Der Wandel des Bürgers vom Bittsteller zum Kunden

Was ist los?

Steht man im überfüllten Wartebereich eines Bürgerbüros fühlt man sich als Störenfried, der durch sein Erscheinen eine offensichtlich total überlastete Verwaltung zur Ausstellung eines Dokuments nötigen will. Eigentlich wäre man ja gerne bereit, auf das Ertrotzen der Dienstleistung zu verzichten, wenn andere Verwaltungsbereiche von einem nicht genau eben die schriftlichen, gestempelten und unterschriebenen Ergebnisse dieser nur hier ausgeführten hoheitlichen Amtshandlung einfordern würden.

Aber es kommt besser. „Kundenorientierung“ heißt das Stichwort, die Verwaltungsmitarbeiter sollen sich an den Wünschen und Fähigkeiten der Adressaten orientieren. In manchen Amtsstuben munkelt man schon von Leistungen, die sich der Bürger ganz ohne Gang ins Amt aus dem Internet herunterladen können soll. Aber gemach, vom Anschauen der Öffnungszeiten und dem Ausdruck von Formularen, die man schon zu Hause ausfüllen kann, bis zum vollständigen Abruf einer behördlichen Dienstleistung aus dem Netz ist es noch ein weiter Weg, denn keinesfalls darf ein Unberechtigter an das elektronische Dokument herankommen. Dazu bedarf es der eindeutigen, unzweifelhaften Identifikation. Ein neuer oder gerade abrasierter Bart, eine gestylte Frisur und die enormen Tagesschwankungen unterliegende Unterschrift zählen beim persönlicher Erscheinen nicht als Hinderungsgrund für eine Amtshandlung. Aber wenn eine elektronische Unterlage gefordert wird, dann darf diese nur auf dem sichersten Weg erfolgen. Das gilt auch, wenn ein Bürger von einem Amt zur Beibringung von Unterlagen eines anderen Amtes aufgefordert wird, und das Elaborat nur zwischen den Behörden ausgetauscht werden soll.

Selbsternannte Bewahrer festgefahrener Vorgehensweisen sorgen sich aufopferungsvoll um die Sicherheit bei den künftig möglicherweise entstehenden Verfahren ohne Warteschlangen. Sie zeigen, von sensationshungrigen Journalisten angestachelt, wie einfach man einen Chip zur Personenidentifikation unbrauchbar machen kann und setzen dazu geheimnisvolle Apparaturen ein, wie Wegwerfcameras, die von Schülern umgelötet ihr grausiges Informationswerk verrichten. Ein zwischen klassischer Heimwerkerkunst und digitaler Autodidaktik aufgestellter Bürger versteht ob des enormen Technikeinsatzes die Welt nicht mehr. Eigentlich genügen ihm ein einfacher Hammer, eine Schere oder auch nur zwei durch viel Unterschreiben trainierte Finger, um einen Chip in die informationelle Fremdbestimmung zu befördern und unbrauchbar zu machen.

Was passiert?

In einem nicht dynamischen, aber trotzdem stetigen Lernprozess erkennen zunehmend mehr Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung die Notwendigkeit, neue Technik für ihren eigenen Erfolg, zum Nutzen der Bürger und zum Vorteil für die ganze Volkswirtschaft einzusetzen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Internetauftritt www.personalausweisportal.de. Hier bemüht sich das Innenministerium, das Volk positiv auf den neuen Ausweis mit Identitäts-, Unterschrifts- und Signaturfunktion einzustimmen. Dazu werden ungewöhnliche Wege gegangen. Nicht nur die gut aufgemachte Erklärung aller Funktionen im Internet, sondern auch die Aufforderung Partner zu werden überrascht den Bürger, der Kummer mit der öffentlichen Verwaltung gewohnt ist. Aber auch bei zweimaligem Lesen bleibt das Erstaunen positiv. Die Verwaltung hat nicht nur erkannt, dass die Abwicklung ihrer eigenen Aufgaben, sondern auch die von Geschäftsprozessen mit Hilfe der digitalen Identifikation und Signatur erheblich vereinfacht werden kann. Ohne dass die Schrift rot würde vor Verlegenheit, liest man einen öffentlich rechtlichen Text, der neue Gestaltungsmöglichkeiten für Geschäftsabläufe, Kostensenkung, Vereinfachung und die Verbesserung von Service anpreist.

Was einen aus der Fassung bringt!

Aber dass die öffentliche Verwaltung soweit zu gehen scheint, ein französisches Filmteam zu engagieren, um die Notwendigkeit der digitalen Identität überzeugend an einem sozialkritischen Drama vorzuführen, muss jeden biederen Bürger aus der Façon – Pardonnez-moi – aus der Fassung bringen. Fakt ist jedoch, dass Gerard Depardieu in dem gerade anlaufenden Kinomagnet Mammouth als in den Ruhestand wechselnder Fleischer mit seinem deutschen Mammut Motorrad viele Stationen seines Lebens anfahren muss, um seine Rentenversicherungsnachweise beizubringen. Eine schlagkräftigere oder besser überzeugende Begründung für die Notwendigkeit der Einführung von ELENA (ELektronischer ENtgelt Nachweis) kann man wirklich nicht liefern. Hoffentlich wird auch der Bundeswirtschaftsminister dazu verlockt, sich den Film anzusehen, damit er seine Wankelmütigkeit in der Bekämpfung des Monsters oder besser Papiertigers „Entgeltnachweis“ überwindet und alle Beteiligten nachhaltig auf die digitale Strategie einschwört. Dem wirklich multimedial denkenden Ministerialbeamten, der das cineastische Überzeugungswerk durch die Auftragsvergabe ermöglicht hat, müssen alle „Digital Natives“ außerordentlich dankbar sein. Er hat dafür gesorgt, dass die Nöte des Buchbinders Wanninger aus der Ironie des Karl Valentin in die unentrinnbare Realität der heutigen Regelwut der öffentlichen Hand projiziert werden.

Natürlich sind auch hier bereits selbsternannte Schützer der Artenvielfalt unterwegs, die gebetsmühlenartig den Unsinn verbreiten, dass kleine und mittlere Unternehmen mit der komplizierten Technik nicht zu Recht kämen oder gar erst einen Computer kaufen müssten. Die Aussagen der Handwerkskammern zu diesem Thema verbannen diese Auffassung in den Zuständigkeitsbereich der Märchen; denn diese quittiert alle entsprechenden Anfragen mit dem lapidaren Kommentar: ELENA ist für unsere Mitglieder eine wesentliche Vereinfachung und wahrlich kein Problem, weil gerade die Handwerksbetriebe schon lange auf effektive Verfahren zur Erfüllung behördlicher Auflagen setzten, um kostendeckend arbeiten zu können. So lassen sie ihre Lohnabrechnungen längst über zentrale Dienste abwickeln, die alle Nachweise bequem mit der Bundesanstalt für Arbeit in digitaler Form austauschen können.

Was bleibt?

Eine auf sozialen Ausgleich orientierte Politik muss verstehen, dass wir uns als Gesellschaft die feine Regelwelt der vielfältigen Maßnahmen nur leisten können, wenn ihre Exekution weitgehend automatisch und damit kostengünstig erledigt werden kann. Das braucht integrierte Informationssysteme und die sind nur auf der Basis einer automationsgerechten Gesetzgebung möglich. Die konsequente Umsetzung der Regeln sollte aber ganz im Max Weberschen Sinn (Wirtschaft und Gesellschaft, Kapitel III. § 5) nur in einer formal rationalsten Herrschaftsausübung praktiziert werden. Er sieht nur die Alternativen Bureaukratisierung und Dilettantisierung. Weil eine dilettantische Vorgehensweise für die gewaltigen sozialpolitischen Themen sicher keine Lösungen bringt, setzt er ganz auf die strikt geregelte Form der Verwaltung. Dazu musste er ein klares Bild des Beamtentums entwickeln, das ausschließlich auf der Basis von Fachwissen agiert. Was Max Weber noch nicht wissen konnte, ist, dass diese idealistische Vorstellung der Verwaltungsausübung am besten von einem Automaten vollzogen wird.

Rainer Thomé
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