Zur Ethik der Marktwirtschaft

In der Marktwirtschaft werden freiwillige Verträge geschlossen. Da sie die Zustimmung der Beteiligten voraussetzen, ist die Marktwirtschaft ein herrschaftsfreier Koordinationsmechanismus – keine „Ellbogengesellschaft“, sondern eine Zustimmungsgesellschaft. Und da jeder Einzelne seinen Nutzen erhöht, ohne Anderen dabei schaden zu dürfen (es sei denn, dass er billiger anbietet oder als Nachfrager mehr bietet als Andere), steigt dabei automatisch der Gesamtnutzen. Die Marktwirtschaft ist insofern ein Mechanismus zur Erzeugung von Pareto-Verbesserungen. Das gilt selbst dann, wenn kein Wettbewerb herrscht.

Besteht jedoch Wettbewerb, so führt das Gewinnstreben der Anbieter sogar dazu, dass sie, ohne es zu wollen, den Nachfragern nützen. Dafür gibt es zwei Gründe:

1. Der Gleichgewichtspreis auf dem Markt ist niedriger als die Zahlungsbereitschaft der meisten Nachfrager – es existieren Konsumentenrenten. Diese Renten steigen, wenn die Anbieter im Wettbewerb die Kosten senken, um ihre Gewinne zu erhöhen. Das ist der vielbelächelte „Invisible Hand“-Effekt von Adam Smith (1776).

2. Die kostensenkenden Erfindungen jedes einzelnen Anbieters sind früher oder später – nach Ablauf des Patentschutzes – allen potentiellen Anbietern zugänglich.

Obwohl also der Homo Oeconomicus – hier der Anbieter – ganz eigennützig oder egoistisch denkt, sind die Wirkungen so, als ob er altruistisch wäre. Ist er „Altruist wider Willen“? Nein, denn er hat ja nichts gegen die altruistischen Wirkungen seines Tuns. Er ist Altruist, ohne es zu wollen.

Doch selbst wenn wir die unbeabsichtigten Wirkungen seiner Taten einmal ausklammern und uns ganz auf seinen Vorsatz, die bewusste ethische Entscheidung, konzentrieren, ist der Homo Oeconomicus kein reiner Egoist. Ein reiner Egoist ist ein Mensch, der seinen Eigennutzen maximiert ohne zu fragen, ob er damit anderen schadet. Der Homo Oeconomicus der Vertragswirtschaft weiß jedoch, dass er Anderen nicht schaden darf. Er darf es weder rechtlich noch moralisch.

Was macht demgegenüber den reinen Altruisten aus? Ein reiner Altruist ist ein Mensch, der seinen eigenen Nutzen nur aus dem Nutzen Anderer bezieht. Auf halbem Weg zwischen dem reinen Altruisten und dem reinen Egoisten befindet sich das Gebot des „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ (das übrigens nicht nur in der Bergpredigt des Neuen Testaments, sondern auch im Alten Testament – im 3. Buch Moses, 18 – vorkommt). Im Neuen Testament findet man aber auch das Gebot des reinen Altruismus:

„Willst Du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was Du hast, und gibs den Armen, so wirst Du einen Schatz im Himmel haben“ (Matthäus 19, 21).

Der Appell an die Eigenliebe bezieht sich dann nur noch auf das Jenseits – dort wird man einen „Schatz“ haben. Versucht man, die Bergpredigt und Matthäus 19 miteinander in Einklang zu bringen, so kann man sagen: nur der reine Altruismus ist „vollkommen“, aber das „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ ist ausreichend.

Zwischen dem reinen Altruismus und dem reinen Egoismus sind offensichtlich noch viele andere Zwischenlösungen möglich – je nach dem, wie die Eigenliebe und die Nächstenliebe in der Nutzenfunktion gewichtet sind. An welchem Punkt auf dieser Skala befindet sich die moralische Position, zu der sich der Homo Oeconomicus bekennt?

Die Ethik des Homo Oeconomicus lässt sich nicht durch eine bestimmte Gewichtung des eigenen und des fremden Nutzens bestimmen. Sie ist vielmehr durch die Existenz einer Restriktion bestimmt: der Homo Oeconomicus maximiert seinen eigenen Nutzen unter der rechtlichen und ethischen Restriktion, dass er Anderen nicht schaden darf, da er ja ihre vertragliche Zustimmung braucht. Der Grund, weshalb der Homo Oeconomicus kein reiner Egoist ist, liegt also nicht darin, dass er bewusst auch den Nutzen Anderer mehren will, sondern darin, dass er bewusst darauf verzichtet – ja verzichten muss –, den Nutzen Anderer zu schmälern.

Das Verbot, Anderen zu schaden, ist zunächst eine rechtliche Restriktion. Aber auf der gesellschaftlichen, der ethischen Ebene entspricht dem auch eine Tugend: die Rücksichtnahme. Auch die bürgerliche Tugend der „Anständigkeit“ beschreibt recht gut, worum es geht: man darf seinen eigenen Vorteil verfolgen, aber nicht, indem man versucht, Andere „hereinzulegen“ (z.B. sie beim Vertragsabschluss zu betrügen) oder indem man einmal geschlossene Verträge bricht. Diese Tugend findet sich schon bei Aristoteles in der „iustitia commutativa“, der Vertragsgerechtigkeit.

Lange vor Aristoteles hat jedoch die jüdische Religion die Ethik des rücksichtsvollen Egoismus entwickelt. Die jüdische Religion sieht im Eigennutzstreben und im Reichtum nichts Negatives. Aber der Talmud gebietet, „seinen Mitmenschen nichts Übles anzutun“ (Makkot 24a). Konkreten Ausdruck findet dieses Prinzip in den zehn Geboten des Alten Testaments. Ökonomisch relevant ist natürlich vor allem die Ächtung des Stehlens und des Betrügens („Du sollst nicht falsch Zeugnis reden…“) – also das 7. und 8. Gebot. Genau genommen sind dies auch nicht Gebote, sondern Verbote – also wie beim Homo Oeconomicus Restriktionen.

Bis hierhin könnte der Eindruck entstanden sein, dass in der ökonomischen Ethik kein Platz für Altruisten ist, die den Nutzen Anderer mehren wollen. Dieser Eindruck wäre falsch. Die Ethik des rücksichtsvollen Egoismus bezieht sich nämlich nur auf das Verhalten am Markt. Der Mensch agiert aber nicht nur am Markt, sondern auch im privaten, gesellschaftlichen und vielleicht sogar politischen Bereich. Es ist durchaus möglich, dass es ihm dort vor allem darum geht, anderen Menschen zu helfen. Die Annahme des Homo Oeconomicus besagt lediglich, dass sich unsere wohltätigen Absichten typischerweise nicht auf die Menschen beziehen, mit denen wir am Markt zu tun haben und Verträge schließen. Nicht der Marktpartner ist es, dem man Gutes tun will, sondern jemand aus der eigenen Familie oder ein Freund oder ein Bekannter. Diese Einstellung wird nach dem Ökonomen Philipp Wicksteed „Non-Tuismus“ genannt – der Marktpartner ist einem nicht der Nächste. Es ist sogar möglich – Beispiele dafür gibt es –, dass ein Mensch am Markt auf rigorose Weise sein Einkommen zu maximieren versucht, um im privaten Bereich möglichst wirksam helfen oder als öffentlicher Mäzen und Stifter möglichst viel spenden zu können. Wenn Altruismus eine knappe Ressource ist, so ist es von Vorteil, dass die Marktwirtschaft auch ohne Nächstenliebe funktioniert – umso mehr bleibt davon für die zwischenmenschlichen Beziehungen übrig.

7 Antworten auf „Zur Ethik der Marktwirtschaft“

  1. Ob die Verträge, die in einer Marktwirtschaft geschlossen werden, immer freiwillig sind, ist anzuzweifeln. Das gilt auf dem Arbeitsmarkt, wenn die Alternative hungern oder die bedingungslose Annahme einer bestimmten Arbeit ist. Das gilt aber auch auf bestimmten Gütermärkten, wenn z.B. das Trinkwasser von einem Monopolisten angeboten wird.

    Wichtiger ist aber, dass Herr Vaubel nicht wirklich darlegt, ob der Homo Oeconomicus nun ein reiner Egoist ist oder nicht. „Ein reiner Egoist ist ein Mensch, der seinen Eigennutzen maximiert ohne zu fragen, ob er damit anderen schadet. Der Homo Oeconomicus der Vertragswirtschaft weiß jedoch, dass er Anderen nicht schaden darf. Er darf es weder rechtlich noch moralisch.“

    Damit macht Herr Vaubel aber nicht deutlich, ob der Homo Oeconomicus nun den anderen schaden würde, wenn er dies rechtlich oder moralisch dürfe. Dass der Homo Oeconomicus also dem anderen nicht schadet, liegt darin, dass er sich dann selbst schaden würde – also aus rein egoistischen Motiven. Mit anderen Worten: Der Homo Oeconomicus verzichtet also nicht auf Schädigung des Anderen, weil er den Anderen nicht schädigen will sondern ausschließlich weil er sich selbst nicht schädigen will. Herr Vaubel hätte darlegen müssen, was dagegen spricht, dass der Homo Oeconomicus den anderen betrügt, wenn er davon ausgehen kann, dass dies keine Sanktionen nach sich zieht, weil der Betrug unentdeckt bleibt. Das konnte Herr Vaubel nicht, da für einen Homo Oeconomicus ja nichts dagegen spricht, den anderen zu schädigen – außer eben er schädigt sich dadurch selbst (aufgrund von Sanktionen).

    Zwar schreibt Vaubel: „Auch die bürgerliche Tugend der „Anständigkeit“ beschreibt recht gut, worum es geht: man darf seinen eigenen Vorteil verfolgen, aber nicht, indem man versucht, Andere „hereinzulegen“ (z.B. sie beim Vertragsabschluss zu betrügen) oder indem man einmal geschlossene Verträge bricht.“ Damit beschreibt Herr Vaubel das Vorgehen in der „wirklichen Welt“, aber nicht in der ökonomischen Theoriewelt eines Homo Oeconomicus, in der es eine solche bürgerliche Tugend der „Anständigkeit“ nicht gibt.

    Ein Homo Oeconomicus ist also nichts anderes als ein reiner Egoist, der rational handelt.

  2. „Ob die Verträge, die in einer Marktwirtschaft geschlossen werden, immer freiwillig sind, ist anzuzweifeln. Das gilt auf dem Arbeitsmarkt, wenn die Alternative hungern oder die bedingungslose Annahme einer bestimmten Arbeit ist.“

    Nein, die Alternative heißt: Diesen Job zum Hungerlohn oder doch besser eine andere Stelle. Ein Arbeitgeber kann eben nicht jeden x-beliebigen Lohn zahlen. Dass die Zahl der Jobalternativen insbesondere für schlecht Ausgebildete nicht gerade rosig erscheint, liegt leider an der künstlichen Verknappung von Arbeit durch den Staat und seine kurzsichtige Wirtschaftspolititk. Eine Situation, die jetzt auch noch durch Mindestlöhne verschärft wird.

    „Das gilt aber auch auf bestimmten Gütermärkten, wenn z.B. das Trinkwasser von einem Monopolisten angeboten wird.“

    Ja, in der Regel ist das aber ein öffentlich-rechtlicher Monopolist.

  3. In einer freien Marktwirtschaft kann ein Monopol auf Dauer nich überleben, da
    es aufgrund des fehlenden Wettbewerbs zur Ineffizienz neigt und mittelfristig die Güterpreise wieder erhöhen muss. Dies wiederum bietet potenziellen Konkurrenten die Möglichkeit wieder in den Markt zu investieren und das Monopol aufzubrechen. Daher sind die Verträge, wenn überhaupt, nur sehr kurzfristig unfreiwillig und auch dann nur, wenn es sich um lebensnotwendige Produkte handelt, die ein Monopolist anbietet.

    Mein Blog: http://www.liberphil.blog.de

  4. @ liberphil,

    ein natürliches Monopol kann in einer freien Marktwirtschaft auf Dauer überleben. Im übrigen ist mir die Zeitlänge bei Ihnen unklar. Erst schreiben Sie, dass aufgrund von Ineffizienz die Güterpreise „mittelfristig“ steigen, dann dass dies nur „sehr kurzfristig“ ist. Ich denke, dass dies durchaus lange dauern kann, denn erst einmal kann der Monopolist dies ja mit dem Monopolgewinn quersubventionieren.

    @ Gernot Kieseritzky,

    wenn einanderer Arbeitsplatz, mit einem Lohn über dem Hungerlohn zur Verfügung steht. Wenn nicht, dann nicht. Der Arbeitsmarkt ist nun mal kein Kartoffelmarkt.

    Letzlich aber interessant, dass niemand meine Kritik an Herrn Vaubel bezüglich seiner Homo Oeconomicus-Darstellung kritisiert hat. Das war doch der Kern meines Beitrags.

  5. Peter fragt, „ob der Homo Oeconomicus nun den anderen schaden würde, wenn er dies rechtlich oder moralisch dürfte“. Meine Antwort: schwer zu sagen. Aber die marktwirtschaftliche Ordnung erzieht tendenziell zur Rücksichtnahme. Es gibt eine Interdependenz zwischen der Rechtsordnung und der Wertordnung – und zwar in beide Richtungen. Die Rechtsordnung der Marktwirtschaft fördert eine Ethik der Rücksichtnahme und diese fördert rücksichtsvolles individuelles Verhalten.

  6. @ Roland Vaubel,

    „Aber die marktwirtschaftliche Ordnung erzieht tendenziell zur Rücksichtnahme. Es gibt eine Interdependenz zwischen der Rechtsordnung und der Wertordnung – und zwar in beide Richtungen. Die Rechtsordnung der Marktwirtschaft fördert eine Ethik der Rücksichtnahme und diese fördert rücksichtsvolles individuelles Verhalten.“

    Hm, das ist ein bloßes Statement, kein Argument. WARUM soll durch die marktwirtschaftliche Ordnung tendenziell rüchsichtsvolles individuelles Verhalten gefördert werden? WARUM soll der Homo Oeconmicus, der reine Maximierer seines eigenen Nutzens, den anderen nicht schaden, wenn er davon ausgehen kann, dass er hierdurch seinen Nutzen erhöht und keinen individuellen Schaden erfährt (d.h. seine Schädigung nicht auffliegt).

    Hätten Sie Recht, Herr Vaubel, gäbe es nicht the Tragedy of the Commons. Da es aber die Tragik der Allmende gibt, haben Sie offensichtlich unrecht.

  7. @Peter, das WARUM geht an Sie. Warum gehen Sie davon aus, dass der Homo Oeconomicus sicher sein kann, dass seine Schädigung nicht auffliegt? Das ist die Basis Ihrer Widerrede. Kann es sein, dass Sie selber einschlägige Erfahrung vorweisen können? Oder ist es auch bloss ein Statement?

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