In der Europäischen Union ist der Tourismussektor einer der wichtigsten Wirtschaftszweige mit einem Beitrag von 10 % zum BIP und von durchschnittlich 12 % zur Beschäftigung, wobei regelmäßig in den südlichen Mitgliedstaaten der EU der wirtschaftliche Beitrag des Tourismus größer ausfällt als in Nord- und Mitteleuropa. Historisch gesehen hat sich der Tourismus von einer elitären Aktivität (Stichwort: „Grand Tour“) zu einem globalen Massenphänomen entwickelt. In einigen Reisezielen ist der Tourismus so überbordend geworden, dass dieses Phänomen als Overtourismus („Overtourism“) bezeichnet wird. Dabei beschreibt der Begriff Overtourismus das Phänomen eines Wachstums von Tourismusangebot und -nachfrage in einem Umfang, daß es zu erheblichen Verwerfungen im ökonomischen, ökologischen, kulturellen und sozialen Bereich der Tourismusdestinationen kommt (Mihalic 2020; Peeters et al. 2018; Santos-Rojo et al. 2023).
Die wissenschaftliche Literatur identifiziert eine Vielzahl von Ursachen für die Entstehung dieses Phänomens, die der Einfachheit halber in wirtschaftliche Triebkräfte, technologische Entwicklungen und dem Marketing und Branding von Reisezielen kategorisiert werden können (z. B. Gowreesunkar & Thanh 2022; Pham et al. 2024). Zu den wirtschaftlichen Triebkräften des Overtourismus zählen neben der Globalisierung und der damit verbundenen Reisemöglichkeiten der zunehmende Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten und die wachsende Mittelschicht, insbesondere in den Schwellenländern. Zu den technologischen Entwicklungen gehören neben Online-Buchungssystemen, mobilen Reise-Apps und sozialen Medien vor allem Veränderungen im Flugverkehr, die preiswerte Flugreisen ermöglichen (z. B. Pencarelli 2020). Darüber hinaus scheinen sich Reichweite und Qualität des Destinationsmarketings erheblich verbessert zu haben, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass dank der verbesserten Technologie größere potenzielle Kundengruppen angesprochen werden können.
Die Auswirkungen des Overtourismus lassen sich in wirtschaftliche, ökologische und soziale Effekte differenzieren (Veríssimo et al. 2020): So kann Overtourismus zu einer Reihe von wirtschaftlichen Verwerfungen führen, wie z.B. zu steigenden Lebenshaltungskosten und der Verdrängung von lokalen Unternehmen. Darüber hinaus zeigen empirische Studien, dass die Grundstücks- und Hauspreise steigen (Cardoso & Silva, 2018). Auch kann der Overtourismus sich in saisonbedingten Problemen wie dem Verlust von Arbeitsplätzen und niedrigeren Einkommen in der Neben- oder Nebensaison akzentuieren (Cheer et al., 2019). Indem vom Tourismus nur bestimmte lokale bestimmte Sektoren oder Gruppen materiell profitieren, verändert er die Einkommensverteilung. Oft verursacht Overtourismus Umweltprobleme für die betroffene Region: Neben der Gefährdung lokaler Tier- und Pflanzenarten und geologischer Stätten kann es zu einer verstärkten Luftverschmutzung sowie zu Überfüllungsexternalitäten auf den Verkehrswegen und in den öffentlichen Räumen kommen (Jacobsen et al., 2019). Zudem kann sich die öffentliche Sicherheit verschlechtern; auch kann die Sauberkeit in den Destinationen beeinträchtigt werden (Pinke-Sziva et al. 2019). Schließlich kann Overtourismus soziale Konflikte zwischen verschiedenen regionalen Interessengruppen hervorrufen und zu einer Marginalisierung bestimmter lokaler Gruppen führen (z. B. Routledge, 2001). Darüber hinaus können sich die Einwohner aus den historischen Zentren zurückziehen (z. B. Cardoso & Silva, 2018). Die Widerstandsfähigkeit der Gemeinschaft und die Lebensqualität können ebenfalls sinken (z. B. Cheer et al., 2019; Kuš?er & Mihali?, 2019). Die Einheimischen werden von Touristen oft einem Kulturschock ausgesetzt (z. B. Namberger et al., 2019).
In Abhängigkeit davon, wie es den betroffenen Kommunen gelingt, das Phänomen Overtourismus durch geeignete Maßnahmen zu kanalisieren und verträglich zu gestalten, kann es zu Abwehrreaktionen der lokalen Bevölkerung kommen. Dies wird häufig als Tourismphobia bezeichnet. Mit Milano (2018, S. 1) kann Tourismphobia als Gefühl der Ablehnung gegenüber dem Tourismus definiert werden, das sich in Form von Angriffen auf Restaurants, Geschäften und Yachten, Angriffen auf Touristenbusse, beschädigten Fahrrädern in touristischen Gebieten und anderen Vandalismusakten Bahn bricht.
Damit stellt sich die Frage, wie aus ordnungsökonomischer Sicht auf das Phänomen Tourismphobia reagiert werden sollte.
Zum einen könnte man auf die Option aggressives Abwarten setzen. Es zeigt sich, daß viele Reisedestinationen, die vor nicht allzu langer Zeit erheblichen Zulauf hatten, mittlerweile deutlich zurückhaltender frequentiert werden. Als Beispiele mögen Acapulco, Benidorm an der Costa Blanca, Blackpool, Bali, Sri Lanka, die französische Riviera und die Gold Coast in Australien gelten. Der in diesen Destinationen aufgetretene Massentourismus hat sich aus unterschiedlichen Gründen wieder zurückentwickelt. Aggressives Abwarten müßte mit Maßnahmen flankiert werden, mit denen die öffentliche Sicherheit wiederhergestellt und Sachbeschädigungen und auch weitergehende Maßnahmen unterbunden werden. Es ist davon auszugehen, daß nach einer bestimmten Zeit der Overtourismus in der betreffenden Region wieder verschwindet. Gleichwohl werden sich danach andere Verhältnisse eingestellt haben, wie dies davor der Fall war.
Zum anderen böte sich eine aktive Gestaltung des Phänomens Overtourismus an. Aus ordnungsökonomischer Sicht sollte sich diese Option eines Instrumentariums bedienen, das den Ordnungsrahmen entsprechend gestaltet und auf die Steuerungswirkung des Preismechanismus setzt. Aus ökonomischer Sicht führt ein zunehmender Tourismus zu einer Veränderung der Einkommensverteilung der lokalen Bevölkerung und zu negativen technologischen Externalitäten. Geht man von rational agierenden Individuen aus, deren Handlungen Resultate von Kosten-Nutzen-Kalkülen sind, so werden sich diese Individuen dann gegen Overtourismus – in welcher Form auch immer – zur Wehr setzen, wenn sie aus subjektiver Perspektive durch diese Entwicklung mit höheren Kosten als Nutzen – verstanden in einem umfassenden Sinn – konfrontiert werden. So wird der Hotelbetreiber, der sich über eine Auslastung von 100 Prozent in der Hochsaison freut, durchaus bereit sein, etwas gestiegene Preise für die Lebenshaltung und verstopfte Straßen in Kauf zu nehmen. Anders verhält es sich sicherlich bei einem Rentner: Dieser wird mit höheren Preisen und mit den negativen technologischen Externalitäten konfrontiert, ohne daß diesen ein beachtenswerter, aus dem gestiegenen Tourismus resultierender Nutzenzuwachs gegenübersteht. Gleiches dürfte für eine Kassiererin im Lebensmitteleinzelhandel der Fall sein. Um diese Gruppen zu befrieden, wäre also aus ordnungsökonomischer Sicht ein Instrumentarium zu wählen, daß ihren einschlägigen Nutzen erhöht oder aber ihre Kosten absenkt. Ein derartiges Instrumentarium könnte darin bestehen, Eintrittsgelder für den touristischen Aufenthalt in der Kommune zu erheben. Damit ließe sich zum einen der Tourismus auf ein erträgliches Maß einhegen und zum anderen könnten durch die dadurch erzielten Einnahmen entweder lokale Steuern abgesenkt oder aber öffentliche Güter produziert werden, die das Kosten-Nutzen-Kalkül der benachteiligten Personengruppen verändern.
Quellen
Cardoso, C., & Silva, M. (2018). Residents‘ perceptions and attitudes towards future tourism development: A challenge for tourism planners. Worldwide Hospitality and Tourism Themes, 10(6), 688–697. DOI: 10.1108/ WHATT-07-2018-0048.
Cheer, J. M., Milano, C., & Novelli, M. (2019). Tourism and community resilience in the anthropocene: Accentuating temporal overtourism. Journal of Sustainable Tourism, 27(4), 554–572. DOI: 10.1080/09669582.2019.1578363.
Gowreesunkar, V. G. & Thanh, T. V. (2022). Between Overtourism and Under Tourism: Impacts, Implications, and Probable Solutions, in: Séraphin, H.; Gladkikh, T.; Thanh, T.V. (Edit.) (2022). Overtourism. Causes, Implications and Solution (pp. 45-68). Cham, Switzerland: Palgrave Macmillan (Springer Nature Switzerland AG) https://doi.org/10.1007/978-3-030-42458-9
Jacobsen, J. K. S., Iversen, N. M., & Hem, L. E. (2019). Hotspot crowding and over-tourism: Antecedents of destination attractiveness. Annals of Tourism Research, 76, 53–66. DOI: 10.1016/j.annals.2019.02.011.
Kuš?er, K., & Mihali?, T. (2019). Residents‘ attitudes towards overtourism from the perspective of tourism impacts and cooperation: The case of Ljubljana. Sustainability, 11(6), 1823.
Mihalic, T. (2020). Conceptualising overtourism: A sustainability approach. Annals of Tourism Research, 84, 103025.
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Namberger, P., Jackisch, S., Schmude, J., & Karl, M. (2019). Overcrowding, overtourism and local level disturbance: How much can Munich handle? Tourism Planning and Development. DOI: 10.1080/21568316.2019.1595706.
Peeters, P., Grossling, S., Klijs, J., Milano, C., Novelli, M., Dijkmans, C. et al. (2018). Research for TRAN Committee – Overtourism: Impact and possible policy responses. European Parliament.
Pencarelli, T. (2020). The digital revolution in the travel and tourism industry. Information Technology & Tourism, 22(3), 455–476.
Pham, K., Andereck, K.L., Vogt, C.A. (2024). Overtourism: A Potential Outcome in Contemporary Tourism—Causes, Solutions, and Management Challenges. In: Chhabra, D., Atal, N., Maheshwari, A. (eds) Sustainable Development and Resilience of Tourism. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-031-63145-0_10
Pinke-Sziva, I., Smith, M., Olt, G., & Berezvai, Z. (2019). Overtourism and the night-time economy: A case study of Budapest. International Journal of Tourism Cities, 5(1), 1–16. DOI: 10.1108/IJTC-04-2018-0028.
Routledge, P. (2001). Selling the rain‘, resisting the sale: Resistant identities and the confl ict over tourism in Goa. Social and Cultural Geography, 2(2), 221–241. DOI: 10.1080/14649360120047823.
Santos-Rojo, C., Llopis-Amorós, M., & García-García, J. M. (2023). Overtourism and sustainability: A bibliometric study (2018–2021). Technological Forecasting and Social Change, 188, 122285.
Veríssimo, M., Moraes, M., Breda, Z., Guizi, A., & Costa, C. (2020). Overtourism and tourismphobia: A systematic literature review. Tourism: An International Interdisciplinary Journal, 68(2), 156-169.
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