“Wie grün oder sozial ein Unternehmen ist, lässt sich nicht ohne weiteres in einer einzelnen Kennzahl ausdrücken.“ (Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesfinanzministerium)
1. Schieben und Ziehen für eine bessere Wirtschaft
In den letzten Jahren erleben Versuche, wirtschaftliche Phänomene auf Basis einer breiteren Kriterienpalette als unmittelbar in Geldeinheiten gemessener Wertschöpfung zu beurteilen, eine Renaissance (https://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=30621). Wesentliche aber nicht alleinige Triebkraft ist dabei die Betonung ökologischer Aspekte, allen voran die Befürchtung eines weiteren Klimawandels samt damit einhergehenden Gefahren für den gesamten Globus. Die Ansätze eines Gegensteuerns erscheinen angesichts der Größe und Komplexität des Problems dabei häufig eher panik- als vernunftgesteuert – sofern nicht noch ganz andere Aspekte im Hintergrund stehen, wie beispielsweise der Slogan „Burn Capitalism, not Coal!“ nahelegt. Jedenfalls werden alle denkbaren Maßnahmen adressiert, um unerwünschte Folgen des Wirtschaftens in den Bereichen E(cology)S(ocial)G(overnance) deutlich zu reduzieren. Neben dem „Schieben“, insbesondere durch Festlegung von Grenzwerten für noch zulässige Emissionen oder andere Maßnahmen, wird auch ein „Ziehen“ im Sinne einer Förderung gewünschten Verhaltens benutzt. Beides erfolgt sowohl unmittelbar als auch mittelbar, d.h. nicht nur hinsichtlich des eigentlich ESG-relevanten Handelns, sondern auch hinsichtlich vorgelagerter Prozeduren, die dieses erst möglich machen. Hinsichtlich der EU-Maßnahmen zeigen ökologische Nachhaltigkeitsbemühungen dabei bislang die größten Konkretisierungen, wie u.a. an der „Taxonomie“ deutlich wird.
Ein besonders wichtiger Bereich bei Letzteren ist fraglos die Finanzierung wirtschaftlicher Aktivitäten und so verwundert es nicht, dass „Sustainable Finance“ seit Jahren zu einer der Hauptüberschriften im ESG-Universum wurde. „Grüne“ anstatt „braune“ Investitionen sollen das Geld der Anleger erhalten und durch eine entsprechende Mittelumlenkung ein wesentlicher Beitrag zu einer besseren Wirtschaft geleistet werden – geniale Idee oder naive Träumerei?
2. Sustainable Finance: Frühe Skepsis aus ökonomischer Perspektive
Tatsächlich war dieser Ansatz in der Ökonomie von Anbeginn umstritten. Unabhängig von empirischen Studien zur komparativen ex post-Rendite von grünen und braunen Investments mit im Zeitverlauf wechselhaften Ergebnissen, sprachen und sprechen grundsätzliche Überlegungen gegen allzu große Erwartungen. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium hat diese in seinem Gutachten „Grüne Finanzierung und Grüne Staatsanleihen – Geeignete Instrumente für eine wirksame Umweltpolitik?“ (nachfolgend GFGS) bereits 2021 deutlich herausgearbeitet.
Beispielsweise wird an die Neutralität der Finanzierung für den Unternehmenswert erinnert, die nur bei Vorliegen von Friktionen ausgehebelt werden kann: Modigliani/Miller lassen schön grüßen! Außerdem ist die faktische Zuordnung einer Finanzierung zu einer Anlage innerhalb eines Unternehmens nicht so eindeutig, wie es sich Sustainable Finance-Protagonisten gemeinhin vorstellen:
„Diese elementare Eigenschaft einer Unternehmensbilanz, nach der die Zahlungsüberschüsse aller Aktiva zusammengenommen den ihnen gegenüberstehenden Verbindlichkeiten zuzuordnen sind, wird in der öffentlichen Debatte oftmals übersehen; „grüne“ Finanzierung stellt hier keine Ausnahme dar“ (GFGS, S. 4).
Außerdem drängt sich sofort die Frage auf, was von der erhofften Wirkung nach einer Rückkopplung über den Kapitalmarkt übrigbleibt. Zumindest bei passiven Portfolio-Strategien, die für die meisten Privatanleger von Bedeutung sein dürften, und der entscheidungslogisch relevanten ex ante-Perspektive bleibt wenig Hoffnung auf einen nennenswerten Einfluss (vgl. zum Folgenden GFGS, S. 6 ff.). Solange ESG-affine Anleger keinen langfristigen Renditeverzicht in Kauf nehmen, sind bei funktionierendem Kapitalmarkt keine dauerhaften Preiseffekte zu erwarten, weil nicht ESG-affine Anleger jeden grünen Investment-Hype durch gegenläufige Entscheidungen kompensieren werden. Wird indessen nicht auf die Rendite bei grünen Investments geschaut, nehmen diese zu: Der gesunkenen Rendite der Anleger entsprechen niedrigere Kapitalkosten des Unternehmens, so dass die Zunahme von grünen Unternehmen durch diesen Renditeverzicht der ESG-affinen Investoren erkauft wird.
Wichtig ist dann und darüber hinaus bei alternativen Modellierungen für die erhofften Wirkungen also der Anteil der ökologisch motivierten Anleger am Kapitalmarkt. Ist er hinreichend groß, sind nennenswerte Konsequenzen zu erwarten et vice versa. Allerdings fragt man sich, ob solche Überzeugungstäter dann nicht gleich auf eine aktive Portfolio-Strategien wechseln sollten, die auch aus Sicht des Wissenschaftlichen Beirats für sie die bessere Alternative darstellen (GFGS, S. 8 ff.)
Unabhängig davon, wie weit man diesen und anderen Argumenten (nicht nur des Wissenschaftlichen Beirats) folgen will, wird bereits anhand dieser wenigen skizzenhaften Überlegungen klar, dass die Sache mit Sustainable Finance nicht so einfach ist, wie von vielen ihrer Protagonisten verkündet wird. Am deutlichsten wird dies in der jüngeren Vergangenheit bei einem weiteren Problem, das sich auch in GFGS (S. 4) findet:
“Wie grün oder sozial ein Unternehmen ist, lässt sich nicht ohne weiteres in einer einzelnen Kennzahl ausdrücken.“
3. Von der Realität eingeholt: Investoren im Strudel der Beliebigkeit
In der Tat erscheint dieses Problem geradezu überdimensional, wenn man sich von der Fokussierung auf den Bereich CO2-Emissionen löst und überlegt, was noch mit Blick auf ökologische Nachhaltigkeit zu beachten und anschließend zu messen ist (vgl. hierzu und zum Folgenden nochmals https://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=30621). Wie bringt man diese Messungen dann in eine einheitliche Skalierung? Welche Abwägungen zwischen Teilaspekten sind intersubjektiv zweifelsfrei vorzunehmen? Reicht das nicht zur Frustration, so denke man daran, dass ESG eben nicht nur E(nvironment)-Aspekte beinhaltet, sondern auch die Bereiche S(ocial) und G(overnance) verarbeitet werden müssen, obwohl der Umwelt-Taxonomie vergleichbare allgemeine EU-Verordnungen noch nicht oder nur in Teilbereichen bestehen (vgl. zum Governance-System für Energieunion und Klimaschutz https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX:32018R1999).
So weit, so schlecht, aber für was hat man Experten? Die sind immer bereit, für gutes Geld Lösungen zu erarbeiten, was vorliegend heißt, ein ESG-Rating zu erstellen. Die klassischen Ratingagenturen wie S&P, Moody´s, Fitch etc. sowie internationale Anbieter von Finanzdienstleistungen wie Morningstar, MSCI, Eikon Refinitiv etc. haben die Finanzstärke und das Humankapital, um hier eindrucksvolle Methoden für ESG-Scores zu entwickeln, und so verwundert es nicht, dass Heerscharen von hoch spezialisierten Mathematikern und IT-Fachleuten schon bald „Lösungen“ für Unternehmer und Anleger lieferten. Die Öffentlichkeit wurde in mehr oder weniger verständlichen Skizzen über das grundsätzliche Vorgehen informiert – mehr war potenziellen Kunden sowie den politischen Entscheidungsträgern in Brüssel, Berlin und anderswo ohnehin nicht zuzumuten: Wer als Professor Semester für Semester mit den Statistikkenntnissen von Master(!)studenten konfrontiert wird, kann sich nur schwer vorstellen, dass selbst dieses kompakte Informationsprogramm von Lesern hinreichend verarbeitet wird, die eine einschlägige Ausbildung schon Jahrzehnte hinter sich gelassen oder bereits von Hause aus nachhaltig gemieden haben.
Das alles wäre nicht einmal so schlimm, gäbe es nicht folgendes Problem: Im Gegensatz zu den klassischen Kreditratings liegen die Scores verschiedener Anbieter in Sachen ESG deutlich weiter auseinander, was angesichts der beschriebenen Diversität der zu verarbeitenden Kriterien indessen nicht verwundert. Wenn nun selbst die beschriebenermaßen nicht nur hoch bezahlten, sondern auch hoch befähigten Experten so weit auseinanderliegen, überrascht es wenig, dass man mit weniger herausragenden Agenten oder selbst gestrickten Kennzahlen das Spektrum möglicher ESG-Befunde beliebig erweitern kann.
Obwohl man sich unter Umständen über solche Möglichkeiten freuen sollte, wird dieser Strudel der Beliebigkeit heute als wichtigstes Problem für Sustainable Finance genannt. Am 14.02.2024 veröffentlichte die BaFin eine Studie, in der 30 Kapitalverwaltungsgesellschaften und sechs ESG-Ratinganbieter befragt wurden (https://www.bafin.de/SharedDocs/Downloads/DE/dl_ESG-Studie_PDF_20240214.html). Bereits im Executive Summary liest man dort:
„Problematisch ist dabei, dass bis dato kein einheitlicher Standard bezüglich der Erhebung und des Umgangs mit ESG-Daten und Ratings existiert, wodurch sich Kapitalverwaltungsgesellschaften (KVGen) mit einer mangelnden Vergleichbarkeit von ESG-Daten und Ratings konfrontiert sehen.“
Ähnlich hatte bereits 2023 der Sustainable Finance-Beirat (SFB) der Bundesregierung (den gibt es wirklich!) auf S. 1 eines Positionspapiers zur Regulierung von ESG-Ratingprovidern geschrieben (download für alle SFB-Publikationen https://sustainable-finance-beirat.de/publikationen/):
„Zu den wichtigsten Kritikpunkten zählen teilweise stark unterschiedliche Rating-Ergebnisse von Unternehmen und die geringe Vergleichbarkeit von ESG-Ratings, mangelnde Qualität von Methoden sowie der Ruf nach der Einführung von Minimalstandards.“
Während die BaFin in ihrem Studienbericht einen Appell an die ESG-Anbieter richtet („Basierend auf den Ergebnissen dieser Studie appelliert die BaFin, dass ESG Daten- und Ratinganbieter ihre Methoden im Detail und auf eine verständliche und einfache Weise offenlegen sowie in einem angemessenen Zeitrahmen auf Rückfragen ihrer Kunden reagieren.“, S. 5) kommt der SFB zu einer Regulierungsempfehlung auf EU-Ebene, hält aber auch zutreffend fest:
„Der SFB empfiehlt keine vorgeschriebene Standardisierung der ESG-Ratingmethodiken. Im SFB und auch bei den befragten ESG-Ratinganbietern herrschte die Meinung vor, dass in gewisser Weise selbstredend bei unterschiedlichen angewandten Methoden unterschiedliche Ratingergebnisse zustande kommen (können), da u.a. verschiedene Ansätze (z.B. Impact vs. finanzielle Materialität) zugrunde gelegt und unterschiedliche Themen und auch Einzelaspekte mit verschiedenen Gewichtungen analysiert werden.“ (S. 2)
Woher der SFB seinen Optimismus für dann noch realisierbare Einschränkungen des Spektrums möglicher Ratingergebnisse nimmt, wird nur bedingt deutlich. Natürlich muss er andere Aspekte des Problems adressieren und das tut er u.a. mit Blick auf den Umgang mit ESG-Daten und die Transparenz zu ESG-Ratingmethodiken. Hinsichtlich Letzterer schreibt er vor einer Liste „als besonders wichtig erachtete(r) Elemente“:
„Der SFB empfiehlt, dass ESG-Ratingagenturen dazu verpflichtet werden, ihre Methodiken so weit wie möglich öffentlich zugänglich zu machen.“ (Positionspapier, S. 3)
Was heißt aber, bitte, „so weit wie möglich“? Jenseits des bereits bislang Publizierten kommt man schnell zu dem Geschäftsgeheimnis der Agenturen schlechthin. Wenn dieses folglich nur gegenüber einer Aufsichtsbehörde offenbart wird, ergeben sich weitere Probleme: Was soll dann der nach Erkenntnis strebende Anleger/Unternehmer davon haben? Da bleibt nur der mildernde Umstand, dass sowohl die Behörde als auch potenzielle Kunden nur bedingt über die Ressourcen verfügen, die geforderten Offenlegungen vollumfänglich zu würdigen.
Im Februar 2024 wurde vom SFB dann eine Abschlussempfehlung zur Einführung einer „ESG-Skala“ für Finanzprodukte veröffentlicht. Bezüge zum obigen Positionspapier sind dort kaum zu erkennen, vermutlich weil die Empfehlung aus der Arbeitsgruppe „ESG-Skala“ kommt. Ob die dort entwickelte Skala tatsächlich für klare Verhältnisse sorgt, mag jeder anhand der aus S. 8 der Empfehlung übernommenen Abbildung selbst entscheiden.
Leser, die bislang vergeblich auf die übliche Holzhammermethode der Regulierung gewartet haben, kommen jetzt auch noch zu ihrem Recht, zwar am Ende, aber immerhin auf höchster Ebene: EU-Parlament und -Rat haben im letzten Quartal 2023 durch die Verordnung 2023/2631 zur Schaffung eines Standards für europäische grüne Anlagen einheitliche Vorgaben für Bond-Emittenten auf den Weg gebracht. Wer „europäische grüne Anleihen“ (European Green Bonds, EuGB) emittieren will, muss ab 21.12.2024 diesen Standard einhalten. Allerdings gibt es auch hier ein Hintertürchen, wenn ein Emittent nicht unbedingt den Titel EuGB braucht (vgl. https://www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Fachartikel/2023/fa_bj_2312_Green_Bonds.html):
„Es ist auch möglich, dass sie andere Nachhaltigkeitsstandards einhalten, beispielsweise die Green Bond Principles des internationalen Branchenverbands für Kapitalmarktteilnehmer ICMA oder des Climate Bonds Standard der gemeinnützigen internationalen Climate Bonds Initiative.“
Die bereits 2020 im European Green Deal Investment Plan der Europäischen Kommission angedachte Vorgabe für grüne Anleihen existiert damit: Mission completed – warum nicht gleich so?
4. Fazit: Auf Skylla folgt Charybdis
Die Rhetorik dieser Frage ist nach dem bislang Erörterten selbsterklärend. Nicht die Beschränkung dieser Verordnung auf Anleihen ist ihr Problem, sondern die Idee, dass man nun einen Wahrheitskorridor quasi von Amts wegen festlegt. Wenn man die geschilderte Größe des vorliegenden Problems betrachtet, sollte man vielleicht besser „par ordre du mufti“ sagen! Letztlich folgt auf die Skylla der Beliebigkeit die Charybdis der Willkür. Bedenkt man dann noch, dass solche Festlegungen ohne inhaltliche Stringenz jederzeit aus politischen Motiven geändert werden können, erscheint der bisherige Zustand fehlender Bestimmtheit tendenziell als das kleinere Übel: Die Politik bestimmt nicht nur, dass und wie „Sustainable“ und „ESG“ zu fördern sind, sondern auch, was sie sind bzw. zu sein haben. Wo logische Strukturen nicht zu Schranken für die staatlichem Gewalten führen, kann die jeweilige politische Mehrheit hemmungslos agieren. Jedenfalls wird die bereits nicht nur in Deutschland zu beobachtende „Flut an Regelwerken“ nicht abreißen (vgl. mit zusätzlichen Bezügen auf Österreich Dolezal, Börsen-Kurier vom 25.07.2024, S. 23). Wie nachhaltig ist das denn?
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Zwischen Skylla und Charybdis - 5. August 2024 - SVB – nicht der Sportverein!Anmerkungen zu Silicon Valley Bank, Zinsgeysiren, Bankenaufsicht und unfreiwilligem Quantitative Easing - 18. März 2023
Die nachhaltigste Art der Produktion ist gar keine Produktion !!!
Robert Habeck weiß, wie das geht:
https://klimanachrichten.de/2024/08/06/fritz-vahrenholt-das-deindustrialisierungskonzept-des-robert-h/
Kleiner Nachtrag aus einem verwandten Gebiet zur Problematik von Scores und den Folgen von „Vorgaben von oben“. In einer dpa-Meldung vom 06.09.2024 kann man lesen:
„Wie Danone mitteilte, soll der Nutri-Score bei trinkbaren Milchprodukten und pflanzlichen Drinks etwa auf Haferbasis von September an schrittweise entfernt werden. Denn nach dem neuen Algorithmus würden sie in einer Kategorie mit Softdrinks eingeordnet, obwohl es seit Jahrzehnten wissenschaftliches Basiswissen sei, dass Milchgetränke und Milchalternativen als Nahrungsmittel gesehen würden. Dies verursache Verwirrung bei den Verbrauchern und würde zu „vollkommen absurden und nicht mehr nachvollziehbaren Nutri-Score-Bewertungen führen“.“
Was steht uns da erst bei ESG-Scores bevor!