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Lange vor der Agenda 2010:
Die SPD und die „freiwillige Arbeitslosigkeit“

Bis zur Mitte der siebziger Jahre hatte die Arbeitslosigkeit in der bundesdeutschen Gesellschaft keine wesentliche Rolle gespielt. Das Hauptproblem schien eher zu sein genug Arbeitskräfte für die boomende Nachkriegswirtschaft zu finden. Der Arbeitsmarkt war so leer gefegt, dass auf ausländische Gastarbeiter zurückgegriffen wurde. Dies änderte sich im Herbst 1974/75. Plötzlich ging die Epoche der Vollbeschäftigung zu Ende und die Arbeitslosigkeit wurde zu einem zentralen Thema der politischen Auseinandersetzung. In der Politik, der Publizistik und der Wissenschaft begann die Suche nach den Ursachen der für die Verhältnisse der Bundesrepublik sehr hohen und wie sich bald herausstellen sollte dauerhaft hohen Arbeitslosigkeit.

In der Wirtschaftswissenschaft gibt es den Begriff der „freiwilligen Arbeitslosigkeit.“ Damit ist gemeint, dass Menschen die Arbeitslosigkeit der Beschäftigung vorziehen, wenn sich die Arbeit in Hinblick auf Aufwand und Entlohnung im Vergleich zur Beschäftigungslosigkeit nicht lohnt, weil etwa der Abstand zwischen der Lohn- und der Sozialleistung nicht groß genug ist. Ob die im Vergleich zu den 50er und 60er Jahren hohe Beschäftigungslosigkeit ab Mitte der siebziger Jahre in diesem Sinne zu einem gewissen Teil „freiwillige Arbeitslosigkeit“ war, also auch eine Frage fehlender Motivation der Arbeitslosen war, eine weniger attraktive Stelle anzunehmen, wurde bald zum Streitpunkt. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Karl König erklärte im Sommer 1975: „Überspitzt trifft für einige Bereiche in der Wirtschaft der Satz zu, daß es den Arbeitslosen zu gut geht.“

Zu dieser Erkenntnis kam auch das von dem SPD-Politiker Walter Arendt geführte Arbeitsministerium. Über diese Problematik kam es deshalb zu einem Briefwechsel zwischen Arendt und dem Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit. Beide einigten sich darauf, dass mehr Druck auf die Arbeitslosen ausgeübt werden müsse, eine neue Beschäftigung auch zu schlechteren Bedingungen aufzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt erhielt ein Arbeitsloser 68 Prozent des letzten Bruttoeinkommens. Nach dem Gesetz musste ein Arbeitsloser jede „zumutbare Beschäftigung“ annehmen, die er aufnehmen konnte. Arendt wollte nun den Begriff der „Zumutbarkeit“ präzisieren, um diese Forderung auch in der Praxis umsetzen zu können. Mitte Juni 1975 beauftragte Arendt den zuständigen Ministerialdirektor Manfred Baden mit dieser Aufgabe. Baden umriss die Problematik seiner Aufgabe: „Der Arbeitnehmer wurde jahrelang dazu erzogen, nach oben zu steigen. Man muß ihm auch klarmachen, daß es auch mal runter gehen kann.“ Dies war leichter gesagt als realisiert. Denn in der Praxis gab es viel subtilere Methoden, eine Beschäftigung auszuschlagen als die offene Ablehnung. Der Leiter der Kölner Arbeitsanstalt beschrieb die gängige Form der Zurückweisung eines Arbeitsplatzangebotes so: Wer keine Arbeit wolle, verhalte sich bei der Vorstellung einfach so, dass der Arbeitgeber „kein überdurchschnittliches Interesse an ihm hat.“

Am 12. Juli 1975 erläuterte Arendt im Rahmen einer „sozialpolitischen Gesprächsrunde“ im Bundesarbeitsministerium den anwesenden Vertretern von Arbeitgebern, Gewerkschaften und Ministerialbürokratie die vielfältigen Tatbestände des Missbrauchs sozialer Leistungen. Arendt kündigte an, die durch das Arbeitsförderungsgesetz gedeckten Umschulungsleistungen der „arbeitsmarktpolitischen Notwendigkeit“ anzupassen, um Missbrauch in diesem Bereich in Zukunft zu vermeiden.

Ein Beispiel für die mangelnde Motivation und Qualifikation des von den Arbeitsämtern verwalteten Pools von Arbeitslosen waren die Erfahrungen des Unternehmens Ford. Die Autofirma stellte zwischen dem 1. April 1975 und dem 31. Juli 1976 3612 Arbeitnehmer ein, von denen 600 durch das Arbeitsamt vermittelt worden waren. Am Ende dieses Zeitraums war nur jeder Dritte der vom Arbeitsamt vermittelten auf dem neuen Arbeitsplatz geblieben. Als 1976 die wirtschaftliche Erholung einsetzte, trat zum ersten Mal das seit dieser Zeit wohlbekannte Phänomen auf, dass bei anspringender Konjunktur trotz hoher nomineller Arbeitslosenzahlen die offenen Stellen nicht besetzt werden konnten. Allein in der Gastronomie konnten 50000 Arbeitsplätze nicht besetzt werden. Auch für die Industrieproduktion konnten die Unternehmen im Sommer 1976 ihre Nachfrage nicht decken. Das Institut der Deutschen Wirtschaft stellte im Juni 1976 fest: „Trotz über einer Million Arbeitsloser konnten viele Unternehmen ihren Facharbeiterbedarf nicht im gewünschten Umfang decken.“ Im Juli 1976 vermeldete die Bundesanstalt 247000 offene Stellen.

Der Sachverständigenrat stellte in seinem Gutachten aus dem Herbst 1976 fest: „Möglicherweise haben sich inzwischen Verhaltensänderungen vollzogen, die dazu geführt haben können, daß sich die Arbeitslosen mehr Zeit lassen als früher, ehe sie eine neue Stelle annehmen oder daß sie weniger abgeneigt sind, längere Zeit arbeitslos zu bleiben.“ Zu diesen Verhaltensweisen gehörte die räumliche und berufliche Unbeweglichkeit der Betroffenen. Zur Zeit des Gutachtens galten bei der Bundesanstalt für Arbeit nur 17 Prozent der Arbeitslosen als regional „ausgleichsfähig“, was bedeutete, dass 83 Prozent der Betroffenen nicht bereit waren umzuziehen. Staatssekretär Otto Schlecht aus dem Bundeswirtschaftsministerium äußerte sich zur Flexibilität der Arbeitslosen: „Versuchen Sie mal, eine arbeitslose Sekretärin hinter die Ladenkasse zu setzen.“

Dieser Trend setzte sich auch im darauffolgenden Jahr weiter fort. Nach einer Umfrage der Industrie- und Handelskammer Koblenz konnten allein dort in der konjunkturellen Erholungsphase 1977 Tausende neuer Stellen nicht besetzt werden, weil die von den Arbeitsämtern vermittelten eigentlich nicht arbeiten wollten. Schon damals gingen die Firmen wegen dieser frustrierenden Erfahrung dazu über, offene Stellen nicht mehr beim Arbeitsamt zu melden. Innerhalb von nur zwei Jahren war eine Lage entstanden, in der hunderttausende von Arbeitslosen unter den gegebenen Umständen zwar öffentliche Leistungen empfingen, aber dem Arbeitsmarkt faktisch nicht mehr zur Verfügung standen.

Neben dem offiziellen Arbeitsmarkt, auf dem steigende Steuer- und Sozialabgaben geleistet werden mussten und auf dem Arbeit immer knapper zu werden schien, wuchs die Beschäftigung auf dem nicht offiziellen Arbeitsmarkt. Die Bundesbank registrierte einen wachsenden Bedarf an Bargeld, obwohl der Trend zur Abwicklung von Zahlungen über Schecks und Kreditkarten zunahm. Dies führte die Bundesbank auf das Anwachsen der Schwarzarbeit zurück. Der Bargeldumlauf steige deshalb, weil die „grauen Zonen des Wirtschaftsverkehrs, in denen Leistungen ohne Steuern und Sozialabgaben erbracht und bar abgerechnet werden“ zunahmen.

Auch Arendts Nachfolger, der neue SPD-Arbeitsminister Herbert Ehrenberg,  war frühzeitig zu der Überzeugung gelangt, dass die mangelnde Flexibilität der Arbeitslosen eine Schlüsselfrage des Arbeitsmarktes war. Bereits 1974 vertrat Ehrenberg in einem Buch die Ansicht, Mobilität sei zwar „inzwischen fast zu einem Schlagwort geworden, aber sie ist in vielen Bereichen längst nicht groß genug. Und die Arbeitsmarktpolitik muß nicht nur die berufliche und regionale Mobilität erhöhen, sie muß auch – was sehr viel schwieriger ist – die mobiler gewordenen Arbeitskräfte (beruflich und regional) in eine Richtung lenken, die morgen noch Bestand hat.“ Norbert Blüm nutzte diese Situation, um Ehrenberg links zu überholen und die Verstimmung der Gewerkschaften auf seine Mühlen zu leiten. Blüm kritisierten Ehrenberg für das von diesem auf den Weg gebrachte Arbeitsförderungsgesetz und forderte seinen Rücktritt. Blüm sprach sich gegen den Zwang zur Fort- und Weiterbildung und zur Annahme von Beschäftigung und den Zwang zur Mobilität aus. Die Notwendigkeit, sich einen Arbeitsplatz in einem anderen Teil der Republik zu suchen, nannte Blüm den „Marsch in die Zugvogelgesellschaft.“ Er kritisierte an Ehrenbergs Politik: „Im übrigen stört mich an der Ehrenberg-Novelle, daß hier offensichtlich Arbeitslose mit Drückebergern gleichgesetzt werden.“

Ein Erlass der Bundesanstalt vom Herbst 1978 wurde zum Anlass dafür, dass die Gewerkschaften auf „Kollisionskurs“ zu Ehrenberg gingen. In der „Welt der Arbeit“ wurde Ehrenbergs Arbeitsmarktpolitik angegriffen als „Affront gegen die Arbeitnehmer.“ Ehrenberg selbst betätige sich als „Sachverwalter der Unternehmer.“ Dieser Erlass der Bundesanstalt für Arbeit, der mit Ehrenbergs Genehmigung erlassen worden war, sollte mit der Drohung, Leistungen zu sperren, Druck auf die Arbeitslosen ausüben, auch Arbeit für geringer Qualifizierte anzunehmen. Dies führte zu einem massiven Konflikt mit der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) in der SPD. Der Vorsitzende Helmut Rohde warf Ehrenberg vor, mit diesen Maßnahmen die Schaffung gering qualifizierter Arbeitsplätze zu fördern. Damit würde er den Widerstand gegen die „Disziplinierung“ der Arbeitnehmer durch die Arbeitgeber schwächen. Der Vorstand der AfA beschloss, die SPD-Fraktion aufzufordern, Ehrenbergs Gesetzentwurf zu korrigieren. Um der Arbeitsgemeinschaft entgegenzukommen, ernannte Ehrenberg schließlich einen engen Vertrauten Rohdes und Wehners zum Nachfolger des wegen dieser Auseinandersetzung entlassenen  zuständigen Abteilungsleiters.

Dieser Erfolg  des Gewerkschaftsflügels änderte nichts daran, dass die interne Diskussion über die Motivation der Arbeitslosen weiter geführt wurde. Auch Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte wie Arendt und Ehrenberg erhebliche Zweifel an der Motivation der Arbeitslosen. Schmidt glaubte: „Die Leute haben einfach keine Lust mehr zu arbeiten.“ Zu dieser Überzeugung kam Schmidt durch Gespräche mit Betriebsräten, die ihm ihre Erfahrungen schilderten. Schmidt war sich mit Bundesbankpräsident Emminger, mit dem Schmidt über die Thematik im Sommer 1979 sprach, einig, dass die Arbeitslosigkeit auch im Aufschwung nicht verschwinden würde, weil die Beschäftigung von Ungelernten, Älteren und Frauen für die Arbeitgeber einfach zu teuer war.

Die Befürchtungen der Gewerkschaften gegen die Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien und der Mobilitätsanforderungen waren grundsätzlicher Natur. In einem achtseitigen Aufsatz legte Karl Georg Zinn, Prof. für Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Aachen, in den Gewerkschaftlichen Monatsheften im Januar 1979 den Standpunkt der Gewerkschaften dar. Die Herabsetzung der Zumutbarkeitsgrenze sei ein „Instrument jener konservativen Kräfte“, die die Individualisierung des Arbeitsplatzrisikos befürworten würden. Die Gewerkschaft Textil hatte Ehrenbergs Ansatz als „brutale Forderung nach totaler geographischer Mobilität der Arbeitnehmer“ bezeichnet. Zinn sah die Hauptgefahr der Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien darin, dass die „Fernwirkungen“ dieser Maßnahmen, sich „äußerst ungünstig für die Beschäftigten und ihre Arbeitskampfmöglichkeiten auswirken“ würden. Zinn befürchtete durch den Druck, der auf die Arbeitslosen ausgeübt werden sollte, auch eine schlechter bezahlte Beschäftigung anzunehmen die Entstehung von „Niedriglohnjobs“ im Rahmen persönlicher Dienstleistungen. Dadurch könne der Eindruck entstehen, dass die „orthodox-kapitalistische“ These vom Zusammenhang von Lohnhöhe und Arbeitslosigkeit bestätigt werde. In der Konsequenz fürchteten die Gewerkschaften deshalb eher den Erfolg als den Misserfolg dieser Maßnahmen: „Im Ergebnis könnte sich eine Situation herausstellen, in der die Zahl der „freien Stellen“, die überwiegend aus jenen Niedriglohnjobs bestünden, größer ist als die Zahl der Arbeitslosen. Die reaktionäre Behauptung, daß Arbeitslosigkeit nur eine Frage zu hoher Löhne sei, fände dann gar eine empirische Bestätigung.“

Im Grunde zeichnete sich damals bereits, kurz nach der Entstehung der Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik, die Konfliktlinie ab, an der die SPD im Streit um die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 fast drei Jahrzehnte später zerbrechen sollte.

Dieser Text beruht auf Gérard Bökenkamps Buch „Das Ende des Wirtschaftswunders“.

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