Gastbeitrag
Realitätsverweigerung

Seit 2020 brachen  in schneller Folge eine Reihe katastrophaler Ereignisse über die Welt herein, von denen jedes das Potential für tiefe Verwerfungen besaß. Diese Schocks trafen auf eine Welt, die ohnehin schon vor fundamentalen Herausforderungen steht. An erster Stelle ist der Klimawandel zu nennen. Kaum ein Bereich der Politik, der davon nicht betroffen ist. Das Gleiche gilt für die gravierenden Entwicklungen in der Demographie

Die Diskussion um die Auswirkungen  von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz ist geprägt von völlig konträren Positionen. Der Erwartung eines gewaltigen Schubs für bahnbrechende Innovationen verbunden mit erheblichen Produktivitätsgewinnen stehen sehr viel vorsichtigere Einschätzungen gegenüber. Argumente lassen sich für beide Positionen vorbringen. Kaum waren die schlimmsten Auswirkungen von COVID überwunden, hat Russland die Ukraine mit einem Krieg überzogen, wie er weithin in Europa  kaum mehr für möglich gehalten wurde. War das Bild des Endes der Geschichte schon vom Ansatz her falsch – Popper hat überzeugend die Vorstellung von der Zwangsläufigkeit der Geschichte in das Reich philosophischer Irrtümer verbannt –, hat dieser brutale Angriffskrieg die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer scheinbar berechtigten Hoffnungen auf eine dauerhaft friedliche Zukunft zerstört. Statt des Traums von Kants immerwährendem Frieden neue Kriege. Der Terroranschlag der Hamas vom 7.Oktober 2023 hat eine Kette anhaltender kriegerischer Auseinandersetzungen ausgelöst. 

 Auf der globalen Ebene droht mit dem Ausgreifen Chinas auf Taiwan ein Konflikt mit Gefahren, die in einem Weltenbrand enden könnten. Graham Allison charakterisiert die Konfrontation zwischen China und den USA als „Thukydides Falle“ (Destined For War, 2017). Er diagnostiziert für die letzten 500 Jahre 16 Konstellationen, in denen wie zu Zeiten Spartas und Athens eine aufstrebende Macht die bis dahin dominierende herausgefordert hat. In zwölf Fällen endete diese Konkurrenz im Krieg, mit dem Ersten Weltkrieg als (bisher) größter Katastrophe. Dazu muss es zwischen China und USA nicht kommen. Aber auf jeden Fall werden die unausbleiblichen Spannungen die Geopolitik und damit auch das Gesicht der Weltwirtschaft verändern. Die Globalisierung ist eher im Rückwärtsgang. Gerade eine offene Wirtschaft wie Deutschland steht damit vor  gewaltigen Herausforderungen. 

Als wären der Probleme nicht genug verstärkt Trump seit Beginn seiner zweiten Amtszeit geradezu dramatisch die Auflösungserscheinungen einer über  Jahrzehnte alles in allem funktionierenden Weltordnung. Was immer von seinen zollpolitischen Exzessen und anderen protektionistischen Eingriffen am Ende übrig bleibt, der Welthandel wird darunter leiden und damit die Wohlfahrt der meisten Länder. Den größten Schaden verursacht aber die Erratik seiner Politik. Am Ende des Zweiten Weltkriegs hatten die USA die Basis für eine internationale Ordnung gelegt, in der die wirtschaftlichen Beziehungen weitgehend nach allgemeinen Regeln verliefen. An die Stelle tritt jetzt eine unübersehbare Folge von Verhandlungen, deren Ausgang im Wesentlichen durch wirtschaftliche und politische Macht bestimmt wird. Welch eine Kehrtwende!

Die Systemfrage

Das Zusammentreffen multipler Schocks erzeugt extreme Unsicherheit bei der Einschätzung künftiger Entwicklungen, eine Unsicherheit, die sich nicht in wahrscheinlichkeitsbasierten Modellen erfassen lässt. Diese „wahre“ (Knight) oder „radikale“ (King) Unsicherheit stellt die Politik vor besondere Herausforderungen. Gleichzeitig muss man mit fundamentalen wirtschaftlichen Veränderungen rechnen.  Es war zu erwarten, dass in dieser Konstellation eine führende Rolle des Staates gefordert wird. Das gilt wenig überraschend für Politiker und Wissenschaftler, die ohnehin und grundsätzlich den Marktkräften skeptisch gegenüber stehen. Joseph Stiglitz kann als Protagonist dieser Ansicht gelten.In seinem neuen Buch „The Road to Freedom“ (2024) zeigt er schon im Titel seine Gegnerschaft zu Hayek und seinen Thesen, die dieser in dem Werk „Der Weg zur Knechtschaft“ (1944) dargelegt hat und nach denen eine sozialistische Politik nicht nur zu schlechten wirtschaftlichen Ergebnissen, sondern zwangsläufig auch zum Verlust der Freiheit führt. Stiglitz vertritt genau die gegenteilige These: Der ungeregelte Markt endet in wirtschaftlicher Misere und dem Verlust der Freiheit für die weit überwiegende Mehrheit der Gesellschaft. Überall herrscht Markversagen, nur der Eingriff des Staats kann Abhilfe schaffen und für eine gerechte Gesellschaft sorgen. In einem Punkt muss man seine Sorge teilen. Das nahezu unkonntrollierte Wachstum globaler Konzerne im Bereich der Medien und der Informationstechnologie bedroht nicht nur die Wirtschaft, sondern gefährdet auch die Grundlagen der Demokratie.

Die unstillbare Sehnsucht nach „Gerechtigkeit“ macht sich in Deutschland die wiedererstarkte Partei „Die Linke“ zunutze. Nachdem der Sozialismus nirgendwo seine anfänglichen Versprechungen erfüllen konnte, vermag in Deutschland offenbar immer noch der in Venezuela praktizierte Sozialismus als Vorbild zu dienen. Bei der Amtsübernahme versprach Hugo Chavez einen neuen Sozialismus, der den Menschen Frieden und Gerechtigkeit bringen wird. Apologeten wie Naomi Klein und  Noam Chomsky in den USA oder Jeremy Corbyn, der damals kurz davor stand,  Premier in Großbritannien zu werden, überschlugen sich in Begeisterung.

 Als sich das durch die sozialistische Wirtschaftspolitik verursachte ökonomische Chaos längst eingestellt hatte, veröffentlichte die Spitze der Partei „Die Linke“ zum Tod von Chavez eine Pressemeldung, in der sie Chavez als „unerschrockenen Verfechter für eine neue, gerechte Welt“ feierte und seinem Nachfolger ihre „solidarische Unterstützung“ zusicherte. Eine Abkehr von dieser Linie ist bis heute nicht bekannt. Wagenknecht schrieb damals (zusammen mit einer Kollegin aus der Bundestagsfraktion) eine separate Pressemeldung: „Mit Hugo Chavez ist ein großer Präsident gestorben, der mit seinem ganzen Leben für den Kampf um Gerechtigkeit und Würde stand“. Die vielen…“von ihm ausgehenden Initiativen zeigen, dass ein anderes Wirtschaftsmodell möglich ist … das bolivarische Projekt (ist) das Vermächtnis Hugo Chavez`, das es über seinen Tod hinaus zu erhalten und weiterzuentwickeln gilt“. Diesem Aufruf ist sein Nachfolger bedingungslos nachgekommen mit der Folge, dass das Land mit den wohl größten Erdölreserven der Welt wirtschaftlich völlig ruiniert und zu einem diktatorischen Regime verkommen ist. Die meisten Einwohner leben in Angst vor politischer Unterdrückung und in bitterer Armut, Millionen haben das Land verlassen.

Wie kann es sein, dass eine in der Realität als totalitär und ökonomisch desaströs diskreditierte Politik  in Deutschland nicht auf einhellige Ablehnung stößt, sondern sogar noch als Vorbild dienen kann?  Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen werden die Vertreter der Linken jedoch eher hofiert als auf diese verhängnisvolle Orientierung angesprochen, die Deutschland ein ähnliches Schicksal bescheren würde. Dazu passt eine Berichterstattung, die sozialistischen Ideen zugeneigt ist. Wäre es nicht ein großes Thema, einem breiten Publikum einmal darzulegen, wie die Verwirklichung sozialistischer Ideen über die verschiedenen Stufen zuerst in wirtschaftlichen Niedergang und am Ende in politische Unfreiheit führt? Müsste man in dieser Aufklärungsarbeit nicht geradezu eine Verpflichtung öffentlich-rechtlicher Institutionen sehen, die Objektivität für sich beanspruchen? Kann man sich eine solche Sendung, zur besten Fernsehzeit, in ARD oder ZdF überhaupt vorstellen? Statt dessen Berichte wie neuerdings über Argentinien, nach denen marktwirtschaftliche Reformen die Menschen ins Elend stürzen, in das sie freilich vorher jahrzehntelange sozialistische Misswirtschaft getrieben hatte. Solche Sender bescheinigen sich „Ausgewogenheit“ des Programms!  Die Marktwirtschaft hat es nicht zuletzt auch deshalb schwer mit der Anerkennung ihrer unbestreitbaren Erfolge.

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs war die Suche nach der besten Ordnung der Wirtschaft offenbar keineswegs ein für allemal beendet. Es ist zu vermuten, dass die „Systemfrage“ auf absehbare Zeit, wenn nicht für immer auf der Agenda bleiben wird, mal eher im Hintergrund, mal auf offener Bühne ausgetragen. Die durch das Zusammentreffen multipler Schocks ausgelöste globale Unsicherheit bietet Anlass für einschlägige Auseinandersetzungen. Diese entzünden sich aktuell vorwiegend an konkreten Fragen der Gestaltung der Wirtschaft und hier wiederum der „neuen Industriepolitik“, neu deshalb, weil staatliche Eingriffe in den Investitionsprozess praktisch eine Dauererscheinung sind.

Die neue Industriepolitik

Wie soll die Politik auf die alle Bereiche der Wirtschaft betreffende Unsicherheit und die bahnbrechenden neuen Technologien reagieren? Eine weit verbreitete Antwort basiert auf tiefer Skepsis gegenüber den Marktkräften.Vertreter der Wissenschaft fordern angesichts der großen Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft umfassende Kompetenz für den Staat. In den Worten von Mariana Mazzucato als zur Zeit prominenteste Vertreterin, deren Rat von zahlreichen Regierungen gesucht wird: „We have to believe in the public sector… This means restoring public purpose in policies so that they are aimed at creating tangible benefits for citizens and getting goals that matter to people-driven by public –interest considerations rather than profit“ (Mazzucato, Mission Economy, S.6). (Diese Aussage könnte Wort für Wort auch von Stiglitz stammen.)

Worauf gründet sich der “Glaube” an staatliche Investitionspolitik? Dagegen stehen zu viele Beispiele des Versagens. Wie kann man an die Überlegenheit staatlicher Zukunftspolitik glauben, wenn der Staat wie etwa in Deutschland jahrzehntelang dem Verfall des Eisenbahnnetzes tatenlos zugeschaut hat? Mazzucato, um bei dieser Autorin zu bleiben, setzt voraus, dass der Staat wie ein venture capitalist agiert, der sein Portfolio risikobewusst strukturiert. In dieser Bedingung liegt in der Tat die entscheidende Voraussetzung für die Chance erfolgreicher Industriepolitik, aber zugleich das fundamentaleMissverständnis, dies könne einer Politik in staatlicher Hand gelingen. “Risikobewusstsein”, ohne dass  Investoren eigenes Geld einsetzen, ist nicht viel wert. Zudem besteht die Gefahr, dass der Staat im Falle drohenden Scheiterns weiteres Geld zuschiesst, um die Offenbarung des Misserfolgs möglichst lange zu kaschieren. Muss man nicht vermuten, dass in diesem Regime private Investoren von vorneherein mit der Möglichkeit des “Nachschusses” von staatlicher Seite rechnen?

Es gehört zum Wesen einer Marktwirtschaft, dass der Investor die Chance künftigen Gewinns gegen das Risiko des Verlusts bis hin zum Bankrott abwägt. Verstöße gegen das Prinzip der Haftung für wirtschaftliches Handeln bringen die Grundlagen einer marktwirtschaftlichen Ordnung ins Wanken. Nichts hat der Akzeptanz der Marktwirtschaft in der Öffentlichkeit mehr geschadet als die – letztlich unvermeidliche – Rettung großer Banken in der Finanzkrise 2007/8, weithin verstanden als “Gewinne bleiben privat, Verluste trägt die Allgemenheit, also der Steuerzahler”.

Die vom vorherigen Wirtschaftsminister Robert Habeck favorisierte Industriepolitik bewegte sich grundsätzlich auf der von Mazzucato propagierten Linie. Mit Stolz verkündete er im September 2024, er habe “so viele Gesetze, Verordnungen, Europäische Verordnungen und so weiter umgesetzt, um das Land wieder in Fahrt zu bringen” (FAZ vom 17.12.2024, S. 16). Es fällt schwer, in einer Rekordzahl von Eingriffen in die Wirtschaft ein Erfolgsrezept zu sehen und nicht den Ausdruck einer aktivistischen, überheblichen staatlichen Bürokratie. Die Wirtschaft ist mit einer derartigen Flut von staatlichen Aktivitäten überfordert und verunsichert, auch deshalb, weil staatliche Willkür bei der Auswahl förderungswürdiger Projekte fast zwangsläufig erscheint. Bei der Vielzahl von Eingriffen in vergleichsweise kurzer Zeit kann es  nicht ausbleiben, dass sich  Maßnahmen in ihren Wirkungen widersprechen. In seinem Bericht zur mangelnden  Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft hat der frühere EZB Präsident Mario Draghi beklagt, dass die EU in fünf Jahren mehr als 13000 Rechtsakte verabschiedet hat, von denen viele mehr Schaden angerichtet als Nutzen gebracht haben. Nur zum Vergleich: die Bundesregierung in den USA ist trotz viel weitreichender Kompetenzen im gleichen Zeitraum mit 5000 Akten ausgekommen – immer noch eine beachtliche Zahl.

An den geförderten Großprojekten zeigt sich besonders deutlich das durch eine subventionsbasierte Industriepolitik erzeugte Verhalten der Wirtschaft, das in einem solchen Regime ihre Aktivitäten verstärkt auf  “förderungswürdige”Vorhaben ausrichtet. Die Ökonomen sprechen von “rent seeking”, einem ressourcenverschlingenden, die Produktivität mindernden und für die Orientierung des Wirtschaftlebens  schädlichen Prozess. Moritz Schularick hat dafür die treffende Charakterisierung gefunden: Der Staat ist zwar nicht gut darin, die Gewinner von morgen zu finden, aber ganz sicher finden die Verlierer von gestern den Staat.

Mit der Umweltpolitik wollten ihre Protagonisten in Deutschland einst für die Welt ein Zeichen setzen. Ist man nicht versucht, in Sarkasmus zu verfallen und festzustellen: Dieser Anspruch hat sich erfüllt. Zu teuer und ineffektiv, lautet das Urteil, ein Beispiel, wie man es nicht machen sollte. Das sog. Heizungsgesetz gilt als einsamer Spitzenreiter in der Hitparade übergriffiger Bürokratie (Stefan Wagner, NZZ vom 14.8.2025). Die umweltpolitischen Erfolge sind ganz wesentlich marktorientierter Politik zu verdanken. Künftig werden knapp 90% der europäischen klimaschädlichen Emissionen durch Emissionshandelsysteme abgedeckt. Einer eigenen Industriepolitik oder zusätzlicher Subventionen bedarf es dann nicht. Viele der vorgesehenen oder bereits bestehenden Maßnahmen sind nicht notwendig oder sogar schädlich, da sie zu höheren Kosten für die Transformation führen (Wissenschaftlicher Beirat beim Miniserium für Wirtschaft und Energie).

Ob in der Festlegung für große Projekte oder Eingriffe im Einzelnen, immer vertraut die neue Industriepolitik auf die Überlegenheit staatlichen Handelns auf Grund überlegenen Wissens. Dabei geht es nicht nur und nicht in erster Linie um einzelne Eingriffe. Für die Volkswirtschaft  kommt es entscheidend darauf an, dass sich die einzelnen Maßnahmen  zu einem konsistenten Ganzen fügen. In Zeiten multipler Schocks und damit besonders hoher Unsicherheit ist dies eine riesige Herausforderung, die richtige Antwort umso wichtiger.  

Muss man nicht einer Politik, die die Komplexität des Geschehens ignoriert, Hybris, Anmassung von Wissen unterstellen?   Der Bedarf an Informationen – und damit der bürokratische Aufwand- über die Entwicklung einzelner Märkte und verfügbarer Technologien, und das weltweit, wächst mit dem Grad der spezifischen Ausrichtung der Industriepolitik (Czernich/Falk). An den Grundproblemen staatlicher Planung wird auch der Einsatz neuer Informationstechnologien nichts ändern. Das liegt in erster Linie daran, dass es des Marktes als Entdeckungsverfahren im Hayekschen Sinne bedarf. Das gilt zum einen, weil nur auf diese Weise unzählige Unternehmen und Individuen aus eigenem Antrieb an dem globalen Suchprozess nach den besten Lösungen beteiligt werden. Damit wird das verstreute Wissen auf ungeplante Weise mobilisiert und im Interesse der Gesellschaft genutzt. Zum anderen entstehen in diesem Wettbewerb erst die Informationen und Daten, die  Knappheitspreise, die unerlässlich für zukunftsfähige Entscheidungen sind.

Die Stunde der Ordnungspolitik

Ist dies nicht die Stunde der Ordnungspolitik, des Besinnens darauf, dass es zunächst und vor allem eines Rahmenwerks bedarf, das von der Politik gestaltet wird, in dem sich die einzelnen Bereiche und Maßnahmen zu einem sinnvollen Ganzen ergänzen und das damit der Wirtschaft Orientierung gibt? Nachdem es in Deutschland lange geradezu verpönt war, vor allem auf Seiten der Wissenschaft, die  Vertreter der Freiburger Schule zu beachten, mehren sich inzwischen Appelle, der Ordnungspolitik und damit der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft wieder die notwendige Bedeutung einzuräumen. In seinem grundlegenden Werk “Grundsätze der Wirtschaftspolitik” entwickelt Walter Eucken Prinzipien der Wirtschaftsverfassung. Unter den konstituierenden Prinzipien bezeichnet er die “Konstanz der Wirtschaftspolitik” (1952) als zentrales Element der Wettbewerbsordnung, zentral, weil für die Planungssicherheit der Unternehmen ausschlaggebend, vor allem bei längerfristigen Investitionsentscheidungen. Welche Forderung könnte in einer Zeit multipler Schocks dringlicher sein? Wer dächte in diesem Zusammenhang nicht an die erratische Politik des amerikanichen Präsidenten und die jetzt schon absehbaren negativen Folgen für die Investitionstätigkeit?

Konstanz der Wirtschaftspolitik heisst nicht Stillstand, sondern verlangt Verlässlichkeit: die Wirtschaft muss darauf  vertrauen können, dass die Politik einen verlässlichen Rahmen für Invetitionsentscheidungen schafft, von der Steuerpolitik bis hin zu Regulierungen, bestimmt von der Überzeugung: eine florierende Wirtschaft, getragen vom Prinzip des Wettbewerbs, bildet die Grundlage für Freiheit, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit in einem Land. In diesem allgemeinen Sinne schließt “Konstanz” auch das Vertrauen ein, der Staat werde  überhöhte Steuern oder Hemmnisse durch exzessive Regulierung und ausufernde Bürokratie abbauen. Als sich der Impfstoff der Firma Biontech in der Covidkrise als äußerst erfolgreich erwies und riesige Gewinne erzeugte, dauerte es nicht lange bis Forderungen aufkamen, die “Sondergewinne” hoch zu besteuern und/oder die Firma zu Verkäufen zu niedrigen Preisen oder sogar kostenlosen Lieferungen  an Entwicklungsländer zu zwingen. Müssen Unternehmen bei ungewöhnlichen Erfolgen von ex ante unsicheren Investitionen mit der Gefahr einer höheren Besteuerung ex post rechnen, belastet eine solche Befürchtung das Investitionskalkül mit der  wahrscheinlichen Folge, dass die Investition ausbleibt – oder in ein Land mit besseren, vor allem verlässlichen Bedingungen verlagert wird?

Der Fall Biontech zeigt wie im Lehrbuch das geglückte Zusammenspiel von staatlichem und unternehmerischen Handeln. Der Impfstoff wurde auf der Basis staatlicher Grundlagenforschung entwickelt. Das notwendige Kapital für die unternehmerische Aktivität kam von einem privaten Wagniskapitalgeber – der im Falle des Misserfolgs alles Geld verloren hätte. Die Firma machte riesige Gewinne, der Staat partizipierte mit hohen Steuereinnahmen (bei vorher bekannten Steuersätzen) am Erfolg.

Förderung der Grundlagenforschung auf breiter Basis, in Forschungseinrichtungen, auch solcher privater Natur, verspricht auf Dauer größeren Erfolg als die Konzentration der Mittel auf fragliche Großprojekte. Gerade eine Volkswirtschaft wie die deutsche, deren wirtschaftlichen Erfolge zu einem großen Teil auf einem breitgefächerten Mittelstand mit einer in der Welt einzigartigen Dichte von “Hidden Champions” beruhen, verlangt nach einer Wachstumspolitik, die nicht vo allem große Einzelprojekte fördert, sondern durch gute Rahmenbedingungen allen Unternehmen zu gute kommt.

Überwindung der Sklerose

Mancur Olson hat vor vielen Jahren (1982) in seinem Buch “The Rise and Decline of Nations” dargelegt wie Gesellschaften in Zeiten langen Friedens und Sicherheit zur Trägheit neigen, wie sich Interessengruppen ausbreiten, wie deren Ansprüche sich in Gesetzen und Regulierungen verfestigen. Im “politischen Alltagsbetrieb” besteht dann so gut wie keine Chance, die sklerotischen Strukturen aufzubrechen. Die Entwicklung in Deutschland nach den Reformen der Schröder Regierung ist ziemlich genau nach diesem Muster verlaufen. Stück für Stück wurde ein Reformelement nach dem anderen abgebaut, wurden Ansprüche wie in der gesetzlichen Rentenversicherung in finanziell schon auf mittlere Sicht untragbaren Belastungen verankert. Grob gesprochen steht Deutschland wirtschaftspolitisch gesehen am Ende der Ampelkoalition wieder vor den mehr oder weniger gleichen Problemen, die Schröder zu seiner bekannten Agenda veranlasste.

Folgt man Olson, dann bedarf es eines fundamentalen Schocks, um die Bereitschaft zu grundlegenden Reformen auszulösen. Im Jahre 2005 war es die Rekordarbeitslosigkeit, die in der gemeldeten Zahl von über 5 Millionen Arbeitslosen noch nicht einmal vollständig erfasst war. Sollten gegenwärtig die durch gravierende multiple Schocks hervorgerufenen gewaltigen Herausforderungen nicht eine ähnliche Bereitschaft zu Reformen erzeugen?

Leider kann davon nicht enfernt die Rede sein. Der Grad an Verweigerung, der Realität ins Auge zu sehen, hat beängstigende Ausmasse angenommen. Das gilt vor allem für den Bereich der sozialen Leistungen.  Die Aufwendungen für Gesundheit und Pflege laufen aus dem Ruder. Die gewaltigen Lücken in der Finanzierung der gesetzlichen Rente sind seit Jahren bekannt. Die Übertragungen des Bundes an das Rendenbudget machen schon heute 30% des Haushalts aus. Ohne Reformen könnten daraus bis 2040 über 40% und bis 2050 sogar 50% werden (Werding). Damit müssten fast alle anderen Ausgaben gekürzt werden – eine schlicht unvorstellbare Entwicklung.

Und was macht die Regierung?   Die Politik belastet das System zunächst zusätzlich mit rund 200 Mrd. Ausgaben. Obwohl an grundlegenden Analysen und Reformvorschlägen alles andere als Mangel herrscht, soll eine Kommission eingesetzt werden, die Vorschläge unterbreiten soll. Diese Ankündigung impliziert vermutlich, dass sich die Lage bis zur nächsten Bundestagswahl weiter verschlechtert haben wird. Hinter dieser aktuellen Reformverweigerung steckt die durch Umfragen belegte Angst, die Wähler würden selbst moderate Eingriffe in das System bestrafen. Woher soll aber dann die Unterstützung für die schließlich zwangsläufig notwendige radikale Reform kommen? Wem werden die Wähler zutrauen, die unvermeidliche Kehrtwende zu vollziehen? Wie groß ist die Gefahr, dass das Vertrauen in die Demokratie, langfristige Probleme zu lösen, nicht unwiderruflich beschädigt wird?

 Eine Wirtschaft mit einem Potentialwachstum von rund 0,3% – Tendenz sinkend- ist nicht in der Lage, den ausgeuferten Wohlfahrtstaat zu tragen.  Stärkeres Wachstum kann dieses Problem  kurzfristig nicht lösen, es hilft  aber über hohe Beschäftigung, den Sozialstaat zu entlasten. Höheres Wachstum trägt dazu bei,  Verteilungskonflikte zu entschärfen und ist die Grundlage für sozialpolitische Maßnahmen, die wesentlich zur Akzeptanz des marktwirtschaftlichen Systems und am Ende auch der Demokratie beitragen.

Die Liste der notwendigen Reformen ist ebenso lang wie bekannt. Man kann der neuen Bundesregierung eine ganze Reihe bereits eingeleiteter wichtiger Reformmaßnahmen attestieren. Weitere Schritte sollen folgen.Die Reform der Migrationspolitik, Ansätze im Bereich der Deregulierung und des Bürokratieabbaus und die beschleunigte Digitalisierung werden ihre segensreichen Wirkungen über die Zeit entfalten. Gleichzeitig treiben aber sozialpolitische Maßnahmen die Lohnnebenkosten weiter nach oben, wirken wachstums- und beschäftigungshemmend. Um das Ausmass an wirtschaftspolitischer Desorientierung auf die Spitze zu treiben: In einer Phase, in der die öffentliche Verschuldung um 900 Mrd. wachsen soll, scheinen Steuererhöhungen nicht mehr tabu.

Die Sorge um die Zukunft des Landes soll den Blick auf seine nach wie vor herausragenden Stärken nicht versperren. Rechtsstaat und Demokratie, ein hohes Mass an Qualifizierung seiner Menschen, eine herausragende Forschungslandschaft, um es bei dieser knappen Aufzählung zu belassen, verkörpern ein gewaltiges Potential. Es ist die Aufgabe der Politik, das Dickicht von Hemmungen zu durchforsten und den produktiven Kräften den notwendigen Freiraum zu verschaffen. Dafür existiert keine Blaupause. Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft, in den neuen Herausforderungen angepasstem Gewande, vermag die notwendige  Orientierung bieten.

Blog-Beiträge zum Thema:

Norbert Berthold (JMU, 2022): Wirtschaftspolitik heute. Viel ordnungspolitischer Unfug

Otmar Issing

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