, müssen jedoch die Steuersätze insgesamt angehoben werden. Letztlich ist es ein Nullsummenspiel, weil die GKV-Ausgaben insgesamt aufgebracht werden müssen. Das Argument mit den Arbeitsanreizen halte ich daher für überbewertet.
Sind risikoäquivalente Prämien das Allheilmittel für die geschilderten Probleme?
Breyer: Die Kunst besteht doch darin, zu erreichen, dass der Versicherte sein Risiko nicht tragen muss, die Krankenkasse jedoch für jeden eine möglichst risikoäquivalente Zuweisung erhält, damit sie keinen Anreiz hat, hohe Risiken zu diskriminieren. Genau dies leistet der Risikostrukturausgleich, verbunden mit einer kassenspezifischen Kopfpauschale.
Auf welche Weise unterstützt man diejenigen, die sich die Kopfpauschale nicht leisten können?
Breyer: Indem man die Versicherungsprämien subventioniert, wie es die Schweizer tun. Für Geringverdiener würde sich mit der Kopfpauschale kaum etwas ändern, weil sie per saldo weiter nur einen gewissen Prozentsatz ihres Einkommens für Kassenbeiträge aufbringen müssen.
Wird diese Personengruppe, schätzungsweise immerhin 30 Millionen Bürger, über Nacht zu Bittstellern?
Breyer: Nein, der Sozialausgleich kann so organisiert werden, dass er ohne Antragsverfahren auskommt. Er muss dazu in den Einkommensteuertarif eingearbeitet werden. Einzige Neuerung ist, dass unterhalb einer bestimmten Einkommensgrenze von etwa 1000 Euro monatlich die Steuerschuld negativ wird, also eine Rückzahlung vom Finanzamt erfolgt.
Könnte dies auch dazu führen, dass noch mehr Menschen Anreize haben, Transferempfänger zu werden?
Breyer: Nein, die Grenzbelastung mit Steuern und Abgaben wird dadurch nicht größer, als sie heute ist. Das wahre Problem, das aber nichts mit der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung zu tun hat, sind die hohen Transferentzugsraten von 80 bis 90 Prozent bei den Hartz IV-Empfängern, wenn sie Geld hinzuverdienen.
Auf Unterstützung der Bevölkerung ist auch die Gruppe der schwer Versicherbaren angewiesen, etwa chronisch Kranke. Was halten Sie von der Idee, diese Patienten mit einem monatlichen Budget auszustatten, über das sie beliebig frei verfügen dürfen?
Breyer: Nicht der Patient, sondern der Hausarzt könnte mit einem Budget zur freien Verfügung ausgestattet werden. Allerdings ist es sehr wichtig, dieses nach der Krankheitsart und -schwere angemessen zu staffeln. Immerhin übernimmt der Hausarzt damit die Funktion einer Versicherung. Auf freiwilliger Basis, also als Ergebnis eines Vertrags zwischen Hausarzt und Krankenkasse kann ich mir solche Lösungen sehr gut vorstellen. Vielleicht hilft auch die Einrichtung einer Rückversicherung für unerwartet hohe Ausgaben im Einzelfall.
Neben der Einnahmeseite rückt auch die Ausgabenseite des Gesundheitssystems zunehmend in den Fokus. In welchen Bereichen sehen Sie die größten Einsparpotenziale?
Breyer: Im Krankenhauswesen herrschen große Überkapazitäten, und im Pharmabereich sind die Preise vergleichsweise hoch. Auch könnte die Verzahnung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung verbessert werden.
Wie lässt sich das bilaterale Monopol zwischen den regionalen Krankenkassen und Gesundheitsanbietern aufbrechen?
Breyer: Das bilaterale Monopol ist ein Produkt staatlicher Regulierung. Der Gesetzgeber müsste die Zwangsmitgliedschaft der Kassenärzte in der Kassenärztlichen Vereinigung aufheben und den Kassen den alleinigen Sicherstellungsauftrag übertragen. Zudem sollte der Zwang wegfallen, mit jedem Krankenhaus einen Vertrag abzuschließen. Schließlich müsste der Zwang für die Kassen, gemeinsam und einheitlich zu verhandeln, wegfallen.
Am Pranger stehen derzeit vor allem die Pharmakonzerne. Um die Arzneimittelausgaben zu senken, fallen Schlagworte wie Zwangsrabatte, Preismoratorien und Pharma-Soli. Was halten Sie von derlei Instrumenten?
Breyer: Während der Patentlaufzeit hat der Anbieter ein Monopol. Da hilft kein Wettbewerb, sondern nur die Preisregulierung. Von den genannten pauschalen Instrumenten halte ich dagegen wenig. Die Regulierung muss am Preis des einzelnen Medikaments ansetzen.
Die Pharmakonzerne betonen die hohen FuE-Ausgaben, Verbraucherschützer stellen die geringen Produktionskosten der Medikamente in den Vordergrund. Wer hat denn recht?
Breyer: Die Produktionskosten sind in der Tat kein Argument, denn der innovative Pharmaanbieter muss während der Patentlaufzeit in der Lage sein, seine FuE-Ausgaben zu amortisieren, sonst lohnt sich die Forschung nicht. Irritierend ist für mich, dass die Marketingausgaben höher sind als die für FuE. Das schwächt die Argumentation der Pharmalobbyisten.
Ein moderner Ansatz wäre die Kosten-Nutzen-Bewertung durch eine unabhängige Prüforganisation. Würde ein solches Kontrollorgan funktionieren und wäre es überhaupt finanzierbar?
Breyer: Man kann erst dann valide Kosten-Nutzen-Ergebnisse erhalten, wenn das Medikament einigermaßen großflächig eingesetzt wird, also nicht sofort bei der Markteinführung. Prinzipiell ist dies jedoch möglich, und das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen wurde dazu geschaffen. Die Kosten der Prüfung würden sich bezahlt machen, wenn dadurch überhöhte Arzneimittelpreise bei häufigen Indikationen verhindert werden.
Im Gesundheitssektor spukt zudem das Gespenst der angebotsinduzierten Nachfrage. Es gibt Studien, aus denen hervorgeht, dass mit einem Anstieg der Ärztedichte die Nachfrage nach medizinischen Leistungen zunimmt…
Breyer: Angebotsinduzierte Nachfrage ist nur dann ein Problem, wenn die Anbieter für jede Einzelleistung honoriert werden. Bei pauschalen Vergütungsformen droht im Gegenteil eher eine Unterversorgung. Die Vergütungsform sollte der Gesetzgeber nicht vorschreiben, sondern dem Wettbewerb zwischen den Krankenkassen und deren Vertragsgestaltung mit den Leistungsanbietern überlassen. Effiziente Vergütungsformen werden sich dann durchsetzen, weil die Kassen, die sie einsetzen, ihre Versicherten zu niedrigen Prämien versichern können.
Welche Rolle spielen übertrieben viele Arztbesuche in unserem Gesundheitssystem?
Breyer: Deutschland hat mit die niedrigsten Zuzahlungen des Patienten beim Arztbesuch und die höchste Rate an Arztbesuchen. International ist es üblich, bei jedem Arztbesuch eine Praxisgebühr in der Größenordnung von 10 Euro zu erheben und nicht nur einmal im Quartal.
Häufig ist von verdeckter Rationierung die Rede. Was versteht man darunter?
Breyer: Unter Rationierung versteht man, dass Ärzte vor allem im Krankenhaus knappe Kapazitäten auf ihre Patienten aufteilen müssen, weil das Budget nicht für eine optimale Versorgung aller ausreicht. Als „verdeckt“ wird sie bezeichnet, wenn der Arzt dem Patienten vorgaukelt oder vorgaukeln muss, er werde optimal versorgt.
Warum werden die medizinischen Leistungen nicht einfach priorisiert, also eine Rangliste aufgestellt?
Breyer: Priorisierung ist ein Euphemismus. Wer eine Leistung nach oben stellt, stellt gleichzeitig eine Leistung hinten an und spart dort ein. Priorisierung ohne Rationierung ist also eine nutzlose Übung. Aber nur eine explizite Rationierung im Leistungskatalog schafft Rechtssicherheit und ermöglicht private Zusatzversicherungen. Eine implizite Rationierung am Krankenbett über Budgets ist dagegen willkürlich und fördert eine Zweiklassen-Medizin.
Wie hoch müsste das jährliche Wirtschaftswachstum sein, damit wir uns das jetzige System weiterhin leisten können?
Breyer: Es kommt weniger darauf an, was wir uns leisten können, als darauf, was wir uns leisten wollen. Medizinische Innovationen sind oft sehr teuer, aber viele davon haben das Potential, Leben erheblich zu verlängern und Leiden zu lindern. Der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP muss nicht sakrosankt sein.
Vielleicht hilft ein Blick nach Übersee. Im Frühjahr wurde das amerikanische Gesundheitssystem in einen neuen Gesetzestext gegossen. Der staatliche Einfluss wird gestärkt, 30 Millionen Bürger sollen zukünftig einen Versicherungsschutz erhalten. Nähern sich die Amerikaner sukzessive unserem System an?
Breyer: Für Rentner haben die USA schon seit 1965 eine Art steuerfinanzierter sozialer Krankenversicherung, genannt Medicare. Auch Deutschland hatte bis vor wenigen Jahren eine Versicherungspflicht nur für circa 80 Prozent der Bevölkerung. Beide Länder gehen also in Richtung „mehr Staat“, wenn auch Deutschland auf diesem Weg schon viel weiter gegangen ist.
Gleichzeitig werden sich auch in Zukunft Teile der US-Bevölkerung keinen Versicherungsschutz leisten können. Ist das nicht ein Armutszeugnis für die größte Volkswirtschaft der Welt?
Breyer: Auch heute sind die hohen Prämien nicht der einzige Grund, warum viele Amerikaner nicht krankenversichert sind. Viele sind es auch nur vorübergehend, nachdem sie den Job gewechselt haben. Andere entscheiden sich ganz bewusst, das Geld dafür zu sparen. Die Ärmsten sind außerdem durch Medicaid staatlich versichert.
Es gibt aber auch deutliche Unterschiede zwischen beiden Systemen. In den USA sind die Unternehmen noch viel stärker in das Gesundheitssystem eingespannt…
Breyer: Das ist ein historischer Zufall: Wegen des Lohn- und Preisstopps während des 2. Weltkriegs mussten die Unternehmen im Wettbewerb um knappe Arbeitskräfte Nebenleistungen, sogenannte „fringe benefits“ anbieten, und die wichtigste war die vom Unternehmen bezahlte Krankenversicherung.
Das Gespräch führte Jörg Rieger.
Hinweis: Eine verkürzte Version dieses Interviews ist in der Fachzeitschrift WiSt (07/2010) erschienen.
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