Ordnungsruf
Zur Kritik an den Beschlüssen des EU-Rates
Warum die Linie der Bundeskanzlerin bei der Reform des EU-Stabilitätspakts ordnungspolitisch einwandfrei ist

Die herbe Kritik an den Beschlüssen des Europäischen Rates vom 28. Oktober geht vorbei an der erheblichen Bedeutung des Erreichten. Sie macht teilweise zugleich ein großes Bohei bezüglich der Punkte, bei denen die deutsche Seite nachgegeben hat – wie geplant nachgegeben hat. Teilweise hat sie das zunächst Begehrte in der Form, in der es womöglich erreichbar war, gar nicht wollen können (lieber Otmar Issing, was man in der Hand hatte, war keine Taube). Teilweise hat sie, wie es sich gehört, für die Gesichtswahrung der Verhandlungspartner gesorgt – und dafür auch vorgesorgt.

Nicht streitig ist die überragende Bedeutung strenger, rechtzeitiger und unbedingter (automatischer, nicht verhandelbarer) Sanktionen für Sünder in Sachen Staatsverschuldung. Nicht streitig sollte sein, dass die beste Form solcher Sanktionen „Sanktionen des Marktes“ sind, Sanktionen in Gestalt erhöhter Zinsen für nachgesuchte Staatskredite. Zu diesen Sanktionen kommt es immer dann, aber auch nur dann, wenn sich die Möglichkeit abzeichnet, dass ein Staat zahlungsunfähig wird – dass dessen Kreditgeber sein Geld zu einem mehr oder weniger großen Teil verliert. Dass diese Möglichkeit real besteht, darin liegt die überragende Bedeutung des No-bail-out-Gebots der Europäischen Verträge, des Gebots, einen überschuldeten Mitgliedstaat nicht durch Eintreten in dessen Schulden vor der Insolvenz zu bewahren; sie macht dieses Gebot zu einer absolut unverzichtbaren Norm.

Die No-bail-out-Regelung hat sich auch bewährt. Selbst im Falle Griechenlands. Es ist Unsinn, hier von Scheitern zu reden oder gar von Rechtsbruch. Die Finanzmärkte haben sich mit ihren Sanktionen zwar etwas Zeit genommen; eine Zeitlang war die Möglichkeit, dass ein Mitglied der Europäischen Währungsunion genötigt sein könnte, sich für zahlungsunfähig zu erklären, völlig aus dem Blick geraten. Aber dann war die Möglichkeit des No-bail-out durchaus präsent. Ausreichend lange blieb jede Solidarhilfe der EU-Partner rein rhetorisch. Die Zinsen für neue Kredite an Griechenland rauschten hoch und die Marktwerte der Ansprüche aus alten sanken. Als die Partner dann doch zu – hoch-konditionierter – Hilfe eilten (weil gemeinschaftliches Eigeninteresse ihnen dies gebot, wegen der krisenbedingt noch fortdauernden Labilität des internationalen Finanzsystems), war Griechenland inzwischen so weit, sich selbst das Äußerste an Sanierungsprogramm abzuverlangen. Die Strafe für das griechische Fehlverhalten ist sehr, sehr hart. Daran ändert nichts, dass sie wegen des internationalen Hilfsprogramms nicht noch härter ausgefallen ist. Ein wissenschaftlich begründbares Maß für die richtige Härte gibt es nicht. Eines Tages wird man das Problemdurcheinander im Frühling dieses Jahres entwirrt haben und erkennen: Es war dieses Jahr, in dem die Geldverfassung der Europäischen Union ihre Feuertaufe bestanden hat. Kein Finanzminister in der Europäischen Union wird noch einmal darauf setzen, dass ihm die Finanzmärkte viele Jahre hemmungslosen Finanzgebarens durchgehen lassen werden, bevor sie seine künftige Solvenz in Frage stellen und eine Umschuldung heute zu gewährender Kredite einzukalkulieren beginnen.

So gesehen, brauchen wir eigentlich keine Reform der Hauptspielregeln in der Europäischen Währungsunion. So gesehen. Wir brauchen eine Bekräftigung der Tatsache, dass das No-bail-out-Gebot weiterhin gilt, dass es durch die Praxis – den Notstandsfall – dieses Jahres nicht in Frage gestellt wurde. Und wir brauchen eine rechtstechnisch einigermaßen saubere Aufarbeitung der Möglichkeit, dass auch künftig in bestimmten Situationen der Lissabon-Vertrag im Artikel 122 (Europäische Solidarhilfe bei außergewöhnlichen – fremdbestimmten – Ereignissen) und im Artikel 125 (No-bail-out-Gebot) etwas Unterschiedliches, ja, Gegensätzliches gebietet respektive zulässt – eben wie im Mai 2010. Letzteres ist jetzt verabredet und muss im Einzelnen noch ausverhandelt werden. Aber das schon Verabredete ist durchaus von fundamentaler Bedeutung: Jedes Hilfsprogramm, das aus Gründen des Artikels 122 beschlossen wird, muss, soweit es (auch) der Sanierung eines überschuldeten Mitgliedstaats dienen soll, eine Belastung der privaten Gläubiger dieses Mitgliedsstaates einschließen. Für die Finanzmärkte wird damit jede zulässige Sanierung eines überschuldeten Staates zu einem Insolvenzverfahren – insoweit ganz im Sinne des Artikels 125, also des No-bail-out-Gebots. Der Sanktionsmechanismus der Finanzmärkte, dem die rechtzeitige finanzpolitische Disziplinierung der Staaten in einer Währungsunion anvertraut ist, kommt zum Tragen. Und wenn man klugerweise offen lässt, wie hoch die Beteiligung der Privaten an den Lasten aus einer Insolvenz sein wird, kommt er sogar voll zum Tragen. Dass auch partnerschaftliche staatliche Hilfe im Spiel ist, verhindert dies nicht. Große Konkurse, bei denen keine staatliche Hilfe im Spiel ist, gibt es selbst im privaten Sektor der Wirtschaft seit langem nicht mehr. Selbstverständlich darf man sich nichts vormachen: Die Abschirmung des Prinzips der Selbstverantwortung (Artikel 125) gegenüber der Versuchung, Staatsmacht im Namen der Solidarität auszuüben (Artikel 122), bleibt eine dauerhafte Aufgabe.

Es entspricht dem Rang der Aufgaben, wenn auf das andere Reformfeld, die Renovierung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, erst an zweiter Stelle eingegangen wird. Man könnte versucht sein zu sagen: Wenn der Sanktionsmechanismus der Finanzmärkte funktioniert, braucht man so etwas wie den Stabilitäts- und Wachstumspakt womöglich gar nicht. Doch das hieße die Bedeutung von Vorbeugung unterschätzen. Man kann eine zu hohe Staatsverschuldung sehr allmählich aufbauen. Dann hindern einen die Finanzmärkte lange Zeit kaum daran. Denn hier geht es zunächst einmal um Fristen, die über den Horizont selbst sensibler Finanzmärkte hinausreichen. Die Neigung des Staates, Geld auf Pump auszugeben, ist deshalb aus Prinzip einzudämmen. In der Europäischen Union ist dieses Ziel ein gemeinschaftliches Ziel, weil gravierende Stabilitätsprobleme des einzelnen Mitgliedstaates immer auch alle übrigen berühren (und dies dann dazu führt, dass unter Berufung auf Artikel 122 gemeinschaftliche Hilfe begehrt wird). Ordnungspolitisch sollte uns bei der Verfolgung dieses Ziels dreierlei leiten:

(1) Am besten ist die verlässliche Selbstverpflichtung von jedem gegenüber sich selbst wie die verfassungsrechtlich verankerte Schuldenbremse in Deutschland.

(2) Wenn das Beste nicht von allen akzeptiert wird, braucht man die Selbstverpflichtung von jedem gegenüber allen, im Prinzip wie im Stabilitäts- und Wachstumspakt, jedoch – und das ist Konsens – mit gehärteter Sanktionsbewehrung.

(3) Diese Verpflichtung und deren Bewehrung dürfen die Autonomie der nationalen Finanzpolitik in ihrem Kern nicht in Frage stellen Ein Land das seine Autonomie in der Geldpolitik an die Europäische Währungsunion abgegeben hat, braucht die Autonomie in der Finanzpolitik, um seiner Selbstverantwortung gerecht werden zu können. Und die Europäische Zentralbank sollte – um ihrer Unabhängigkeit willen – auf keinen Fall dem Kooperationsdruck der Verantwortlichen für eine gemeinschaftliche Finanzpolitik ausgesetzt sein. Dass eine Währungsunion nur funktionieren kann, wenn sie zugleich eine wirtschafts- und finanzpolitische Union bildet, ist Fuppes und wird auch durch ständige Wiederholung nichts Besseres.

Die Europäische Kommission an den Schalthebel des künftigen Sanktionsmechanismus zu stellen, war keine Königsidee. Dies wäre ein Riesenschritt in Richtung Vergemeinschaftung der Finanzpolitik gewesen. Dass Herr Sarkozy und die Bundeskanzlerin ihn abgelehnt haben, war in Ordnung – auch wenn der abgelehnte Reformvorschlag gegenüber dem angenommenen den größeren Gewinn an Verlässlichkeit bei der Sanktionierung von Fehlverhalten versprach. Ohnehin ist weiter darüber nachzudenken, inwieweit andere Sanktionsformen der finanziellen Form vorzuziehen sind, zumal wenn man an die Fälle denkt, in denen der zu sanktionierende Staat schon überschuldet ist oder nahe daran. Dann gibt es im Zweifel bereits die Sanktionierung von Seiten der Finanzmärkte in Gestalt erhöhter Zinsen. Diese finanzielle Sanktion wäre dann zu doppeln. Tatsächlich? Wer unvernünftige Strafen androht, riskiert, dass kein Richter sie verhängt (was immerhin noch besser wäre, als sie „automatisch“ verhängen zu lassen). Der Blamierte ist dann der Gesetzgeber. Wir kennen das vom Stabilitäts- und Wachstumspakt schon aus der Vergangenheit. Dass die von ihm angedrohten Strafen nie verhängt worden sind, hat ihm die Verachtung der Kritiker eingetragen. Übrigens nicht ohne Einschränkung zu Recht. Die meisten Kritiker haben sich darauf konzentriert, ihre Verachtung in Worte zu fassen, statt auch zu recherchieren und aufzuzeigen, welche – finanzpolitischen Übermut eindämmende – Wirkungen der Pakt ohne tatsächliche finanzielle Sanktionen entfaltet hat. Ohne unzumutbaren Fleiß wären sie dabei durchaus fündig geworden. Der Pakt ist ein bisschen besser als sein Ruf.

Eine Antwort auf „Ordnungsruf
Zur Kritik an den Beschlüssen des EU-Rates
Warum die Linie der Bundeskanzlerin bei der Reform des EU-Stabilitätspakts ordnungspolitisch einwandfrei ist

  1. Die positive Sicht des Artikels möchte man ja gern teilen. Insbesondere die Disziplinierungsfunktion der Märkte würde ich nach den gemachten Erfahrungen und mit Blick auf die Zinsen noch stärker anzweifeln, als dies im Artikel zum Ausdruck kommt. Wo soll etwa ein Risikoaufschlag, der die Regierungen zur fiskalischen Disziplin erzieht, bei amerikanischen oder japanischen Staatsanleihen versteckt sein? Auch bei Griechenland hat es ewig gedauert, bis die Risiken eingepreist wurden. In der Praxis ist es wohl eher so, dass die Vorwarnzeiten der Märkte derart kurz sind, dass sie faktisch bedeutungslos sind.

    Zum Griechenland-Bailout: Den Bailout hätte es wohl in jedem Fall gegeben – im Zweifel auch unkonditioniert. Er war ja nur deshalb nötig, weil sich die Krise nicht auf andere Länder ausbreiten sollte. Hätten sich die Griechen unnachgiebig gezeigt, wäre der Bailout aus Eigeninteresse der „Retter“ wohl trotzdem gekommen. Das eigentliche Problem ist der nachlässige Umgang mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt vor seiner Reform 2005.

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